Radio Happenings, 13–43

Radio Happening I

9. Juli 1966

mit John Cage und Morton Feldman

MF: John, würdest du nicht auch sagen, dass wir das, wovon wir abhängig sind, Realität nennen, und das, was wir nicht mögen, als eine Störung in unserem Leben betrachten? Daher bin ich der Meinung, dass wir heutzutage ständig gestört werden.

JC: Aber das würde uns sehr unglücklich machen.

MF: Oder wir kapitulieren und nennen es Kultur.

JC: Kultur?

MF: Oder wie auch immer.

JC: Gib mir ein Beispiel. Was für eine Störung gäbe es zum Beispiel in deinem Leben, die du als Kultur bezeichnen würdest?

MF: Also dieses Wochenende war ich am Strand.

JC: Ja.

MF: Und am Strand gibt es heutzutage Kofferradios ...

JC: Ja.

MF: ... die Rock’n’Roll plärren.

JC: Ja.

MF: Überall.

JC: Ja. Und das hat dir nicht gefallen?

MF: Nicht besonders. Ich habe mich darauf eingestellt.

JC: Wie denn?

MF: Indem ich gesagt habe, dass … na ja, ich habe mir die Sonne und das Meer als das kleinere Übel vorgestellt (beide lachen).

JC: Du weißt ja, wie ich mich auf dieses Problem mit den Radios um mich herum eingestellt habe, nämlich genauso, wie sich die primitiven Menschen auf die Tiere, die ihnen Angst machten, eingestellt haben, und die sie wahrscheinlich, wie du sagst, als Störung empfanden. Sie zeichneten Bilder von ihnen auf ihre Höhlenwände. Und darum habe ich einfach ein Stück mit Radios gemacht. Jedes Mal, wenn ich Radios höre – selbst, wenn es nur ein einziges ist, nicht gleich zwölf auf einmal, wie du sie wohl am Strand gehört hast – denke ich: „Na ja, sie spielen gerade mein Stück“ (beide lachen).

MF: Das könnte mir nächstes Wochenende helfen.

JC: Ja, und ich höre dem mit Vergnügen zu. Mit Vergnügen meine ich: Ich beobachte, was passiert. Ich kann mich damit befassen, anstatt, wie du sagst, zu kapitulieren. Vielmehr kann ich darauf achten und mich dafür interessieren … Also, eigentlich ist das interessant, was sich gegenseitig überlagert: Was geschieht zur gleichen Zeit wie das, was davor und danach geschieht?

MF: Ja, aber ich kann nicht nachdenken, bevor das Denken nicht bereits der Vergangenheit angehört. Neulich traf ich abends ein paar Freunde an einem Ort, der mich sehr nostalgisch gestimmt hat – ich war oft dort und habe viel geredet. Niemand konnte den anderen verstehen.

JC: Deswegen?

MF: Deswegen.

JC: Ja. Das erinnert an Saties Bemerkung, dass wir eine Musik brauchen, die die Umweltgeräusche nicht beeinträchtigt. Mit anderen Worten, wir brauchen Gedanken, die sich den Kofferradios nicht aufdrängen (lacht). Ich versuche nur zu sagen, dass diese Medaille zwei Seiten hat, und dass die … Angenommen, du hältst deine Gedanken für die Realität – oder zumindest das Gespräch, das du führen möchtest, für die Realität und die Umwelt für eine Störung. Dann nimmt jene Bemerkung von Satie einfach diese Medaille, dreht sie um und behauptet, die Umwelt sei die Realität. Was immer du darin tun willst, ist eine Störung. Und schließlich, das Werk eines Künstlers zum Beispiel, ist es nicht eine äußerst gravierende Störung? Weil es schlicht und einfach nicht existiert, bevor der Künstler es schafft.

MF: Ja, ich habe nie gehört, dass jemand ein Kofferradio wirklich „ausgebuht“ hätte.

JC: Na ja, ich meine, in gewisser Hinsicht hast du das gerade getan. Und ich habe das früher auch getan. Wenn ich in das Haus irgendwelcher Freunde kam, haben sie, sobald sie mich kommen sahen, aus Rücksicht auf meinen Geschmack ein Radio oder auch eine Schallplatte, die gerade lief, einfach abgestellt. Jetzt tun sie das nicht mehr. Sie wissen, dass ich glaube, ich hätte das alles komponiert (beide lachen).

MF: Tja, für mich ist das ein Problem. Ich habe das Gefühl, dass ich eher damit hadere. Vielleicht möchte ich sogar wirklich ... Zum Beispiel, wenn ich vor einem Flugzeug stehe und den brüllenden Lärm höre, ärgert mich das nicht, weil ich weiß, dass es mich irgendwo hinbringt.

JC: Ja. Oder dass es einen Freund bringt.

MF: Der Lärm ist nützlich. Und er dramatisiert den Flug geradezu, wie du weißt.

JC: Ja. Aber das ist dann wirklich keine Störung, sondern einfach ein Klang, den jemand wegen anderer Dinge, die er zu tun hat, sozusagen mitnehmen muss, mit in seine Wahrnehmung jedenfalls. Was würdest du dazu sagen, wenn es ein Konzert mit deinen Stücken in einer räumlichen Situation gäbe, in der etwas anderes zumindest teilweise zur gleichen Zeit zu hören wäre? Stellen wir uns vor – nur um das Gespräch folgerichtig weiterzuführen –, dass dieses Konzert in einem Raum stattfindet, dessen eine Tür offen ist. Und aus dem Raum, in den sie sich öffnet, ist Radio­musik zu hören. Sollte diese Tür jetzt eher geschlossen werden oder kann sie offen bleiben?

MF: Ich würde die Tür gern offen lassen, aber auf das Radio verzichten (Cage prustet vor Lachen). Siehst du, ich möchte die Tür offen lassen, aber natürlich ...

JC: Wir brauchen nur zu wissen, dass es in diesem Raum – bei offener Tür – etwas gibt, das wir nicht haben wollen, wenn wir unsere Entscheidungen treffen, sofern wir mit unseren Wünschen und unseren Entscheidungen leben. Und am besten findest du das heraus, indem du einfach eine Zeitung zur Hand nimmst; denn das, was geschieht, ist nicht das, was du gern in der Welt, in diesem Raum, geschehen lassen möchtest.

MF: Das Radio hat doch schon vor Jahren geplärrt. Ich glaube, dass es damals genauso viele Störungen gegeben hat wie heute. Aber ich habe sie nicht wahrgenommen. Heute nehme ich sie wahr. Also muss es etwas geben, das mit mir im Widerstreit zu liegen scheint. Oder, sagen wir so, meine alte Rolle ist psychologisch geschwächt worden.

JC: Und was war deine Rolle?

MF: Die traditionelle Rolle des Künstlers – tief in Gedanken versunken.

JC: Das wird sich gewiss ändern, denke ich. Da es vollkommen klar ist, dass du ein großartiger Künstler in dieser Rolle bist – tief in Gedanken versunken –, würde ich gern sehen, wie großartig du dich ausnimmst, wenn du dabei gestört wirst. Was hältst du von dieser Idee? Als wir uns einmal unterhielten – ich bin sicher, wir beide erinnern uns gut daran –, während wir durch die Straßen der Lower East Side und des Village und so weiter liefen, bis tief in die Nacht hinein, habe ich den Gedanken geäußert, dass du eine Welt entdeckt hättest, eine Welt der Musik – weil es wirklich deine Musik war, die alles aufgemacht hat, dein Stück, wie hieß es gleich, ich glaube, das erste war für Klavier ...

MF:Projection“.

JC: „Projection“, ja. Du hast es in der Monroe Street geschrieben, während David Tudor und ich im anderen Zimmer waren. Du bist weggegangen und hast dieses Stück graphisch notiert. Das gab uns die Freiheit, in diesen drei Bereichen – hoch, mittel und tief – zu spielen. Dann sind wir hereingekommen und haben das Stück gespielt, und in diesem Moment hat sich die Welt der Musik verändert. Nicht nur deine äußere, sondern auch deine innere musikalische Welt, in dieser Rolle, von der du sprichst, tief in Gedanken versunken zu sein. Dennoch, denke ich, habe ich dir damals, auf unserem Spaziergang durch die Nacht gesagt: Jetzt, wo du diese Welt aufgetan hast, lass uns alles sehen, was darin enthalten ist. Also, unter all den Dingen in dieser Welt gibt es auch die Situation, dass jemand – angenommen, er ist tief in Gedanken versunken – gestört wird.

MF: Ja, aber das ist das Bild geworden.

JC: Hm?

MF: Das ist das Bild geworden.

JC: Nein, es gibt jetzt viele Bilder, würde ich sagen. Ich glaube nicht, dass wir sie überhaupt noch zählen können.

MF: Ich meine, für mich selbst. Dieses Bild hat sich stark in den Vordergrund gedrängt: das Bild eines Menschen, der denkt und dabei ständig gestört wird.

JC: Ja.

MF: Was natürlich immer eine wunderbare Sache ist, weil man allmählich sieht, dass das, worüber man nachdenkt, zunächst einmal gar nicht so wichtig ist. Ich war immer der Meinungt, dass das Denken überhaupt etwas beinahe Vermessenes an sich hat.

JC: Jeder existierende Gedanke hat auch ein enormes Potential. Er gelangt in unseren Kopf (lacht) und will nicht mehr heraus, über Jahre und Jahre und Jahre hinweg.

MF: Gleichzeitig kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass irgendein Dussel vor meiner Nase ein Kofferradio anstellt, und ich dazu sage: „Ah! Die Umwelt!“

JC: Aber ein Radio, Morty, macht für deine Ohren auch nur das hörbar, was schon längst in der Luft lag und deinen Ohren zugänglich war, was du aber nicht wahrnehmen konntest. Mit anderen Worten, es macht nur etwas hörbar, was schon längst da ist. Du schwimmst in Radiowellen – Fernsehen, Rundfunk, vielleicht telepathischen Botschaften von anderen Köpfen, die tief in Gedanken versunken sind (beide prusten vor Lachen).

MF: Die zur gleichen Zeit Radio hören.

JC: Und dieses Radio macht einfach nur das hörbar, was du für unhörbar gehalten hast.

MF: Weißt du, die meisten Maler, die ich kenne, hören Musik, während sie arbeiten. Du weißt, Franz Kline liebte Wagner, er hörte immerzu Wagner ...

JC: Ja, und wenn David Tudor übt – was er jetzt so selten tut –, aber immer, wenn er übt, stellt er sofort nicht nur eines, sondern gleich mehrere Radios und oft auch noch einen Fernseher an. Man könnte das mit der Disziplin des tantrischen Buddhismus vergleichen. Kennst du diese Disziplinen?

MF: Nein.

JC: Meditieren, während man auf einer Leiche hockt – oder beim Geschlechtsverkehr. Mit anderen Worten, die Situation, in der man tief in Gedanken versunken ist, so zu gestalten, dass es wirklich schwierig ist, in Gedanken zu sein. Also was passiert da? Da gibt es offensichtlich eine Störung, wogegen die meditierende Person – zumindest stellen wir uns das vor – sich wappnet. Nun, tut sie es oder nicht? Wir können es nicht wissen, denn was wäre Erleuchtung in diesem Fall? Würde das bedeuten, der Umwelt gegenüber blind zu sein, oder würde es bedeuten, sie ganz bewusst wahrzunehmen und gleichzeitig tief in Gedanken zu sein?

MF: Ja. Ich weiß jedenfalls, was passiert. Ich weiß, was mir vor fünfzehn Jahren mit der Klangperspektive im Stück widerfahren ist, obwohl ich wirklich versucht habe, das, was einen Schatten auf mein Werk werfen könnte, anzunehmen. Viele meiner Stücke schrieb ich fast ... Tatsächlich erinnere ich mich, dass ich einmal sogar ein Stück geschrieben habe, das nur in dem Versuch bestand, das rhythmische Pochen der Reifen auf einer regennassen Straße einzufangen. Aber das war alles noch weit weg, es befand sich sozusagen an den äußeren Rändern des Stücks. Und jetzt ist es so, dass der Fokus sich verschoben hat. Ich befinde mich genau über den Dingen, die ich früher unästhetisch fand. Jetzt finde ich es immer noch unästhetisch, aber ich stehe darüber. Also ist ein Weg zurückgelegt worden. Sicher möchte ich nicht den Sprung – wo immer dieser Sprung sein mag – in eine Situation tun, an die mich eine Autofahrt mit Larry Rivers erinnert. Wir fuhren an einer Müllhalde vorbei, und er sagte: „Weißt du, eine kleine Grapefruit zur Linken würde ihr einfach eine schöne Farbe geben.“

JC: Ja, auf den Fahrten durchs Land, bei unseren Tourneen mit Bob Rauschenberg,1 habe ich Ähnliches erlebt, als ihm ein Sonnenuntergang oder sonstwas unter die Augen kam, und er ihn dann kritisiert hat, weißt du … (beide lachen) … und er dann vorgeschlagen hat, dass die Farben anders sein oder die Bäume woanders stehen sollten. Natürlich zum Spaß. Wie war es mit Larry? War es Spaß oder war es ...?

MF: Nun ja, mit Larry, ich denke, Larry war beunruhigt.

JC: Darüber, dass diese Farbe fehlte, meinst du?

MF: Nein, nicht dass die Farbe fehlte. Er hat gar nicht über Schrott­skultpuren oder eine Müllcollage hergezogen, sondern er hatte Angst davor, selbst den Sprung zu tun und dann diese neue Sache und irgendein ästhetisches Urteil – eins, das er zum Beispiel über Cézanne machen würde – gegeneinanderzuhalten, in Beziehung zu einem Haufen Müll, verstehst du …

JC: Ja. Du erinnerst dich an dieses Konzert in der Town Hall – in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren –, als die Maler noch in Konzerte gingen, und wir von der Renaissance der neuen Musik und so weiter sprachen, als man wieder anfing, Varèse zu spielen … Nach diesem Konzert kam ich ins „Blue Ribbon“, an den Tisch, wo Bill de Kooning saß. Ich glaube nicht, dass ich die ganze Unterhaltung mitgekriegt habe, aber es war eindeutig, dass sie über die Art und Weise redeten, in der die Krümel auf die Tischdecke gefallen waren. Und Bill erörterte, ob das Kunst war oder nicht, und kam natürlich zu dem Schluss, dass es keine war. Allerdings war das ein Unterschied, der schon seit einiger Zeit zwischen mir und Bill aufgetreten war. Ich erinnere mich, dass er einmal zu mir sagte: „Der Unterschied zwischen uns ist, dass ich ein großer Künstler sein will und du nicht.“

MF: Hatte er unrecht?

JC: Nein, er hatte völlig recht.

MF: Du meinst, wer ein großer Künstler sein will, sollte das Radio abstellen? Oder meinst du, dass es dazugehört?

JC: Nein, ich weiß nicht mehr ... Ich weiß wirklich nicht, was es heißt, ein Künstler zu sein. Ich denke, dass der ... Ich habe Schwierigkeiten mit der Vorstellung von Rollen. Mit anderen Worten, ich will keine Rolle spielen. Ich möchte sozusagen das sein, was ich bin. Wenn ich eine Rolle spiele, dann möchte ich sie immer spielen. Wenn ich keine Rolle spiele, dann will ich keine Rolle spielen. Aber was „Komponist sein“ einmal bedeutet hat, scheint mir nicht mehr das zu sein was „Komponist sein“ heute bedeutet – und ich kann nicht einmal sagen, was „Komponist sein“ heute bedeutet. Es sei denn ...

MF: Ich weiß nicht einmal, was „Komponist sein“ einmal bedeutet hat.

JC: Nun, du hast eben gesagt – und darin gebe ich dir recht, und ich weiß, dass ich das getan habe –, dass es bedeutete, tief in Gedanken versunken zu sein (beide prusten vor Lachen).

MF: Ja, das ist alles, was mir bleibt! Ich habe das Gefühl, dass dieses Denken mir weggenommen wurde. Das ist es.

JC: Nein, aber sicher könnte es auch eine andere Möglichkeit geben, Komponist zu sein, zumindest diejenige, die wir bereits erwähnt haben – jemand, der tief in Gedanken versunken ist und dabei ständig unterbrochen wird.

MF: Wie Bach!

JC: Oder es könnte, wie ich schon in einigen meiner Stücke angedeutet habe, jemanden geben, der überhaupt keine Gedanken hat, und daher kann nicht gesagt werden, ob diese flach oder tiefgründig sind. Er setzt einfach etwas in Gang, das entweder Klänge enthält oder nicht, das nicht nur anderen, sondern auch ihm selbst ermöglicht, wahrzunehmen. In meinem Fall glaube ich, dass es aus dem Denken heraus in die Wahrnehmung eingeht. Das zeigte sich unter anderem, als die Franzosen, angeführt von Boulez, an meiner Arbeit und meinen Ideen Anstoß genommen haben: Sie konnten die Vorstellung nicht ertragen, dass Musik aus Klang gemacht ist.

MF: Ja, das fand ich schon immer seltsam. Genauso wie die Ärzteschaft Anstoß an der Tatsache genommen hat, dass Semmelweis2 gesagt hat, sie sollten sich die Hände waschen, bevor sie operieren (beide lachen).

JC: Nein, ich denke, es ist klar geworden, dass wir nicht nur mit unserem Denken, sondern mit unserem ganzen Dasein für Klang empfänglich sein können, und dass dieser Klang nicht die Vermittlung irgendwelcher tiefsinniger Gedanken darstellen muss. Sie können einfach Klang sein. Dieser Klang könnte also zum einen Ohr herein- und zum anderen wieder herausgehen – oder zum einen Ohr hereingehen, den Menschen durchdringen, den Menschen verwandeln, und dann vielleicht herausgehen, um den nächsten einzulassen (beide lachen). Und ob sich dann eine Idee entwickelt hat oder nicht … Du weißt, das Schwierigste auf der Welt ist eben, einen Kopf ohne irgendwelche Ideen darin zu haben.

MF: Aber das ist und war schon immer die beste Arbeit.

JC: Ja. Vielleicht ist es das, was du mit „tief in Gedanken versunken“ meinst.

MF: Oh nein, nein. Oft meine ich, wenn ich tief in Gedanken bin, dann ist es nur, um die Ideen loszuwerden.

JC: Genau! Genau … Zu dem Punkt zu gelangen, an dem ...

MF: Dahin zu gelangen, ich weiß nicht, wie man es nennen würde …

JC: Du könntest es einen Ozean nennen.

MF: Dahin zu gelangen ... Für mich wird das fast zu einer körper­lichen Belastungsprobe, einfach nur mit einem leeren Kopf weiterzumachen. Das meine ich mit „tief in Gedanken versunken sein“.

JC: Ja, wenn es wie ein Ozean mit Fischen ist, und die Fische Gedanken sind, dann bist du an dem Punkt angelangt, an dem du vor lauter Ozean die Fische nicht mehr siehst.

MF: Ja, das hört sich an wie mein neues Stück (Cage lacht). Aber vielleicht möchte ich nicht, dass die kleinen Wellen es zudecken (lacht). Aber spielt das eine Rolle?

JC: Du meinst die kleinen Wellen? Oder was meinst du?

MF: Wir erwarten sie.

JC: Tatsächlich könnten wir ohne sie nicht leben.

MF: Zurück zur Unbeständigkeit.

JC: Oder das Meer könnte ohne sie nicht leben. Das Meer wäre kein Meer ohne sie. Ich lese gerade einen Artikel, den mir Richard Farson, ein Verhaltenspsychologe aus La Jolla in Kalifornien, geschickt hat. Und zu Anfang sagt er, dass wir uns an selbst vorgenommene Veränderungen stets gewöhnt haben, und dass es immer eine Phase gab, in der wir uns auf diese Veränderungen gleichsam einstellen konnten. Aber es wird zunehmend klar, dass wir in einer Situation leben werden, die in gewisser Weise selbst Veränderung ist. Um seine Gedanken zu untermauern, macht er in diesem Artikel auch eine sehr interessante Bemerkung: Etwa neunzig Prozent der Wissenschaftler, die jemals auf diesem Erdball gelebt haben, leben heute. Ist das nicht interessant?

MF: Du meinst, es gibt einen solchen Zustrom an Wissenschaftlern?

JC: In diesen Zeiten leben wir. Es sind Zeiten, in denen Veränderungen, die durch solche Aktivitäten in der Forschung und Technologie zustande gekommen sind, zum Beispiel diese Kofferradios hervorbringen, und so weiter.

MF: Oh, dann könnte man fast sagen, dass neunzig Prozent der Künstler nicht mehr am Leben sind (lacht).

JC: Von denen, die tief in Gedanken versunken sind, wahrscheinlich. Ja.

MF: Ja.

JC: Ich hatte genau dieses Gefühl, als ich von der Kenyon Review gebeten wurde, die Schönberg-Briefe3 zu rezensieren – ich weiß nicht, ob du sie gelesen hast.

MF: Ja, ich habe sie gelesen, John.

JC: Aber beim Lesen dieses Buchs – ich habe Schönberg verehrt, und die Lektüre des Buchs hat dieses Gefühl von Ehrfurcht und so wieder in mir wachgerufen –, scheint er in seinen Schriften und seinem Denken und allem so ... Ich habe überlegt, ob ich heute irgendjemanden wie ihn kenne. Und mir fiel niemand ein. Der erste, der mir einfiele, wäre vielleicht Stefan Wolpe. Etwas davon, aber doch ganz anders, gibt es bei Karlheinz Stockhausen. Andererseits war es nicht in der Musik, sondern in der Malerei, wo kürzlich die Frage aufkam, ob die Aktivitäten des Black Mountain College wiederaufgenommen werden könnten, und jedem, der Black Mountain kannte, war klar, dass es an die Persönlichkeit von Josef Albers gebunden war, aber der ist für so einen Posten nicht mehr zu haben. Wer könnte also seinen Platz einnehmen? So einen wie ihn gibt es einfach nicht noch einmal. Wie du gesagt hast, sie leben nicht mehr (lacht). Was ist geschehen?

Eine andere Frage, die wir stellen könnten, ist: Wann ist es geschehen? Wir kennen die Antworten auf diese Fragen einfach nicht. Wir könnten sagen, gut, vielleicht geschah es gegen Ende der fünfziger Jahre, vielleicht auch in den Sechzigern (lacht). Außerdem gab es schon damals einen wesentlichen Unterschied zwischen Schönberg und Josef Albers. Aufgrund dieser Briefe und meiner Erfahrung mit Schönberg würde ich sagen, dass er … Unter seiner Leitung wäre Black Mountain nicht Black Mountain gewesen, weil Albers in das Leben des Black Mountain College schon ein enormes Ausmaß an Freizügigkeit gebracht hat. Aber er hatte gelegentlich die Fähigkeit, das Ganze zu einem irgendwie deutschen Bild zusammenzuführen, wo jeder seine Hacken zusammenschlug, strammstand und ihn ernstnahm. Und sobald er seine Hacken wieder auseinandergenommen hatte, gingen alle wieder dazu über, ihre Kurse nicht zu besuchen und das zu tun, was ihnen gerade in den Sinn kam, egal, ob sie dabei ihren Abschluss machten oder nicht.

Schönberg hätte solche Verhältnisse niemals zugelassen. Doch in Black Mountain waren die Verhältnisse himmlisch. So sehr, dass man es gern wieder aufleben lassen würde. Aber es ist fraglich, ob Schönbergs eigene Vorstellung von einer Schule wiederbelebt werden sollte. Weißt du, gegen Ende bat man ihn, eine Schule in Israel aufzubauen, und in seinen Briefen sprach er darüber, als ob die Absolventen dieser Schule Priester wären. Das wäre ein quasi-religiöser Zustand gewesen, in dem keiner gelächelt hätte, niemals.

MF: Wie kann man lächeln, wenn man tief in Gedanken versunken ist? (Cage lacht.) Aber warum braucht man Black Mountain, wenn diese ganze Freizügigkeit wie ein riesiges „schwarzes Gebirge“ erscheint?

JC: Na ja, wenn sie Black Mountain wiederbeleben wollen, müssen sie wohl die Disziplinseite gemeint haben – das Zusammenschlagen der Hacken (Cage lacht).

MF: Du meinst, diese ganze Freizügigkeit bringt überhaupt nichts.

JC: Das nicht, aber die Leute haben nicht herausbekommen, wie sie diese Freizügigkeit als Verantwortung annehmen können. Oder sie hätten gern, dass so etwas passiert, vermute ich. Vielleicht habe ich unrecht.

MF: Leider geht mit Freizügigkeit sehr schnell eine gewisse Langeweile einher.

JC: Langeweile ist eigentlich nicht so schlecht und nicht wirklich langweilig. Das habe ich längst vom Zen-Buddhismus gelernt. Du kennst diese Geschichte. Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig ist, versuche es vier Minuten lang, danach acht Minuten, und so weiter. Irgendwann wirst du feststellen, dass es nicht langweilig ist. Die Leute beklagen sich ständig. Fast jeden Tag erzählt mir jemand, dass alles langweilig sei. Nicht alles ist langweilig. Unsere Musik ist nicht langweilig. Es ist nur so, dass die Leute sich nicht auf die Dinge einlassen wollen, die sie für langweilig halten. Wenn sie sich einmal darauf eingelassen haben, ist Langeweile das letzte, was ihnen in den Sinn käme. Und selbst wenn es langweilig ist, würde ich sagen, ist es etwas, das man wertschätzen und wahrnehmen sollte. Hast du nicht bemerkt: Sobald deine Arbeit wirklich langweilig wird wenn du zum Beispiel etwas, das du komponiert hast, ins Reine schreibst –, dann ist genau das der Moment, in dem Ideen anfangen, in deinen Kopf zu fliegen. Wenn du richtig gelangweilt bist, bringt dich das immer näher an die wirkliche Erfahrung heran, sagen wir, die Erfahrung des Ozeans, über den wir gesprochen haben, in dem andere Fische, denen du noch niemals begegnet bist, urplötzlich auftauchen.

MF: Und alle anderen Fische auffressen (Cage lacht).

JC: Ja. Aber wer kann heutzutage wirklich von Langeweile reden, wenn er seine Augen oder Ohren wenigstens ein klein wenig offenhält? Nur wer nicht darauf achtgibt, was wirklich passiert, kann von Langeweile reden. Ich habe neulich entdeckt, dass irgendeine alte Zeitung, die herumlag, Seite für Seite Ideen enthielt, die für mein eigenes Denken sachdienlich, relevant waren. Und so haben sie – völlig abseits der Langeweilezone – eher bestärkend gewirkt, so wie sie es jetzt oben im Weltraum mit diesen „Gemini“ machen, wie nennen sie es – „Agena“ und so weiter –, und mehr Energie aufwenden, um in größere Höhen zu gelangen. Und diese Energie speist sich nun aus unserer ganzen Umgebung, denke ich.

MF: Würdest du Musik unterrichten, ich meine, wenn jemand mit dieser Bitte zu dir käme?

JC: Nun, sofern ich ... schau, wenn ich heute Probleme habe, sind es vor allen Dingen Probleme, wie ich weiterarbeiten kann, während ich herumreise. Wir haben darüber gesprochen. Nehmen wir also an, ich hätte das Problem gelöst und könnte meine Arbeit mitnehmen und zwischendurch tun. Wenn ich einen Studenten hätte, wäre ich früher der Meinung gewesen, dass es die erste Verpflichtung des Lehrers sei, anwesend zu sein, wenn der Student anwesend ist. Wenn ich nun aber herumreise, möchte ich gewiss nicht, dass all diese Studenten mit mir kommen (lacht). Also sehe ich mich nicht wirklich in der Lage, zu unterrichten, wenn ich nicht bei ihnen sein kann. Das könnte nun bedeuten, dass unsere Vorstellung davon, was es heißt, mit Leuten zusammenzusein, sich ändern muss. Es ist möglich, dass wir mit Leuten zusammensein können, aber gleichzeitig von ihnen entfernt sind. Nein, ich denke, wir könnten ...

MF: Ja, das war immer sehr interessant. Vor Jahren hätte niemand es als Beeinträchtigung empfunden, Studenten zu haben. Ich erinnere mich, dass Schönberg unablässig gelehrt hat.

JC: Ja. Fast hat er es dem Komponieren vorgezogen, so schien es zumindest. Er war außergewöhnlich großzügig mit seiner Zeit, mit seinen Ideen und mit dieser Fähigkeit, die großartig fürs Unterrichten war, wenn auch mit Schrecken verbunden. Fuller – Buckminster Fuller – sagt das, und ebenso McLuhan, glaube ich, und jetzt auch Farson, den ich gerade erwähnt habe, dass die Hauptaufgabe der Gesellschaft, auf die wir zusteuern, in der Erziehung liegen wird. Sie scheinen sich alle darin einig zu sein, dass das unwichtigste Element in diesem Ausbildungswesen der Lehrer sein wird. Wenn der Lehrer etwas zu sagen hat, wird er es durch eine Art Wiedergabegerät mit Bildern und so weiter tun – Fernsehen. Wenn einer es irgendwann hören will, braucht er nur einen Knopf zu drücken und es anzuhören. Er wird nicht in der Situation sein, wie Lehrer es früher waren, sich Jahr für Jahr wiederholen zu müssen (Feldman lacht). Er wird es nur einmal tun und dann zusammen mit den anderen Studenten selbst zum Studenten werden; und er wird versuchen, zu entdecken, was er mit seinem Verstand, seinen Interessen, und so weiter, anstellen kann, anstatt sich dauernd zu wiederholen. Und du wärst erstaunt, wenn du im Land umherschauen und sehen würdest, wie sehr das Fernsehen bereits in das Ausbildungswesen Einzug gehalten hat. Wenn unsere zukünftige Tätigkeit in der Ausbildung liegen soll, dann ist es sicher richtig, dass sie viel interessanter werden muss, als sie es bisher war. Sie müsste … also, ich weiß nicht, wie sie sein müsste. Sie müsste den Studenten ein gutes Stück mehr Selbstvertrauen in ihre eigene Arbeit geben.

MF: Ich glaube nicht, dass die Musikabteilungen das jemals einführen werden.

JC: Nun, ich glaube, sie werden sich verändern.

MF: Weißt du, es gibt eine schreckliche Geschichte, wo in einer berühmten Schule, einem berühmten Seminar – einem Oberseminar – ein junger Komponist mit einem Stück ankam, und sein Lehrer, ein weltberühmter Komponist, ihm sagte, dass er es ändern müsse. Und der Student – er war nicht wirklich ein Student, sondern ein junger Komponist – sagte: „Aber ich höre es so.“ Und sein Lehrer sagte: „Sie sind hier, um Ihr Hören zu verändern.“

JC: Wer war das? Hast du gesagt, wer das war?

MF: Nein, habe ich nicht.

JC: Hast du nicht. Es ist sehr merkwürdig. Es könnte ... Weißt du, wenn ich die Umstände kennen würde, wüsste ich, ob ich mich auf die eine oder die andere Seite schlagen würde. Ich könnte sagen, ob ich dem Lehrer rechtgeben würde. Gewiss möchte man keine bestimmte Hörweise festlegen, weder so noch so. Ich hätte meine Ohren gern so, dass ich hören kann, was es zu hören gibt (Cage lacht).

1 Robert Rauschenberg hat von 1961 bis 1964 als Beleuchter, tech-nischer Direktor und Bühnenbildner für die Merce Cunningham Dance Company gearbeitet.

2 Ignaz Philipp Semmelweis, ungarischer Gynäkologe, lebte von 1818 bis 1865. Sein Buch „Die Aetiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers“ erschien 1861 im Verlag Hartleben, Pest, Wien, Leipzig.

3 John Cage, „Mosaic. Arnold Schoenberg: Letters“, in: Kenyon Review, 27. Jahrgang, Heft 3, 1965, 535–540, revidiert in: John Cage, A Year from Monday, Middletown, Connecticut: Wesleyan University Press, 43–49.