MusikTexte 4 – April 1984, 63–64

Neue Musik im anderen Deutschland

DDR-Musiktage 1984 in Ostberlin

von Reinhard Oehlschlägel

DDR-Musiktage 1984 – fünf Tage mit einundzwanzig Musikveranstaltungen – gefüllt mit sogenannter DDR-Musik. Doch was ist das eigentlich? Niemand spricht von BRD- oder gar von DDR-Musik, niemand von USA- oder von UdSSR-Musik. Die Benutzung der Abkürzung DDR-Musik für die in der DDR komponierte Musik, wie sie der Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR, der Veranstalter der DDR-Musiktage in Ostberlin, selbst fleißig benutzt, ist eine mehr handliche Vereinfachung, vielleicht auch Ausdruck von einer gewünschten Staatsnähe.

Sowenig das vielleicht auf den ersten Blick zu erkennen ist, es gibt auch in der DDR, auch im Musikleben der DDR und also auch in dem der neuen Musik gewidmeten Anteil davon, in verschiedenen Größenordnungen recht pragmatische Aspekte.

Da wird im Eröffnungskonzert das einzige Auftragswerk der DDR-Musiktage uraufgeführt, und zwar mit der Berliner Staatskapelle das Oboenkonzert von Christfried Schmidt, einem 1932 in der Oberlausitz geborenen, zunächst als Kirchenmusiker, dann freiberuflich als Klavierlehrer in Quedlinburg tätigen Komponisten, der seit einigen Jahren in Ostberlin als freier Komponist lebt. Schmidt nutzt nun ganz pragmatisch die Gelegenheiten: erst einmal die, für den Leipziger Burkhard Glaetzner, einen erstrangigen, wenn auch etwas manierierten Oboenvirtuosen schreiben zu können, dann die Gelegenheit, die ganze Berliner Staatskapelle in größtmöglicher Besetzung einsetzen und schließlich damit einen ausladenden zweisätzigen Formentwurf von beträchtlicher Dauer gestalten zu können. Und er nutzte damit die willkommene Gelegenheit der Direktübertragung in Radio und Fernsehen der DDR, der geballten Wirkung in Konzertsaal und Übertragungsmedien – erfrischend vor allem gegenüber einer voraufgegangenen schwächeren Parteitagskantate von Paul Dessau, mit der die DDR-Musiktage eröffnet worden sind, doch nahezu ohne jede Chance einer zweiten Aufführung, die vor allem für den farblich und mikrotonal ausgetüftelten Solistenpart und die ganz unfeierlich geglückte Schlussbildung wünschenswert erschiene.

Das pragmatische Gegenstück dazu schrieb Joachim Gruner, 1933 in Berlin geborener Schlagzeuger an der Komischen Oper, mit seiner vitalen und quasi improvisierten Komposition „Impulse“ für Klavier und ein so sparsames Schlagzeug, dass es – wie Gruner in dem traditionellen Gesprächskonzert in der Komischen Oper erläuterte – samt dem etwas korpulenten Pianisten, für den es geschrieben worden war, in einem Trabant 601 Kombi verstaut werden kann.

Auch die Arbeiten von Reiner Bredemeyer, dem Kompositionspraktiker des Deutschen Theaters, kennen situative Momente ebenso wie konkretistische. Wegen seiner Komposition „269“ für Chor und Schlagzeug, die Bredemeyer im September 1983 auf die beiden Meldungen im Parteiorgan Neues Deutschland über den Abschuss eines südkoreanischen Passagierflugzeugs mit 269 Insassen durch ein russisches Jagdflugzeug komponiert hat, ist ein Untersuchungsverfahren gegen den Komponisten eingeleitet worden. Sein neues, vergleichsweise zartes und durchsichtig geschriebenes Streichquartett· ist Erik Satie gewidmet, dessen unprätentiöses Musikdenken Bredemeyer, wie er in einem Text zu seinem Stück erläutert, „in Spuren“ in sein Stück aufgenommen hat.

Der hochbegabte Nico Richter de Vroe, 1955 in Halle geboren und als Komponist in Dresden, Leipzig und in Berlin bei Friedrich Goldmann ausgebildet, im Hauptberuf Violinist der Berliner Staatskapelle, benutzte wohl zum ersten Mal in der DDR strenge Zufallsverfahren in seinem in russischer Schrift überschriebenen Streichquartett „Tetrad“ (zu deutsch: Heft) und bezeichnet damit einen neuen Stand der Cage-Rezeption in der DDR.

Und Paul-Heinz Dittrich, der 1930 im Erzgebirge geborene und hier vielfach aufgeführte DDR-Komponist, knüpfte an die Kafka-Diskussion und -edition der DDR an, wenn er in einem für Dittrich neuen Tonfall sparsamer und klanglich zwingender Subtilität Kafkas „Verwandlung“ in einer Texteinrichtung von Frank Schneider für sechs Stimmen und drei Solo-Instrumente komponiert. Nach der Uraufführung im Begegnungsfestival in Metz hatte es die Deutsche Staatsoper nun als Kammerproduktion im Saal der Akademie der Künste herausgebracht und als ihren Beitrag zu den DDR-Musiktagen nach vorn gerückt, das DDR-Fernsehen zu einer Aufzeichnung gewonnen und in Gesprächsbeiträgen mit dem Komponisten im Verbandsblatt Musik und Gesellschaft und im Wochenblatt des DDR-Kulturbunds Sonntag bekannt gemacht. Doch noch bevor der österreichische Gastregisseur Christian Pöppelreiter Überladenheiten und Ungeschicklichkeiten der Metzer Erstinszenierung durch gründliche Reduzierung der weitgehend pantomimischen Inszenierungsmittel ausbügeln konnte – er trennt Spieler und Sänger und lässt die Verwandlung Gregor Samsas in einen Käfer von dem Pantomimen Michael Pan im Carré der übrigen Familie spielen – hatte die Kulturverantwortliche im Zentralkomitee der Partei die Rezessionsregelung, das Ereignis höchstens nebenbei zu erwähnen, für die Presse ausgegeben und das Fernsehen wieder ausgeladen, obwohl die Produktion einen Anna-Seghers-Text vor das Stück gestellt hatte, so als ob Kafka in der DDR nach dem Prager Frühling noch immer oder schon wieder tabu wäre. Durch derartige Sprachregelungen wird allerdings das öffentliche Interesse erst einmal richtig geweckt und der etwas überhitzte Publikumserfolg der Premiere mitproduziert, zugleich aber die geplante Folge der Aufführungen gefährdet und damit auch der durchaus verdiente künstlerische Erfolg.

Und auch das jüngste Hin und Her unter den Antagonisten im Verband, Siegfried Köhler, dem nachgerückten Verbandspräsidenten und frisch ernannten Intendanten der Dresdner Staatsoper einerseits, der wieder einmal den Versuch wieder aufleben ließ, die neueren Material- und Verfahrensweisen von Komposition einzuengen, und den Musikwissenschaftlern und Komponisten einer neueren DDR-Musik andererseits, voran Alfred Brockhaus, ebbte noch durch die Diskussionen der DDR-Musiktage und der sie begleitenden Musikpädagogen- und der Vorbereitungskonferenzen zum Internationalen Music Congress der UNESCO, der im Herbst 1985 in Ostberlin stattfinden soll.

Zu den DDR-Musiktagen gehören schließlich auch einige ältere Stücke, wie die konzertant in der Komischen Oper wiederaufgeführte von Wagner- und Strauss-Klängen gesättigte „Prometheus“-Oper aus dem Jahr 1958 von Rudolf Wagner-Régeny, ältere Stücke von Ernst-Hermann Meyer und Günter Kochan, neben vielen neueren Stücken, die, wie das Musiktheaterstück von Dittrich, an anderer Stelle uraufgeführt worden sind. Von den vorjährigen Dresdner Musikfestspielen wurde das mehr als einstündige Oratorium „Stimmen der Völker in Liedern“ des Dresdner Komponisten Rainer Kunad nachgespielt, eine groß angelegte, mit Solistenquartett, zweihundertköpfigem Chor und großem Orchester besetzte, allerdings auch reichlich eklektische Partitur aus orffigen, klagenden und ernsten Gesängen.

Bei den Jubiläumskonzerten der Berliner Philharmoniker uraufgeführt, fand das nun zum ersten Mal in der DDR einstudierte, quasi-oratorische Werk „Pax questuosa“ von dem ebenfalls in Dresden lebenden Udo Zimmermann seine DDR-Erstaufführung und tags darauf Eingang ins Leipziger Gewandhaus. In dem Stück baut Zimmermann seine außerordentlich flächige, auf große dramaturgische Steigerungen hin angelegte Schreibweise weiter aus, diesmal unter Benutzung eines Zitats aus der h-Moll-Messe von Bach zur Schlussbildung. Schwächer schienen bei dieser Komposition die vergleichsweise wirkungsärmeren hektischen Passagen auf Texte von Marie-Luise Kaschnitz und Heinrich Böll. Die ganze Aufführung stand durch die Verwendung eines Texts des polnischen Lyrikers Czesław Miłosz, „Am Tage des Weltendes“, in Frage, weil die Texte dem Publikum zunächst vorenthalten werden sollten, der Komponist aber andererseits nicht Texte singen lassen wollte, deren Druck sozusagen verboten wird. Man zog wohl das kleinere Übel vor und gab schließlich doch den Text zum Abdruck frei, um den Eklat zu vermeiden, den das Ausfallen der repräsentativen Aufführung mit dem Leipziger Rundfunkchor und Rundfunksinfonieorchester ausgelöst hätte.

Nachgespielt wurden auch die „Übungen im Verwandeln“ für Streichorchester von dem Leipziger Komponisten Siegfried Thiele, wie der Titel andeutet: Übungen für den Komponisten und seine Interpreten in der Kunst des Übergangs von impressionistisch-verschwommenen zu konturierten Klangbildern. Und nachgespielt wurden schließlich auch eine Reihe kleiner besetzter Arbeiten, wie die leichtgewichtige „Kleine Blasphonie“ von Bredemeyer, die „In memoriam Paul Dessau“-Stücke von Schenker, Bredemeyer und Goldmann, das Violinkonzert von Georg Katzer und die szenische Aktion „Allgemeine Erwartung“ von Ralf Hoyer für zwei Klaviere und einen Schauspieler zu einem Text von Volker Braun. Hoyer benutzt zwei Klaviere und den Wechsel von Spielern und Sprecher als Darstellung von Apparat und Maschine, von Produktion, deren bloßes In-Gang-Halten doch nicht alles (gewesen) sein kann.

Auch der Ritus der DDR-Musiktage – im jährlichen Wechsel mit der sehr viel aufwendigeren Musik-Biennale –hat einen Aspekt von Planung, von Apparat, von Produktion. In diesen Plan gehören Darstellungen aus den verschiedenen regionalen DDR-Bezirken, ein Jugend-Konzert, ein Chanson-Abend, ein Big-Band- und ein „Berolina“-Konzert. Und dazu gehören natürlich auch geladene Gäste und Beobachter aus den Ostblockländern, aus Italien, der Schweiz, aus Finnland, Schweden und aus Dänemark – ein ganzes musikgeschichtliches Seminar der Kopenhagener Universität, sowie Vertreter des dänischen Rundfunks und der dänischen Sektion der IGNM, der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, die gemeinsam eine DDR-Musik-Darstellung in Kopenhagen planen, waren angereist. Doch Besucher aus der Bundesrepublik, in der es keine derartige praktische Übersicht über die kompositorische Produktion der letzten Jahre gibt, sah man bei den DDR-Musiktagen vergleichsweise selten.