MusikTexte 6 – Oktober 1984, 3–4

Moderne und Postmoderne

von Reinhard Oehlschlägel

Anders als Neue Einfachheit, Fluxus, Aleatorik, Serialismus, Neue Musik und Atonalität ist der Begriff der Moderne in der Musik kein Begriff aus dem Nahbereich, aus der Szene. Er ist eo ipso nie mit einem Komponisten oder einer Gruppe von Komponisten verbunden aufgetreten. Dem Begriff Moderne, Modernität haftet ein Charakter von Abstraktion, von Oberbegriff, auch von Unspezifik, von mangelnder Konkretion an. Das macht ihn besonders geeignet für begriffliche Operationalisierungen in einiger Distanz von der künstlerischen Produktion und Reflektion. Das erklärt auch, wie es möglich ist, einen freilich einigermaßen vergeblichen Versuch zu unternehmen, aus dem Begriff Moderne, der 1880 von Eugen Wolff und Hermann Bahr für den literarischen Naturalismus eingeführt worden war, einen Begriff der Musikgeschichte zu machen.

Carl Dahlhaus1 und sich auf ihn stützend Hermann Danuser2 benutzen ihn nachträglich als einen Begriff für eine „musikgeschichtliche Epoche“, die nun über achtzig Jahre zurückliegt. Über die Dignität eines ästhetischen Begriffs aber entscheidet letztlich, ob er von der Musiksphäre selbst rezipiert wird als ein ästhetischer Begriff. Atonalität hat sich nicht zuletzt dadurch als Begriff eingebürgert, dass er von den betroffenen Musikern der Zeit selbst akzeptiert worden ist, obwohl sie ihn vielfach auch aus begriffslogischen Gründen nicht gemocht haben. Abgesehen davon, dass es für einen einigermaßen unmittelbaren Gebrauch des Begriffs für die Musik um 1900 achtzig Jahre zu spät ist, leuchtet seine Übernahme aus der Literaturdiskussion um 1890 in die Musikdiskussion nicht besonders ein, hat er sich doch in der Literaturdiskussion aus guten Gründen gegenüber dem Naturalismusbegriff gerade nicht durchsetzen können, obwohl die literarischen Naturalisten ein ausgesprochenes Bewusstsein davon entwickelten, eine gegenüber dem ganzen vorausgegangenen Jahrhundert außerordentlich moderne und fortschrittliche Literatur zu schreiben. Durchgesetzt hat sich stattdessen ein Begriff, der andeutet, worin sie sich von den früheren Strömungen unterscheidet.

Ein gleichermaßen ausgebildetes, gemeinsam getragenes Modernitätsbewusstsein hat aber den Komponisten um 1900 weitgehend gefehlt. Es stellt sich erst gegen 1908 im Zusammenhang mit der Ausbildung der Atonalität ein. Nun aber setzt sich ein Begriff durch, der, obwohl er von denen, die die atonale Konzeption entwickelt hatten, zunächst abgelehnt wird, den Unterschied zum Fin de Siècle, ja zum ganzen Jahrhundert davor, markiert. Der aus der Literaturdiskussion entlehnte Epochenbegriff „Moderne“ für die Musik von Richard Strauss, Gustav Mahler, Alexander Zemlinsky und Franz Schreker stellt sich also als eine Verlegenheit post festum ohne rechte Rezeptionsbasis heraus.

Die Verwendung des Begriffs Moderne zur Unterscheidung einer traditionslastigeren Entwicklung der neuen Musik seit der Atonalität von einer experimentelleren, benutzt ihn von Anfang an als einen Oberbegriff, der Atonalität, Neoklassizismus, Zwölftonkomposition und Serialismus gegenüber den Avantgardebewegungen Futurismus, Dadaismus und Surrealismus abgrenzt. Danuser knüpft dabei an den innerhalb der Literaturwissenschaft entwickelten Avantgardebegriff an3 und rekonstruiert damit nicht ohne Gewaltsamkeit eine Begriffsdifferenz, die in der Musik so kaum geschichtlich wirksam geworden ist. Futurismus, Dadaismus und Surrealismus sind Bewegungen in der Literatur, auch in der bildenden Kunst gewesen, an denen einige Musiker beteiligt waren. Die geschichtliche Entwicklung der Musik in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist – übrigens auch auf der Traditionslinie Ives, Cowell, Cage – von diesen Avantgarde-Bewegungen weitgehend unabhängig verlaufen. Bleibt für die Konstruktion eines „strikten Gegensatzes“ zwischen „nicht-moderner Avantgarde“ und nicht-avantgardistischer Moderne die zweite Jahrhunderthälfte. Hier ist John Cage, chronologisch und wirkungsgeschichtlich vor Terry Riley und La Monte Young, der Kronzeuge einer Avantgarde, die ihre Ansätze „ex negativo“ zur Tradition produzierte. Ganz anders als diese Optik es will, hat John Cage, ähnlich wie auch Lou Harrison, nach einem Studium bei Arnold Schönberg und Henry Cowell eine spezifische Tradition aufgenommen und in einem außerordentlich konsequenten Prozess der systematischen Entsubjektivierung ein langes Leben lang fort und fortentwickelt, nicht ohne sich dabei mehr und mehr auf versprengte europäische Traditionen christlicher Mystik, auf den Neuengland-Transzendentalismus und artifizielle Arbeiten von Erik Satie, James Joyce und Marcel Duchamp zu beziehen. Was für den einen eine Bestimmung „ex negativo“ zur europäisch orientierten Serialität Milton Babbitts erscheint, für einen anderen Einblick sich gar als bestimmte Negation im Zusammenhang einer dialektischen Geschichtsbewegung ausnimmt, kann doch als eine außerordentlich folgerichtige Entfaltung eines aus der Entwicklungsgeschichte der US-amerikanischen Musik abgeleiteten Ansatzes begriffen werden. Und selbst die Momente der Übersetzung aus der zen-buddhistischen und aus anderen asiatischen Kulturen sind in Cages Musik keinesfalls voraussetzungslos, wenn man sie im Zusammenhang mit den Stücken bei Cowell und den Arbeiten von Colin McPhee und Lou Harrison sieht.

Ohne dass die Begriffe Avantgarde und Moderne deswegen schon absolut deckungsgleich sind, lassen sie sich kaum sinnvoll in ein Gegensatzpaar ummodeln. Dazu ist auch ihre Rezeption viel zu diffus verlaufen. Darüber hinaus ist der in den Begriffen verborgene Wortsinn gerade nicht dazu angetan, eine derart konstruierte Gegensätzlichkeit zu tragen, haftet doch der Moderne viel zu sehr das temporär Modische an, der Modernski, den Schönberg verspottete, und der Avantgarde die Vorstellung einer beweglichen Vorhut, die vor dem breiten Trend der Massenkultur her und durchaus in Verbindung mit ihm und mit Richtungsvorstellungen nach vorn Geländeerkundungen betreibt.

Der Begriff Postmoderne, der auch im deutschsprachigen Raum allmählich in die Musikdiskussion eindringt, nachdem er in den Vereinigten Staaten, seit den Sechzigerjahren in der Kunst- und Literaturdiskussion, zum Beispiel bei Leslie Fiedler Verwendung findet, ist vom Gebrauch des Begriffs Moderne in seiner Anwendung auf Musik vor allem dadurch unterschieden, dass er auf einen je gegenwärtigen Gegenstand bezogen ist, nicht als Oberbegriff oder aus irgendeiner Distanz post festum. Er setzt sich zunächst nur als zeitliches Danach von der Moderne im allgemeinen Sinn ab. Für die Musikdiskussion kommt er allerdings genauso von außen, wie die meisten anderen Begriffe, und hat sich bisher nicht recht eingebürgert für eine spezifische Gruppe oder eine spezifische Musik von Komponisten.

In den Auflistungen seiner frühen Begriffsverwendung wird vor allem John Cage immer wieder genannt, dessen Ansatz mit Beschreibungen wie experimentelle Musik und Zufallsmusik genauer und geläufiger getroffen wird. Abgesehen von einzelnen Mobilisierungen des Begriffs für eine Architektengruppe, für das Theater von Robert Wilson oder für die Musikperformancekunst von Laurie Anderson taucht der Begriff überwiegend für Neuerungen über die herkömmlichen Kunstsparten hinweg auf, auch für Phänomene, die in Pop- und Avantgardemusik ähnlich verlaufen sind, wenn er nicht – vor allem im Kontext der französischen Ästhetikdiskussion oder der amerikanischen Ökonomie – und Politikdiskussion von Sparten wie Namen ganz freigehalten wird. Nicht zu übersehen ist dabei, dass Zusammenhänge zur breiteren Kultur- und Kunstszene bestehen, wie selten zuvor. Schon die teils gleichzeitig, teils etwas eher oder später auftretenden Bezeichnungen postseriell, poststrukturalistisch und postindustriell hängen mit der postmodernen Ästhetik zusammen. Ein allzu geradliniges Fortschrittsdenken hat auf mehreren Ebenen ziemlich gleichzeitig Grenzen erreicht. Dennoch suggeriert – paradoxerweise – der Begriff, dass es nach der Moderne noch etwas Weitergehendes gäbe, während die Neo-Bezeichnungen das Weitergehen als ein Zurückgreifen beschreiben.

Insofern hat das Postmoderne bisher eine ähnliche Begriffsfunktion wie Neue Musik oder Avantgarde, eine blinde nämlich, an der ablesbar ist, dass sich etwas verändert hat, aber nicht, worin nun ein markantes Unterscheidungsmerkmal besteht. Die Situationsbeschreibung, nach der pluralistisch alle möglichen bisherigen Ansätze und Lesarten nebeneinander gleiches Recht ausüben, ist für sich genommen so wenig neu wie sie kaum geeignet ist, einen neuen ästhetischen Schlüsselbegriff oder ein Paradigma zu begründen. Es ist damit zu rechnen, dass die ein wenig geisterhafte Postmoderne, die Jürgen Habermas als affirmative kritisiert4 und Andreas Huyssen5 als kritische in ihr Recht setzen will für die Musikszene von nicht allzu langer Lebensdauer sein wird. Was französischen Denkern ein Projekt, amerikanischen Journalisten eine inzwischen gar schon ins Altern geratene selbstverständliche Abgrenzung ist, ist hier eher als ein blinder, gelegentlich modisch propagierter Fleck, der auf seine Ablösung durch einen Merkmalbegriff wartet und einstweilen den Vorzug bietet, den Traum von einer Kunst zuzulassen, die in keinen Begriffsrahmen passt, sich gegen alle Unter- und Einordnung, Vermarktung und Vermittlung spröde zeigt, ohne dass doch alle die Einzelnen, die da der Postmoderne zugerechnet werden, sich genauso sperren müssten.

1Siehe Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Band 6, Wiesbaden, Athenaion,1980, 279.

2Hermann Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Band 7), Laaber: Laaber 1984, 285.

3Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt: Suhrkamp, 1974.

4Jürgen Habermas, „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“, in: Die Zeit, 19. September 1980. Vergleiche auch: Wulf Konold, „Komponieren in der ,Postmoderne’“, in: Hindemith-Jahrbuch 1981, Mainz: Schott, 1982, 73. Ein affirmativer Gebrauch des Begriffs „Postmoderne“ dürfte auch Danusers Zurechnung der deutschen Neoromantiker zur Postmoderne sein (siehe Fußnote 2, 392–393). Dass er außerdem noch eine Postavantgarde konstruieren muss, ergibt sich aus seiner Unterscheidung von Moderne und Avantgarde. Postavantgarde wäre demnach der Traditionsbruch mit dem Traditionsbruch, ein Pleonasmus.

5Andreas Huyssen, „Stationen der Postmoderne“, in: Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, Heft 6, Köln, Mai/Juni 1984, 33–36.