MusikTexte 40/41 – August 1991, 22–23

Nichtdualistisches Denken

Einführung

von John Cage

Die folgenden Zeilen und Mesosticha hat John Cage für die Teilnehmer der Darmstädter Ferienkurse geschrieben, bei denen er 1990 zu Gast war. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Internationalen Musikinstituts Darmstadt.

Dies ist eine Einführung zu den Mesosticha, die ich anschließend lesen werde. Es ist eine Einführung für diejenigen, die mich nicht kennen, die nicht wissen, was ich tue und wie ich denke, das heißt, wie ich lebe. Ich habe sie geschrieben, weil ich seit 32 Jahren nicht hier gewesen bin und Sie als Zuhörer meine Schriften vielleicht nicht gelesen haben.

Ich glaube immer noch, daß der Zweck der Musik ist, das Denken zu läutern und zur Ruhe zu bringen, damit es für göttliche Einflüsse empfänglich wird. Dieser Gedanke wird in Indien überliefert. Ich habe ihn von Gita Sarabhai, einem indischen Musiker, übernommen. Von Ananda K. Coomaraswamy, einem anderen Inder, habe ich folgendes übernommen: Die Verantwortung des Künstlers liegt darin, die Natur in ihrer Wirkungsweise nachzuahmen. Unsere Anschauung dieser Wirkungsweise verändert sich mit unserer wissenschaftlichen Erkenntnis. Unsere wissenschaftliche Erkenntnis umfaßt in den letzten Jahren das Chaos. Wir nennen es den Schmetterlingseffekt oder Ökologie. Es gibt nichts ohne das Geflecht von Ursache und Wirkung. Alles verursacht alles andere; alles resultiert aus allem anderen.

Geläutertes und zur Ruhe gebrachtes Denken ist nach der Philosophie von der zyklischen Wiederkehr1 eines, das von Vorlieben und Abneigungen frei ist. Göttliche Einflüsse empfangen wir durch unsere Sinneswahrnehmungen. Ich nahm den Weg des Zen, aber nicht seine Sitzweise an. Es schien mir, daß ein Komponist ohnehin genug Zeit mit Sitzen verbringt. Daisetz Suzuki zeichnete ein Oval mit zwei parallelen Linien in halber Höhe der linken Seite. Er sagte: Das ist die Struktur des Denkens. Die zwei parallelen Linien bedeuten das Ego oder das Denken mit einem kleinen d, die ganze Zeichnung bedeutet das Denken mit einem großen D. An der Spitze des Ovals steht die Welt der Relativität; am Fußpunkt das, was Meister Eckhart den Grund nannte, das Absolute. Das Ego nähert sich der Welt der Relativität durch die Sinneswahrnehmungen an, dem Grund durch die Träume. Es kann sich selbst von einem oder beiden durch seine Vorlieben und Abneigungen absondern oder es kann sich von seinen Vorlieben und Abneigungen befreien und sich mit dem Geschehen im Fluß befinden. „Ich begrüße alles, was als nächstes passiert.“ Oder Nichi nichi kore ko nichi: Jeder Tag ist ein schöner Tag. Diese Zeichnung der Denkstruktur ist ein Beispiel für nichtdualistisches Denken. Es stellt nicht, wie dualistisches Denken, zum Beispiel das Apollinische und das Dionysische einander gegenüber, sondern hält sie zusammen: Rasch, ein Wort der Wahrheit, oder ich schneide der Katze die Kehle durch.2

Marshall McLuhan und R. Buckminster Füller haben uns dazu gebracht, die Welt selbst als das Denken zu begreifen, nicht als ein geläutertes und zur Ruhe gebrachtes Denken, sondern als ein fehlgeleitetes und schizophrenes; unser Haus ist in Gefahr, zerstört zu werden. Und wir selbst sind geteilt in Menschen mit und ohne Macht, in Arme und Reiche. Ich hoffe auf Intelligenz anstelle von Politik. Andernfalls hoffe ich auf ein leicht zu erkennendes allgemeines Unglück, das die menschliche Rasse zur Vernunft bringt, bevor es zu spät ist (die ständige Ausbeutung fossiler Brennstoffe; die ständige Umweltzerstörung; die ständige Vergeudung und Versklavung menschlichen Lebens). Unterdessen hoffe ich auf umfassenden sozialen Kredit, damit jeder Mensch das bekommt, was er zum Leben seinem Ermessen nach braucht. In diesem Verlangen nach Utopia bin ich Anarchist. Die einzige Regierung, in die ich Vertrauen habe, ist meine Selbstregierung. Wo ich lebe, gibt es keine Feiertage, Wochenenden oder Ferien. Wenn ich mich am Morgen, so gut ich es kann, um meine körperlichen Bedürfnisse gekümmert habe, gieße ich die Pflanzen. Es gibt ungefähr zweihundert. Die Tage wechseln zwischen wenig Bewässerung und viel Bewässerung. Ich beantworte die Post und das Telephon. Es gibt keinen Anrufbeantworter. Mein Ziel ist es jetzt, meine Arbeit ohne Assistenten zu tun. Allerdings kümmert sich Mimi Johnson um meine Engagements. Andrew Culver kümmert sich um Computer und Computerprogrammierung, um die Theaterregie von „Europeras 1 & 2, 3 & 4“, um Klanginstallationen und um Beleuchtung, sei sie theatralisch oder nicht. John Fulleman kümmert sich um Aufführungen von „Roaratorio“. Laura Kuhn erledigt meine Rechnungen und organisiert meine Zeit, so daß ich meine Verpflichtungen erfüllen kann. Wenn ich die „Freeman Etudes“ (ich arbeite jetzt an Nummer „XXI“) abgeschlossen habe, hoffe ich, den Computer besser nutzen zu lernen, als ich es gegenwärtig kann.

Ich habe meine [neuere] Musik, in der ich vor langer Zeit Entscheidungen durch Fragen ersetzt habe (Antworten auf die Fragen werden von Zufallsoperationen nach dem „I Ging“ gegeben), in zwei Gruppen von Stücken eingeteilt: Die erste Gruppe heißt „Music for __“, wobei der Titel durch die Anzahl der Spieler ergänzt wird; die zweite Gruppe ist schlicht nach der Anzahl der Spieler benannt, zum Beispiel „Two“, „Four“ oder „Twenty-three“. Die erste Gruppe setzt sich aus dem allmählichen Schreiben, Stimme für Stimme, eines Orchesterstücks zusammen, das natürlich keinen Dirigenten haben wird. Alle Stimmen, von denen es jetzt achtzehn gibt, sind vom gleichen Programm erzeugt (die gleichen Fragen werden gestellt). Der zweiten Gruppe liegt kein gemeinsamer Gedanke zugrunde. Das ist eigentlich ihre Idee. Jedes Stück ist – hoffentlich – verschieden. Wenn ich verschiedene Stücke für die gleiche Anzahl von Spielern schreibe, werden sie alle nach dieser Anzahl benannt, zum Beispiel „Seven“, aber jedes mit seiner eigenen Indexnummer, zum Beispiel „Seven „, „Seven „ etc. Ich brauche auf Titel nicht mehr Gedanken zu verschwenden als auf meine Kleidung, die auch immer die gleiche ist.

Mein Mesosticha-Vortrag handelt von meiner veränderten Auffassung von Harmonie, von der Geschichte meiner Werke als ein Suchen nach Alternativen zur Harmonie (eine Mühe, die ich nun nicht mehr als notwendig erachte), von meiner Vorstellung von Zirkus, von Stille, von einem Theater aus unabhängigen Elementen, und schließlich von der spezifischen Beschaffenheit meiner gegenwärtigen musikalischen Erfahrungen, die Zeitspannen, Klänge wie Feedback, Feuer- und Einbruchsalarm, die wir nicht als Musik ansehen, sondern die zur Zeit musikalisch unterprivilegiert sind. Ich denke jetzt, das ich nach all diesen Jahren endlich schöne Musik schreibe.

An manchen Tagen schreibe ich keine Musik. Ich arbeite graphisch oder literarisch. Ich kaufe auch ein und koche makrobiotisches Essen auf meine Weise. Ich spiele am späten Nachmittag gern Schach. Ich trinke keinen Tee oder Kaffee oder Alkohol mehr. Ich wende chinesische Kräuter und Akupunktur an, und ich versuche, holistische oder natürliche Medizin zu befolgen. Mein Ziel ist, so lange zu leben wie ich kann. Ich möchte die Veränderungen erfahren, die im Verhältnis der Menschheit zur Erde, auf der sie lebt, stattfinden, das heißt wenn Menschheit auf der Erde weiter existieren soll.

1 Cage bezieht sich hier auf einen Buchtitel von Aldous Huxley: „The Perennial Philosophy“.

2 Dies war laut Cage der Aussprach eines buddhistischen Mönchs, der in einer Hand eine Katze und in der anderen ein Messer hielt.