MusikTexte 90 – August 2001, 88

Akustisches Innenleben

Die Siebte Brückenmusik in Köln

von Rainer Nonnenmann

Zum siebten Mal veranstaltete die Kölner Gesellschaft für Neue Musik unter der Projektleitung von Peter Behrendsen und hans w. koch im Hohlkörper der Deutzer Brücke die „Brückenmusik“. Ende Juni waren im Inneren der drei Abschnitte des Brückenkastens drei Installationen zu hören und zu sehen. Johannes Fritsch collagierte über mehrere Tonbandgeräte verschiedene in den sechziger Jahren im Elektronischen Studio des WDR produzierte elektronische Klänge aus dem Umkreis seiner Tonbandkomposition „Fabula Rasa“ von 1964 und der Werkreihe „Modulation“ von 1966 bis 1968 in Verbindung mit Aufnahmen unterschiedlichster Provenienz und seiner neuesten Konzeptkomposition „Zeit“ von 2000. Indem Fritsch die mittlerweile historischen Bänder als „Hörbilder der Erinnerung“ einsetzte, wollte er dem Gedächtnisverlust gegenüber den sechziger Jahren entgegenwirken. Jedoch blieb es bei einem mehr privaten und leicht nostalgisch gefärbten Erinnern, dessen Bezug zur gegenwärtigen Situation der Musik und des Musikhörens ebenso unklar blieb wie Fritschs Wahl des Innenraums der Deutzer Brücke als einem angeblich „idealen Ort für die Zeitreise zurück in die sechziger Jahre“.

Rolf Ju­lius war dagegen mit seiner Installation „Gegen den Strom“ darum be­müht, der ungewöhnlichen Lokalität zumindest auf metaphorischer Ebene gerecht zu werden, indem er den Raum über mehrere Lautsprecher mit „fließenden musikalischen Bewegungen“ zu füllen suchte. Jedoch schien er die Eigenschaften und Möglichkeiten des Brückenraums nicht recht ausgehört zu haben, da seine Idee, leise Klangflächen durch laute Akzente vorübergehend zu verdecken, um anschließend den Raum erst still erscheinen und dann nach und nach sich wieder mit den fließenden Klängen füllen zu lassen, nicht aufging. Der ständig über die Brücke hinweg ziehende Verkehr verdeckte ohnehin permanent die leisen Klangflächen, so daß von Stille keine Rede sein konnte.

Claudia Schmacke entzog sich der heiklen Akustik des Brückenraums indem sie bei Ihrer Installation „Ridge“ ganz auf Klingendes verzichtete. Im hundertachtzig Meter langen Mittelstück der Brücke installierte sie einen „Fluß über dem Fluß“, indem sie Wasser in kilometerlangen Schläuchen hin und her fließen ließ und das Kreisen von Wasser- und Luftblasen mit Scheinwerfern ausleuchtete, was zweifellos hübsch anzusehen, jedoch nicht zu hören war. So wie dem Titel das B, so fehlte dieser Langinstalla­tion das K.

Im Abschlußkonzert hörte Richard Teitelbaum – wie schon andere in den vorangegangenen „Brückenmusik“-Jahrgängen vor ihm – in einer den Raumverhältnissen angepassten Neuauflage seines Environments „Treshold“ von 1975 die Deutzer Brücke mit Mikrophonen auf ihr durch Auto- und Straßenbahnverkehr ver­ursachtes akustisches Innenleben ab. Durch Computer und Synthesizer entfaltete er aus dem an sich beschränkten und monotonen Klangspektrum ein viel reicheres und assoziationsstarkes, konnte einzelne Geräusche in Echtzeit oder zeitversetzt umwandeln, sich selbst begleiten oder als Klangschatten zeitlich-räumlich jagen lassen.

Anna Maria Rodríguez, neben Claudia Schmacke die zweite Vertreterin der unterrepräsentierten jüngeren Generation, beschränkte sich dagegen in ihrer Raumkomposition „One Way“ darauf, nach dem Einbahnstraßenprinzip vom Ende des dritten Brückenabschnitts den Hörern über längs des Raums verteilte Lautsprecher und Flötenspieler Klänge entgegenzuschicken. Im Gegensatz zu Teitelbaums Environment hatte die so geschaffene psychedelische Raum-Klang-Atmosphäre nichts mit der Geräuschkulisse der Brücke zu tun und hätte ebenso gut in jedem anderen länglichen Raum mit langer Nachhallzeit realisiert werden können. Dabei wäre es doch vielleicht den Versuch wert gewesen, den Brückenkörper einmal selbst als riesiges Instrument zu verwenden, da er mit seinen gigantischen Längenmaßen doch leicht selber so etwas wie eine überdimensionierte Flöte, Orgelpfeife oder Posaune hätte abgeben können?

Ebenfalls nicht direkt mit dem Brückenraum zu tun hatte die Performanz von Esther Ferrer. Eigentlich gedacht als freie Meditation über das Gehen nach dem Motto „Camionante no ha camion, se ace camion a andar“ („Wanderer, es gibt keinen Weg, du findest ihn nur im Gehen“) von Antonio Machado, das Nono als Wahlspruch seiner letzten Werke und Lebensjahre diente, geriet die Darbietung zu einer Art Lehrstück über die Relativität der Parameter Laut­stärke, Geschwindigkeit, Verständlichkeit und Raum und deren Abhängigkeit voneinander. Auf einem Stuhl sitzend erzählte die spanische Fluxus-Artistin mit ausdrucksvoller Mimik etwas Lautloses, rannte dann plötzlich zwischen den Zuschauern ein Stück in den Hohlkörper der Brücke hinein, so daß ihre Schritte laut im Raum widerhallten, kehrte um, rannte zurück, setzte sich wieder hin und begann erneut zu erzählen. Anschließend wurde dieses „Material“ in quantitativen Abstufungen wiederholt. Indem erst geflüstert, normal gesprochen und dann geschrieen wurde (zum Schluß auch mit Megaphon) konnten die Hörer je nach Entfernung verstehen, daß die so bedeutungsvoll dargebrachte Erzählung nur aus den Zahlen von eins bis sechzig bestand. So wie die zunehmende akustische Verständlichkeit in inhaltliche Sinnlosigkeit umschlug, wirkte sich die zunehmende Lautstärke in abnehmender Sprechgeschwindigkeit aus. Entsprechend dazu wurden die Schritte mit abnehmender Laufgeschwindigkeit immer leiser und die abgeschrittenen Entfernungen immer größer, bis die Künstlerin schließlich in der Weite des Raums ganz entschwand. Die ganze Aktion wäre – weil allzu simpel, durchsichtig und berechenbar – sehr ermüdend gewesen, hätten die quantitativen Parameterabstufungen nicht qualitative Sprünge bewirkt und die wechselseitigen Abhängigkeiten der Parameter in Relation zu den jeweiligen Wahrnehmungsperspektiven der Hörer erhellt.

Seit der ersten Veranstaltung 1995 standen die „Brückenmusiken“ stets im Zeichen von Cages Idee, irgendwelche im Raum befindlichen Klänge und Geräusche statt zu ignorieren als maßgebliche Bestandteile in die musikalischen Konzepte zu integrieren. Nach mittlerweile sieben „Brückenmusiken“ zeigt dieser Ansatz deutliche „Ermüdungserscheinungen“ im Hinblick auf die Deutzer Brücke, deren spezifische Geräuschkulisse und Aura zwischen hüben und drüben über dem strömenden Rhein in den letzten Jahren in zahlreichen Installationen hinreichend oft beschworen und von Komponisten wie Hörern gleichermaßen erschöpfend „abgehört“ wurde. Weil ­Cages Ansatz zu universal und flexibel ist, als daß er sich auf einen bestimmten Raum fixieren ließe, und es zum Besten der „Brückenmusiken“ gehört, durch die Außergewöhnlichkeit des Veranstaltungsraums, die sich bei zu häufiger Wiederholung und Institutionalisierung des Raums als mehr oder minder regulärer Aufführungsort jedoch verbraucht, Brükken zu einem sonst an neuer Musik weniger interessierten Publikum zu schlagen, sollte das an sich nach wie vor richtige Konzept nicht länger auf die Deutzer Brücke beschränkt bleiben. Die nächsten „Brückenmusiken“ sollten den Versuch wagen, andere Räumlich-, Klanglich- und Öffentlichkeiten zu erschließen.