MusikTexte 94 – August 2002, 95

Diesseits des Schweigens

Zu Franco Evangelisti

von Rainer Nonnenmann

Als mit „Quattro fattoriale“ von 1954/55 bei den Darmstädter Ferienkursen 1957 erstmals eine Komposition von Franco Evangelisti uraufgeführt wurde, da waren die gleichaltrigen Komponistenkollegen Boulez, Nono und Stock­hau­sen längst bei Rundfunkanstalten, Musikfestivals, grossen Musikverlagen etabliert und zu gefragten Dozenten und Essayisten avanciert. Und als diese Komponisten weltweit Karriere machten, da stellte Evangelisti 1963 – nach nur zehn veröffentlichten und etwa ebenso vielen unveröffentlichten Werken – sein Komponieren bereits wieder ein, um nicht – wie er den anderen vorwarf – erprobte akademische Formeln für die kommer­ziellen Interessen des Musikbetriebs zu wiederholen, sondern kompromißlos seinem hohen ästhetisch-sozialpolitischen Ethos zu folgen und „vom Schweigen zu einer neuen Klangwelt“ zu gelangen.

An diese utopische Zielvorstellung, wie sie Evan­­gelisti im Titel seines 1985 post­hum auf deutsch veröffentlichten Buchentwurfs postulierte, hält sich auch der Titel eines von Harald Muenz im Pfau-Verlag herausgegebenen Bands: „... hin zu einer neuen Welt: Notate zu Franco Evange­listi“. Das Buch versammelt insgesamt acht Beiträge zu Musik und Schriften Evangelistis: sechs Vorträge eines im März 1999 vom Kölner Instituto Italiano di Cultura und der Kölner Gesellschaft für Neue Musik veranstalteten Evange­listi-Porträts sowie zwei weitere Referate einer Begleitveranstaltung zu einer Berliner Inszenierung von Evangelistis einzigem Bühnenwerk „Die Schachtel“.

Im ersten Beitrag schildert Heinz-Klaus Metzger sehr allgemein die Folgen des technischen Fortschritts für das Überleben von Natur und Menschheit, um anschließend seine nicht minder allgemein gehaltene These, Fortschritt in den Künsten sei „ein Anwachsen des kritischen Bewußtseins“, anhand einiger Werke Evangelistis umso eindrücklicher zu belegen. Sämtliche italienischen Mu­sik­lexika und Publikationen zur Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, die Evangelisti zu wenig oder gar nicht erwähnen, werden von Antonio Trudu seitenlang aufgelistet. Statt die Bedeutung des Komponisten im Kontext der frühen Darmstädter Debatten positiv herauszustellen, lamentiert er mit der Strenge eines Pedanten über dessen unverdiente Vergessenheit. Derlei Defensivmechanismen sind sonst vor allem aus der sogenannten „Kleinmeisterforschung“ be­­kannt und der jüngsten (Wieder-)Entdeckung Evangelistis nicht zuträglich, da sie allenfalls bestehende Parteinahmen bestätigen, breitere Interessentenkreise aber eher abschrecken als ansprechen.

Ein Gegenbeispiel liefert Christine Anderson, indem sie anhand von Skizzen aus Evangelistis Nachlaß die Genese des Streichquartetts „Aleatorio“ (1959) aufzeigt und Evangelistis Suche nach einem dritten Weg zwischen Serialismus und Aleatorik beschreibt. „Aleatorio“ steht auch im Mittelpunkt der Ausführungen von Thorsten Wagner, der Evangelistis Verständnis von „Improvisation als ‘weiteste Ausdehnung des Begriffs aleatorische Musik’” erörtert und Einblicke in die Arbeits- und Gestaltungsprinzipien der Improvisationsgruppe „Nuova Consonanza“ gestattet, die Evangelisti 1964 zusammen mit den Komponisten-Interpreten Larry Austin, Mario Bertoncini, Frederic Rzewski, Ennio Morricone und anderen gründete. Giordano Ferrari wiederum berichtet über Evangelistis Zusammenarbeit mit dem mathematisch versierten Maler und Bühnenbildner Franco Nonnis und ihrem gemeinsamen Versuch, in ihrer multimedialen Pantomime „Die Schachtel“ von 1962/63 – deren Text und Inszenierungsanweisungen im Anhang abgedruckt sind – anstelle eines episch-dramatischen Musiktheaters ein in allen Parametern autonom gestaltetes Gesamtkonzept zu schaffen.

Evangelistis antifaschistisch-sozialistische Einstellungen und seine Interesssen für Charles Ives und James Joyce skizziert Hans G. Helms, dessen Aufzählung derjenigen Wahl-Kölner, die sich im Früh­jahr 1957 regelmäßig in Helms’ Wohnung zur gemeinsamen Lektüre von „Finnegans Wake“ zusammengefunden hatten, sich wie ein „Who is Who“ derjenigen liest, die Mitte der fünfziger Jahre aus aller Welt nach Köln in das Elektronische Studio des Westdeutschen Rundfunks kamen: neben Evangelisti und dem Gastgeber auch Gottfried Michael König, Heinz-Klaus Metzger, Wolf Rosenberg, György Ligeti und Mauricio Kagel. Nachdem Evangelisti 1956/57 im Kölner Studio mit Königs Hilfe seine „Incontri di fasce sonore“ realisiert hatte, ergab sich zwischen beiden Komponisten ein bis 1973 insgesamt hundert Schriftstücke umfassender Briefwechsel. Anhand dieser Quellen dokumentiert König Evangelistis Bemühungen um die von ihm seit 1959 in Palermo mitorganisierte „Gruppo Universitario per la Musica Nuova“ und seine gescheiterten Pläne zu einer Kooperative junger Komponisten, mit der er die Monopolstellung der großen Musikverlage und ihrer Netzwerke brechen wollte.

Im Anhang des Bands findet sich ein ausführliches Personen- und spezielles Werkregister; ferner ein Verzeichnis der veröffentlichten und unveröffentlichten Kompositionen sowie eine aktualisierte Chronologie der Primär- und Sekundärliteratur. Eine Diskographie fehlt. Stattdessen wurde das Programmheft des Kölner Evangelisti-Porträts 1999 fast vollständig abgedruckt. Das dürfte dem Dank an die damaligen Mitwirkenden geschuldet sein, jedoch bei unbeteiligten Lesern kaum Interesse finden. Statt die Abstracts der Vorträge verstreut im Programm der damaligen Porträtveranstaltung folgen zu lassen, wären sie besser den Beiträgen direkt vorangestellt oder überhaupt weggelassen worden, um Platz zu schaffen für weitere unveröffentlichte Werkkommentare aus Evangelistis Nachlaß. Auch das Vorwort zum Programmheft wäre besser in das der Buchausgabe eingearbeitet worden, um Redundanzen zu vermeiden und dem vom Herausgeber zu Recht beklagten Mangel an Übersetzungen wich­­­tiger Primär- und Sekundärtexte umgehend mit dem Abdruck weiterer Übersetzungen (die Harald Muenz und Christine Anderson durchweg in stilsicheres Deutsch brachten) ein Stückchen abzuhelfen.

Trotz seines verheißungsvollen Namens ist Evangelisti die Einlösung seiner „Frohen Botschaft“ einer „neuen Klangwelt“ schuldig geblieben und stattdessen frühzeitig in rätselumwobenes Schweigen verfallen. Ohne sich in Spekulationen über das unerreichte „Jenseits“ dieses Schweigens zu ergehen, wie der Obertitel des jetzt erschienenen Bands vielleicht suggeriert, halten sich die „No­tate zu Franco Evangelisti“ gemäß ihrem nüchternen Untertitel vorwiegend an das einstweilen noch wenig erforschte „Diesseits“ seiner Musik; und dies eröffnet trotz schmalen Œuvres bemerkenswert unzeitgemäße Alternativen zur heute wie damals oft schematischen Einteilung der Nachkriegs-Musikgeschichte in Serialismus versus Postserialismus.

... hin zu einer neuen Welt. Notate zu Franco Evangelisti, herausgegeben von Harald Muenz, Saarbrücken: Pfau, 2002.