MusikTexte 95 – August 2002, 82–83

Nordlichter

Das zwölfte Ultima-Festival in Oslo

von Rainer Nonnenmann

Wenn Musik tatsächlich mehr die archetypische Nacht- und Traumseite der Seele anspricht und deshalb Konzertsäle verdunkelt werden, dann dürfte in Norwegen die Nähe des Polarkreises mit den langen Winternächten dem Machen und Hören von Musik besonders förderlich sein. Tatsächlich verfügt das Land über eine – gemessen an der geringen Zahl von viereinhalb Million Einwohnern – sehr gut ausgebaute musikalische Infrastruktur, über etliche Orchester und Ensembles, eine Musikhochschule, sechs Konservatorien, ein Musikinformations­zen­trum, einen aktiven Komponistenverband und mehrere beachtliche zeitgenössische Komponisten. Auch der Umstand, daß Norwegen der größte Erdölexporteur au­ßerhalb der OPEC ist, dürfte sich segensreich auf das Musik- und Kulturleben des kleinen Lands auswirken. Durch enge Kooperation der landeseigenen Mittel behauptet es sich auch im internationalen Vergleich. So bündeln seit 1991 siebzehn führende norwegische Musikinstitutionen ihre personellen, räum­lichen und finanziellen Mittel, um zusammen jährlich in Oslo nicht nur das größte nor­we­gische, sondern unter dem ehrgeizigen Titel „Ultima“ das größte skandinavische Neue-Musik-Festival zu veranstalten, das den Vergleich mit anderen europäischen Festivals nicht zu scheuen braucht.

Das Motto „Acoustic Spaces“ des diesjährigen Festivals, das im Oktober zum vierten Mal unter der künstlerischen Leitung von Geir Johnson stattfand, verdankt sich Gérard Griseys monumentalem Orchesterzyklus „Les Espaces Acoustiques“ von 1974–85, dessen sechs Teile im Abschlußkonzert mit der Oslo Sinfonietta, dem Norske Operas Orkester und dem Bratschisten Garth Knox unter der Leitung von Pierre-André Valade zu hören waren. Schon vor zwei Jahren lag ein Schwerpunkt des Festivals auf den französischen Spektralisten und der Musik von Philippe Hurel (siehe MusikTexte 86/87, 105–106.). Aber abgesehen davon und von der Tatsache, daß die Konzerte und Klanginstallationen auf verschiedene Spielstätten und Räumlichkeiten der Stadt verteilt waren, blieb das Festivalmotto eher metaphorisch und wurden kaum raummusikalische Konzepte vorgestellt. Immerhin widmete sich eine dreitägige Konferenz dem Thema „Electronic Art in Public Area“. Die überraschend gut besuchten Referate und Projektpräsentationen von Installations-, Computer- und Filmkünstlern, Komponisten, Performern, Produzenten, Veranstaltern und Architekten trugen zwar der Multimedialität und Interdisziplinarität der Thematik Rechnung, ließen aber bei überwiegend norwegisch gehaltenen Vorträgen die nötige Internationalität vermissen, die dieser weltweit durch neue Technologien getragenen Kunst- und Musik­richtung angemessen gewesen wäre.

Nachdem 1994 erstmals Sofia Gubaidulina und im vergangenen Jahr Hans Werner Henze mit umfangreicheren Porträts bei Ultima vorgestellt wurden, war es dieses Jahr Salvatore Sciarrino. Als Uraufführungen zu hören waren sein neues Klarinettenkonzert „Altre schegge di canto“ mit dem Solisten Alessandro Carbonare und dem Oslo Filharmoniske Orkester unter der finnischen Dirigentin Susanna Mälkki sowie ein neues Solostück für Flöte „Lettera degli antipodi portata dal vento“, das von Mario Caroli zusammen mit sechs anderen Flötenstücken Sciarrinos gespielt wurde. Ferner gab das Freiburger ensemble recherche mit seiner phantastisch fein ausschattierten Vorstellung einiger Solo- und Kammermusikwerke eine klingende Bestätigung von Sciarrinos Überzeugung, klangliche Nuancen könnten sich nur bei geringer Lautstärke entfalten, während eine stärkere Dynamik die instrumentalen Feinheiten zum üblichen sinfonischen Klang­spektrum nivelliere. Zugleich wurde durch eine dezente Lichtregie wäh­rend des Konzerts unterstrichen, daß psychologische, imaginative und irrationale Elemente für Sciarrinos Musik essentiell sind und gerade Stille ein Mittel ist, die Möglichkeit von Klängen beziehungsweise Erinnerungen an bestimmte Klänge hör­bar zu machen.

Um Sciarrinos Musik herum gruppierte Geir Johnson einen deutlichen Programmschwerpunkt mit italienischen Komponisten: Berio, Busotti, Castiglioni, Clementi, Donatoni, Scelsi und Gervasoni. Gleich mit vier Werken war Luca Francesconi vertreten, dessen exaltiertes „Trama per saxophone et orchestra“ von 1987 und massiv überinstrumentiertes Virtuosenstück „Memoria 2“ von 1998 in der Interpretation durch das Orchester des norwegischen Rundfunks und den Saxophonisten Rolf-Erik Nystrøm unter Stefan Asbury an Filmmusik denken ließen und damit den extrovertierten Gegenpol zu Sciarrinos in ihrer Verhaltenheit stets klarer Musik bildeten. Während deutsche Komponisten nur mit Lachenmanns Drittem Streichquartett „Grido“ von 2001, gespielt vom Arditti Quartet, und in einem Vormittagsprogramm mit kurzen Stücken von Spahlinger, Mahnkopf, Hübler, Hespos und Nicolaus A. Huber vertreten waren und englische Komponisten, allen voran Christopher Fox, in einem Konzert des Londoner Ensembles Apartment House, gab es bei insgesamt etwa fünfundzwanzig Uraufführungen allein siebzehn neue Werke von norwegischen Komponisten zu hö­ren: neben der posthumen Uraufführung von Finn Mortensens seriellem „Pezzo Orchestrale“ von 1957 unter anderem neue Werke der mittlerweile auch international bekannteren Komponisten Lasse Thoresen, Sven-Lyder Kahrs, Rob Waring, Eivind Buene, Mark Adderley und Jon Øivind Ness. Die Aufführungen dieser Werke durch norwegische Interpreten und auf neue Musik spezialisierte Ensembles wie den Nordic Voices, der Oslo Sinfonietta, dem Cikada und BIT 20 Ensemble verliehen dem Festival bei aller Internationalität der sonst vorgestellten Komponisten und Interpreten ein spezifisch norwegisches Profil, das es von vergleichbaren europäischen Großveranstaltungen abhebt.

Demnächst erhält das deutsche Publikum Gelegenheit, einige der bei Ultima vorgestellten norwegischen Komponisten und Interpreten ohne weite Anreise aus nächster Nähe kennenzulernen. Vom 23. November bis 1. Dezember werden die alle zwei Jahre zusammen von Norwegen, Schweden, Finnland, Island und Dänemark veranstalteten Nordischen Musiktage erstmals in ihrer bis ins Jahr 1888 zurückreichenden Geschichte au­ßerhalb Skandinaviens stattfinden, näm­lich unter dem Festivaltitel „Magma“ in Berlin (zum Programm siehe www.
magmafestival.com). Ob die hier gebotene Musik mit der heißen, zähen Masse angemessen beschrieben ist, bleibt dahingestellt. In jedem Fall aber haben die eigenwilligen Nordlichter die Lichter der Großstadt nicht zu scheuen.