MusikTexte 100 – Februar 2004, 110–112

Mit den Ohren sieht man besser …

Ein Zwischenruf an die Freunde und Verächter der Musikwissenschaft

von Rainer Nonnenmann

Außerhalb ihrer angestammten Stellen an Universitäten, Forschungsinstituten und Archiven haben Musikwissenschaftler – sofern sie überhaupt wahrgenommen werden – einen schweren Stand, nicht zuletzt weil Behauptungen kursieren, ihre Methoden seien rückständig, ihre Inhalte ausschließlich historisch, ihre Lehren lebensfern, ihre Forschung ohne Anwendung und Nutzen für das Musikleben, sie selbst wären langweilige Töne- und zuweilen auch Erbsenzähler, vertrocknete Quellensammler, Erzphilologen, weltfremde Bücherfresser und ansonsten weitgehend unmusikalisch und eigentlich überhaupt desinteressiert an Musik. Geschenkt! Sofern es sich nicht um antiintellektuelle Polemiken mancher Praktiker gegenüber der Theorie handelt, die sie nicht in Praxis umzusetzen verstehen, verbirgt sich hinter den Vorwürfen zuweilen schlicht Unkenntnis über das Fach, dessen Tugenden Uneingeweihte vorschnell als Laster verkennen. Indes bedarf der Vorwurf, Musikwissenschaftler seien Kon­zertmuffel und würden Musik nur lesen, nicht aber hören oder selbst machen, der Entgegnung, und zwar nicht zur Ehrenrettung der Musikwissenschaft, die sich um ihren Ruf schon selber kümmert, sondern weil es im gegenwärtigen Musikleben insgesamt symptomatisch zu sein scheint, daß das Hören immer mehr „überhört“ zu werden droht inmitten der Masse an Musik, Bildern, Fotos, Texten, Programmheften, Werkeinführungen, Vorträ­gen, Büchern, Zeitschriften. Zumindest im Bereich der E-Musik trifft der Vorwurf, Musik werde zu wenig gehört, angesichts des allgemeinen Publikumsschwunds neben den Liebhabern von Musik auch Komponisten, Musiker und Veranstalter. Dabei erschließt sich das Interessanteste an Musik oft nicht durch langwierige Analysen, detaillierte Rekonstruktionen der Kompositionstechnik und oft selbst nicht durch das Schreiben und Spielen von Musik. Manchmal – und das sind vermutlich die geglücktesten und glücklichsten Momente – zeigt sich die Idee einer Musik direkt in einer Aufführung und dem unmittelbaren Hörerlebnis, denn: Mit den Ohren sieht man besser. Wer nur in die Noten schaut, findet auch da nichts, was insbesondere für die Fülle an Musik gilt, die ganz im Klanglichen aufgeht und nicht in notierter Form vorliegt.

Hören ist sowohl objekt- als auch subjektzentriert. Es richtet sich zu gleichen Teilen auf das klingende Ereignis wie auf die Art und Weise des Erlebens von Musik. Je intensiver Musik gehört und je ganzheitlicher sie erfahren wird, ertastet, gesehen, gefühlt, gedacht, erinnert, geahnt, desto eher empfiehlt sie sich als Gegenstand für die Untersuchung ihrer Beschaffenheiten, Voraussetzungen und Umgebung. Analyse, Exegese, Interpretation, Skizzen- und Partiturstudium sind unter anderem Versuche zur Rekonstruktion der Bedingungen des durch Musik hervorgerufenen Hörerlebnisses, deren Resultate das neuerliche Hören schärfen und auch auf das Komponieren und Interpretieren von Musik zurückwirken können. Als verknappte Rechtfertigung musikwissenschaftlicher Arbeit gilt daher auch die umgekehrte Behauptung: Mit den Augen hört man besser. Und wer Musik nur macht, spielt oder hört, erfaßt sie ebenfalls nur unvollständig. Da einerseits kein voraussetzungsloses Hören von Musik möglich ist, weil jeder Hörer immer schon über eine Fülle persönlicher und kollektiver, historischer, habitueller und archetypischer Hörerfahrungen verfügt, die nicht einfach verleugnet oder eliminiert werden können, andererseits aber jedes musikalische Kunstwerk gemäß seiner individuellen Gesetzmäßigkeiten als Gebilde eigenen Rechts wahrgenommen werden will, statt vor dem Hintergrund eines zum Normensystem erstarrten Erfahrungsschatzes, kommt es bereits vor dem musikalischen Erlebnis allein schon durch das Wissen um Titel, Besetzung und den Komponisten des jeweiligen Stücks zu einem hermeneutischen Zirkel, der sich während und nach dem Hören fortsetzt und bei dem sich in- und deduktive, werkimmanente und kontextuell-historische Her­angehensweisen verbinden. Je nach individuellem und allgemein kulturellem Erfahrungshorizont sowie der Dichte und Art des musikalischen Geschehens verfährt jedes Hören auf seine Weise selektiv, indem es wesentliche von peripheren Merkmalen unterscheidet und das verfügbare Gesamtmaß an Aufmerksamkeit entsprechend auf die als am markantesten erscheinenden Charakteristika verteilt. Entsprechend der Zeitkunst Musik vollzieht sich auch das Hören als teleologischer Prozeß, indem es von Klang zu Klang die Einzeleigenschaften und die Gesamtheit der Musik abtastet und dabei Form und Gehalt, Mikro- und Makrostrukturen, Ausdruck und Konstruktion gleichermaßen erfaßt. Reines Papiermusik-Studium dagegen bleibt blind für die fundamentale Zeitlichkeit und den spezifischen Erlebnischarakter von Musik.

Zielgerichtet ist Musikhören auch insofern, als es letztlich immer auf das Erfassen dessen aus ist, was man im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert das „Schöne“ nannte und was später unter dem allgemeineren und neutraleren Begriff des „Kunstcharakters“ zu bündeln versucht wurde. Unausgesprochen präsent sind dabei stets die sowohl historisch als auch werk-, produktions- und rezeptionsästhetisch zentralen Kategorien Originalität, Individualität, Authentizität, Intensität, Stimmigkeit sowie strukturelle und expressive Prägnanz und Komplexität. Diese Kategorien sind keineswegs einem konservativen, an der Musik des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts gebildeten Musikbegriff verpflichtet, sondern prinzipiellerer Art und offen genug, um völlig unterschiedliche musikalische Erscheinungsformen möglichst undogmatisch beschreiben, kritisieren und bewerten zu können, vom abgeschlossenen Werk bis zu freien Improvisationen, Konzeptionsformen, Installationen und Performances. Erst im Wechsel der Kritik von Kunst durch diese Kategorien und der Kritik dieser Kategorien durch die Kunst entsteht gedankliche Bewegung und so etwas wie Erkenntnis hinsichtlich inner- und außermusikalischer Verhältnisse. Die genannten Kategorien greifen auch dort, wo Musik sich bewußt von einer oder mehreren von ihnen absetzt, indem sie beispielsweise auf innovative Weise mit dem Innovationsgebot bricht, auf stimmige Art unstimmig ist, auf originelle Weise unoriginell, auf individuelle Weise unauthentisch oder in ihrer Einfachheit komplex beziehungsweise in ihrer Komplexität einfach ist. Da jeder Versuch, die Welt zu erfassen und zu beschreiben, in ähnlicher Weise kategorial verläuft, bietet Musik die Möglichkeit, beim Hören auch etwas über sich selbst und seine Umwelt, sein eigenes Kategoriensystem und das der Gesellschaft, in der man lebt, zu erfahren. Idealerweise wird Musikhören daher zu einem Akt der Selbstverortung des Menschen in Bezug auf seine persönlichen und die ihn umgebenden Strukturen. Die Avantgardebewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts erbrachten in Bildender Kunst, Literatur und Musik als eine ihrer wichtigsten und folgenreichsten Errungenschaften den Nachweis, daß die Wahrnehmung der Kunst und die Kunst der Wahrnehmung zusammengehören, mithin ein und dasselbe sind. Komponisten wie John Cage, Giacinto Scelsi, Alvin Lucier, Luigi Nono und andere widmeten der musikalischen Umsetzung dieser Einsicht ihr Lebenswerk, wenn auch auf sehr verschiedene Weise und mit sehr unterschiedlichen Resultaten, Musik- und Weltvorstellungen. Dabei ging es ihnen nicht vorrangig um die Evokation einer andächtigen Hörhaltung oder um das Abfeiern eines „Wahrnehmungs-Pontifikalamts“ – wie Helmut Lachenmann einmal gegen die Sakralisierung und selbstgenügsame Fetischisierung der Wahrnehmung polemisierte –, sondern um eine beobachtende Haltung. Musik soll nicht hörig, sondern hellhörig machen für Wirklichkeiten und Möglichkeiten in uns und um uns herum. Schönheit, Kunst und Musik – was liegt am Namen? – stehen im Schnittpunkt des allgemeinen Kategoriensystems einer Gesellschaft und sind sowohl Ursache als auch Wirkung eines höchst bewußten Erlebens und Selbsterlebens, wie es erstmalig Immanuel Kant und Friedrich Schiller in ihren Ästhetiken formulierten.

Wie die Musik selbst ist auch die theoretische Auseinandersetzung mit ihr – wie vermittelt auch immer – ein Spiegel der jeweiligen Verhältnisse der Zeit. Musikgeschichte und Musikgeschichtsschreibung sind keine konstanten Größen, die sich aus der Aneinanderreihung kanonisierter Meisterwerke zusammensetzen. Sie sind gemacht, gedacht, geschrieben und damit – wie alles menschliche Tun – etwas höchst Wandelbares und folglich alle fünfzig Jahre einer allgemeinen Revision zu unterziehen. Einstweilen konnte weder abschließend geklärt werden, was Musik eigentlich ist, weil sie zu vielgestaltig und veränderlich ist, noch wo sie phänomenal zu lokalisieren ist, im originären Einfall des Komponisten, in der notierten Partitur, in der klanglichen Realisation oder im musikalischen Erleben der Hörer? Da das Hören nicht minder komplex, vielfältig und wandelbar ist wie Musik, bietet es einen adäquaten Schlüssel zu einem lebendigen Verständnis von Musik und ihrer Geschichte. Vor diesem Hintergrund gehört es schließlich nicht zu den schlechtesten Aufgaben von Musikwissenschaftlern, Musikjournalisten und Zeitschriften, in anderen Menschen die Sehnsucht nach einem möglichst in- und extensiven Erleben von Musik zu wecken, die inner- und außermusikalischen Ursachen dieses Erlebens aufzudecken, ihren Wandel zu beschreiben und ihre Voraussetzung kritisch zu hinterfragen sowie immer wieder neue Beispiele vorzustellen von Musik, die tief in den Menschen einzugreifen vermag, seine Selbst- und Weltsicht erhellen und auf diese Weise den Einzelnen und die Gesellschaft vielleicht auch verändern kann, ohne freilich vor lauter Forschungs- und Vermittlungstätigkeit zu übersehen, daß Musik zumeist ohne Hilfe von Kommentaren und Analysen in dieser oder ähnlicher Weise wirksam und verstanden werden kann, wenn sie nur gehört wird …