MusikTexte 102 – August 2004, 15–21

Noch ein „neuer“ Luigi Nono?

Zu den Schriften über Nono seit 1990

von Jürg Stenzl1

Vor knapp vierundzwanzig Jahren, nach der Uraufführung von Luigi Nonos Streich­quartett „Fragmente – Stille, An Diotima“ am 2. Juni 1980 in Bad Godesberg, stellte sich erstmals die Frage nach einem „neu­­en Luigi Nono“. In den folgenden Jahren wurde kontrovers diskutiert, ob sich der Komponist seit dem Streichquartett grund­­legend verändert habe. Er selber hat bereits ein Jahr später von seinem Bedürfnis gesprochen, „meine ganze Arbeit und mein ganzes Dasein als Musiker heute und als Intellektueller in dieser Gesellschaft neu zu durchdenken, um neue Möglichkeiten der Erkenntnis und des Schöpferischen zu entdecken. Manche Konzepte und Ideen sind abgestanden, heute ist es unbedingt nötig, die Phantasie so weit wie möglich in den Vordergrund zu stellen.“2 Die Ergebnisse dieser Selbstinfragestellung des Komponisten kennen wir: Die nicht weniger als siebzehn Werke mit dem „Prometeo“ im Mittelpunkt, die in den ihm verbliebenen neun Lebensjahren entstanden sind.

Seit seinem Tod sind wiederum vierzehn Jahre vergangen. Nun stellt sich die Frage nach einem „neuen Luigi Nono“ allerdings in ganz anderer Weise: Wie hat sich nicht bloß das Spätwerk der achtziger Jahre, sondern wie hat sich Luigi Nonos Lebenswerk seit dem 8. Mai 1990 in unserer Sicht verändert? Auf diese ungleich umfassendere Frage sind in jüngerer Zeit ganz unterschiedliche Antworten gegeben worden. Sie lassen sich in Kürze nicht vollständig darstellen und diskutieren. Ich konzentriere mich infolgedessen auf einen Ausschnitt der jüngeren Nono-Rezeption, auf jenen Teil, der sich in Schriften in den Jahren seit 1990 niedergeschlagen hat.

Wenn wir uns rückblickend die Bibliographie des ­Nono-Schrifttums bis Ende 1989 ansehen, zeigt es sich, daß das – aufs Ganze gesehen – vergleichsweise schma­le Spektrum des über Nono Geschriebenen weitgehend die Verläufe und Schwerpunkte der gesamten Nono-Rezep­tion der fünfzig Jahre zwischen 1951 und 1990 spiegelt. Meine Nono-Bibliographie nennt von Hans Werner Henzes auf französisch erschienenem Text über die „Variazioni canoniche“ bis Ende 1989 dreihundertfünfundzwanzig Einzeltitel ganz unterschiedlicher Art und Bedeutung (bis 1975 nur neunzig Titel3). Darunter finden sich auch siebzehn, die als „akademische“ Arbeiten zu Studienabschlüssen in Musikhochschulen und Universitäten entstanden sind. Erstaunlicherweise beginnen diese 1967 mit einer „Incontri“-Analyse in einer amerikanischen Dis­sertation, erst 1975 gefolgt von einer flämischen Lizentiatsarbeit über Vokalwerke von Kagel, Berio und Nono.

Als dann Nonos Texte 1975 auf deutsch vorlagen, veränderte sich das Bild schlagartig: Die Nach-Achtundsechziger-Generation der Studenten stellte nicht bloß die Frage nach „parteilicher“ Musik (Doris Döpke, 1976), sie verband diese Frage auch mit Analysen von Nonos Werken (so bereits im selben Jahr 1976 Cristina Färber mit Analysen des „Canto sospeso“, ein Jahr später Friedrich Spangemacher in Berlin in seiner Magisterarbeit über die „Canti di vita e d’amore“). Die studentische Auseinandersetzung mit Nono erfolgte fast ausschließlich in Deutschland: Von den seit 1976 fertiggestellten Nono-Arbeiten wurden bis 1989 deren fünfzehn (von siebzehn) auf deutsch geschrieben; Carlo Paddis verfasste die einzige italienische Arbeit. Dazu kommt die wohl eigenartigste Nono-Dissertation überhaupt, Janet M. Gilberts orthodox marxistische Dissertation aus Illinois über „Intolleranza“ von 1979.

Neben diesen „akademischen“ Arbeiten gab es kaum Veröffentlichungen in Buchform: 1981 den für die deutsche Auseinandersetzung um den „neuen Nono“ allerdings zentralen Band der Musik-Konzepte und die gewichtigen Programmbücher für die Pariser (Philippe Albèra) und Turiner Konzertreihen (Enzo Restagno) von 1987 und das von Klaus Kropfinger betreute Bändchen für das Nono-Porträt der Berliner Festwochen 1988.

In den bloß zehn Jahre zwischen 1990 und Juni 2000 sind nun zweihundertsiebzig Einzeltitel über Nono erschienen. Den fünf Büchern bis 1989 stehen nun vierundvierzig gegenüber; knapp zwei Drittel davon, siebenundzwanzig, sind „akademische“ Arbeiten, dazu kommen fünf Sammelbände und weitere zwölf Bücher.

Thematisch sind diese zweihundertsiebzig Einzeltitel zu dreißig Prozent dem Stichwort „Ästhetik“ (inklusive die Frage nach „Musik und Politik“ und der Rezeption von Nonos Schaffen) zuzuordnen; ein knappes Viertel (dreiundzwanzig Prozent) sind analytische, musikzentrierte Texte. Zahlenmäßig vergleichswei­se breiten Raum – fast vierzehn Prozent – machen die Originalbeiträge für Programmhefte und Tonträger-Beilagen aus. Geringer sind – mit je neun Prozent – Texte zu den Stichworten „Biographie“ und „Dokumentation“ (Texte, Briefe, et cetera). Die Interpretation der Werke, besonders Fragen der Live-Elektronik, stehen schließlich in gut fünf Prozent der Titel im Mittelpunkt.

Wesentlich geändert – und das gleich in mehrfacher Hinsicht – hat sich seit 1990 der Anteil der „akademischen“ Schriften. Von den siebenundzwanzig Titeln sind einundzwanzig schwerpunktmäßig analytisch ausgerichtet, vier behandeln – teilweise auch analytisch – Interpreta­tionsfragen der Live-Elektronik im Spätwerk, und nur mehr zwei Arbeiten wenden sich ästhetischen Fragen im weitesten Sinne zu. Aber auch das Verhältnis der Sprachen erfuhr eine Veränderung: Die deutschen (zwanzig, also vierundsiebzig Prozent) Titel dominieren weiterhin, allerdings stehen ihnen jetzt immerhin fünf italienische und zwei französische Arbeiten gegenüber. Hier ist vor allem – nach einer bereits 1985 in Budapest erschienenen ungarischen Teilausgabe der Texte Nonos – auf die vorzügliche französische Edition aller Schriften durch Laurent Feneyrou hinzuweisen; die jetzt grundlegende zweibändige italienische Ausgabe von Angela De Benedictis und Veniero Rizzardi ist erst 2001 erschienen.4 Doch seit Janet Gilberts „Intolleranza“-Arbeit ist mir bloß eine einzige englischsprachige „akademische“ Arbeit bekannt geworden, eine analytische Dissertation aus Harvard aus dem Jahre 2003.

Hinsichtlich der Sprachen ist eine grundsätzliche Bemerkung unumgänglich; sie betrifft allerdings nicht nur Arbeiten über Nono: Die Tendenz nimmt immer mehr überhand, bloß die Sekundärliteratur in der eigenen Sprache zur Kenntnis zu nehmen. Das trifft besonders – aber durchaus nicht nur – auf das italienische Schrifttum zu. Es ist mir nicht nachvollziehbar, wie man eine monographische Arbeit über die „Canti di vita e d’amore“ schreiben kann, ohne Spangemachers Magisterarbeit auch nur in der Bibliographie anzuführen, geschweige denn, sich mit deren Ergebnissen auseinander zu setzen. Hier machen offensichtlich nicht bloß Studierende, sondern auch die Betreuer dieser Arbeiten in den Universitäten ihre Schulaufgaben nicht. Daß umgekehrt nicht-englische Texte in den USA immer weniger zur Kenntnis genommen werden, ist ebenso unverkennbar.

Bibliographien und Statistiken zeigen Tendenzen auf, sie erklären sie jedoch nicht – und genau darauf kommt es an. Alles entscheidend ist die Beurteilung der Qualität – und nicht die bloße Feststellung der Quantität.

Hier ist jedoch zunächst von einer einschneidenden Veränderung innerhalb des in einem engeren Sinne wissenschaftlichen Arbeitens über Luigi Nono zu sprechen: Das von Nuria Schönberg Nono 1993 ins Leben gerufene Archivio Luigi Nono in Venedig hat den Nachlaß des Komponisten bereits wenige Jahre nach dem Tode von Luigi Nono zugänglich gemacht. Das teilt die genannten siebenundzwanzig „akademischen“ Arbeiten in jene siebzehn, die noch ohne Kenntnis dieses Nachlasses, und hier in erster Linie der Skizzen, erarbeitet worden sind, und die zehn anderen, von denen eine ganze Reihe auch gedruckt vorliegen. Diese – wie man sie nennen könnte – Archivio-Dissertationen von – in chronologischer Reihen­folge – Lydia Jeschke (Prometeo, 1996), Wolfgang Motz („Canto sospeso“, 1996), Erika Schaller (1997 über die seriellen Werke 1955–1959), Stefan Drees (zum Spätwerk, 1998), Franziska Breuning (über Nono und Pavese, 1999), Hella Melkert (die Chorkomposition im Rahmen des „Prometeo“, 2001) und Matthias Kontarsky (2001) haben unser Bild von Nonos Schaffen weitreichend erweitert und differenziert. Das gilt etwa für Nonos Verständnis des Seriellen in Erika Schallers Buch, aber auch für die Zusammenhänge der letzten Werke untereinander bei Stefan Drees und für Franziska Breunings Arbeit. Gerade dieses Buch über die Pavese-Vertonungen ver­­mag – ohne ins Detail gehende musikalische Analysen – einen transdisziplinären literarischen und musikalischen Ansatz für ein vertieftes Werkverständnis über viele Jahre hinweg nutzbar zu machen.

Harry Vogt hat bereits 1982 angesichts des zweiten Teils von „Al gran sole“ mit den gehäuften Selbstzitaten in durchaus pointierter Form die Frage nach Kontinuität und Erneuerung innerhalb von Nonos Schaffen gestellt. Durch die Darstellung geplanter, dann aber nicht weiter verfolgter oder abgebrochener Werke sind durch Franziska Breuning neue Perspektiven und Fragestellungen herausgearbeitet worden. Der Vergleich zwischen Nonos Bühnenmusik zu Shakespeares Was ihr wollt“ von 19545 mit der elf Jahre später komponierten elektronischen Bühnenmusik zur „Ermittlung“ von Peter Weiss, die Kontarsky detailliert untersucht hat, macht – aller stilistischen und klanglichen Unterschiede zum Trotz – verblüffende Parallelen und Kontinuitäten deutlich.

Jeder Musikhistoriker, der direkt mit Originaldokumenten, und ganz besonders mit Skizzen arbeiten kann, hat erfahren, welche Faszination von solchen Dokumenten ausgeht. Hier lauern allerdings Gefahren, die es im Auge zu behalten gilt: Sinnvoll ist die Untersuchung der Skizzen in erster Linie dann, wenn man mit den abgeschlossenen Werken auch gründlich vertraut ist. Die Skizze ist etwas grundsätzlich anderes als eine Erleichterung der analytischen Arbeit. Skizzenforschung wird, gerade auch wegen dieser Faszination, leicht zum Selbstzweck, bei Beethoven im übrigen nicht anders als bei Nono. Sicher: Viele serielle Verfahren lassen sich erst durch die Kenntnis von Skizzen und Reihentabellen abgesichert nachvollziehen. Umso größer der Respekt gegenüber Arbeiten, denen das nur auf Grund der Partitur gelang. Ulrich Mosch hat – damals ohne Kenntnis der Skizzen – in seiner eben erst veröffentlichten Boulez-Dissertation6 dargestellt, wozu und vor allem wieweit der Komponist mittels serieller Verfahren ein Klangmaterial zunächst erst einmal erzeugt, mit dem er dann – in einem beinahe herkömmlichen Sinne – komponierte. Erika Schaller – und vor ihr bereits Nicolaus A. Huber und Wolfgang Motz – haben auf vergleichbare Weise erkannt, daß die Schulbuchansichten über serielles Denken und Komponieren zu keinen brauchbaren Einsichten in den Kompositionsprozeß führen. Die auflistend beschreibende „Buchhaltungsanalyse“, wie sie Boulez einmal bissig genannt hat, bleibt durchaus im Vorfeld der Komposition stecken und dringt nicht zum Substantiellen der Werke vor. Noch mehr als bei Boulez, Stockhausen oder Xenakis ist das bei Luigi Nono, einem Ausdrucksmusiker par excellence, der Fall. Die Erkenntnisse aus dem durch die Skizzen dokumentierten Entstehungsprozeß müssen letztendlich für das Verständnis der Werke fruchtbar gemacht werden und sind kein Selbstzweck. So konnte Martin Riegler am Ende seiner Arbeit aufzeigen, in welcher Weise sich der Kompositionsprozeß, sogar die Aufführungspraxis des „Musica manifesto“ durch den Umgang mit den Mauerinschriften des Pariser Mai ‘68 erheblich verändert hat. Doch bereits anläßlich seines „Diario polacco“ ‘58 schrieb Nono 1960: „Den neuen Gefühlen, Tatsachen und Empfindungen, die heute den Geist des Menschen bewegen, entsprechen notwendigerweise neue Begriffe und eine neue Verwirklichung des schöpferisch-musikalischen Akts. Natürlich fordern und verlangen sie auch eine neue Art des Hörens. Aber immer ist es für mich der Mensch allein, der jede neue menschliche Situation bestimmt, da sein Geist seine Zeit durchdringt und sie sich bewußt macht.“7 Gerade die Skizzenforschung kann und muß dazu beitragen, diese „neue Verwirklichungen des schöpferisch-musikalischen Akts“ bei Nono als ein „Zeugnis ablegen“ zu verstehen.

Das Archivio Luigi Nono ist der zentrale Arbeitsort, wenn es um die Quellen geht; darüber hinaus steht dort auch des Komponisten umfangreiche Bibliothek zur Verfügung. – Mein eigenes Luigi Nono-Archiv, das als Dauerleihgabe im Salzburger Institut für Musik- und Tanzwissenschaft öffentlich zugänglich ist, enthält dagegen die fast vollständige Sekundärliteratur über den Komponisten und eine umfangreiche Sammlung von Nonos Werken auf Tonträgern.

Die Fragen zur Skizzenforschung führen unmittelbar zu einem weiteren Thema, das sich der Nono-Bibliographie entnehmen läßt: Nicht weniger als vier „akademische“ Arbeiten, darunter drei (der fünf) italienischen, behandeln die Live-Elektronik, und zwar auffallenderweise fast ausschließlich aus technischer Perspektive. Hier lauern erneut die Gefahren der „Buchhaltungsanalyse“. Das Ineinandergreifen von Tonsatz, Klangtransformation, Räumlichkeit und Semantik bilden ein Ganzes, von dem die Live-Elektronik nicht abgetrennt werden kann. Zwischen der Art, wie einzelne ausgehaltene Töne im Streichquartett klangfarblich durch die beteiligten Instrumente differenziert werden und der späteren Verwendung der Live-Elektronik bestehen genauso enge Verbindungen wie zwischen jenen der Live-Elektronik mit den späten rein instrumentalen Werken wie beispielsweise dem von Stefan Drees minuziös analysierten „A Carlo Scarpa“.

Anläßlich des Hamburger Nono-Symposiums von 1998 ist, teils mit Verwunderung, teils mit offensichtlicher Genugtuung, festgestellt worden, daß gegenwärtig politisch-ästhetische Fragestellungen nicht mehr die Rolle spielen, die sie für Nono selbst und für seine Rezipienten seit den sechziger Jahren hatten. Nono hat im bereits zitierten Gespräch mit Garavaglio von 1981 gemeint: „Bis jetzt sind meine musikalischen Werke – im Positiven wie im Negativen – allzu schematisch-ideologisch verstanden worden, und meine [musik-]sprachlichen, stilistischen und strukturellen Anliegen sind etwas unterbewertet worden.“8 Wenn man nach­liest, wie damals häufiger mehr auf die von ihm verwendeten Texte als auf deren musikalische Umsetzung reagiert worden ist, wird man dem Komponisten recht geben. Allerdings konnte man in den letzten fünfzehn Jahren durchaus den Eindruck gewinnen, man könne sich jetzt – gar durch Nono selbst legitimiert – ausschließlich dem Musiker zuwenden. Gerade die besten Arbeiten der letzten zehn Jahre, aber auch eine so eindringliche Analyse wie jene des sechsten Satzes des „Canto sospeso“ von Nicolaus A. Huber von 1981, haben gezeigt, daß ein Luigi Nono „ohne Politik“ nicht zu haben ist. (Das läßt sich auch aus den zahlreichen und grundlegenden Texten entnehmen, die Helmut Lachenmann im Laufe der Jahre über seinen Lehrer geschrieben und veröffentlicht hat.) Die Tendenz ist unverkennbar, nach dem entsorgten „realen Sozialismus“ nun auch noch jenen Nono zu entsorgen, der Lenin-, Marx- und Gramsci-Zitate, Majakowski-, Sartre- und Lumumba-Texte verwendet hat und der in seinen verbalen Äußerungen keineswegs zimperlich gewesen ist. Doch Nono muß nicht „gerettet“ werden, vor der „Politik“ schon gar nicht. In einem bemerkenswerten, sowohl französisch wie deutsch veröffentlichten Text hat Laurent Feneyrou unter dem Titel „Ästhetik des Widerstands. Streik und bewaffneter Kampf im Werk Luigi Nonos“ die Frage nach dem „politischen Nono“ aus heutiger Sicht erneut gestellt.9 Soweit ich sehe, steht er mit dieser Fragestellung und einer Bemühung um neue Antworten allein auf weiter Flur.

„Akademische“ Arbeiten unterliegen besonderen Produktionsbedingungen. Mit Analysen der Musik ist diesen offensichtlich am ehesten zu entsprechen, insbesondere dann, wenn mit den Quellen gearbeitet wird. Aber auch Briefe sind Quellen, und viele der Briefwechsel Nonos sind hervorragende Dokumente. Von besonderer Bedeutung ist – zusammen mit dem Steinecke-Briefwechsel – die Korrespondenz mit Bruno Maderna, die dringend von einem italienischsprachigen Herausgeber vollständig ediert werden sollte. Daß Hermann Scherchens Handschrift nicht einfach zu lesen ist und die Tatsache, daß er offenbar die meisten Nono-Briefe nicht aufbewahrt hat, ist kein Grund, Zeugnisse dieser für Nono so bedeutungsvollen Vaterfigur nicht gründlich zu studieren und herauszugeben. Und wenn schon von dieser Vaterfigur gesprochen wird: Über den Luigi Nono vor 1950 wissen wir nach wie vor fast nichts. Ein dringendes Desiderat ist es, die lebenden Zeitgenossen im Sinne einer „oral history“ zu befragen und die vorhandenen Zeugnisse zu sichten. Nono war immerhin am Ende des Zweiten Weltkriegs bereits einundzwanzig Jahre alt, und er hat die Zeit nach dem Sturz Mussolinis 1943, der deutschen Besetzung Italiens und der Salò-Regierung als Gymnasiast miterlebt. Das Archivio bemüht sich auch darum.

Im weiteren sind auch kleinere Briefwechsel bedeutungsvoll, so etwa diejenigen mit Karl Amadeus Hartmann und die zahlreichen Briefe von Hans Werner Henze an Nono. Wie denn überhaupt die Verbindung zwischen Nono und Henze – auch jene zwischen Stockhausen und Nono – noch kaum ins Blickfeld geraten sind.

Mit dem Dokumentarischen ist auch das Biographische angesprochen. Genauso wie es keinen Luigi Nono „ohne Politik“, wird es auch keinen Luigi Nono „ohne Biographie“ geben können. Nun steckt die Verbindung von „Leben und Werk“, und damit die (Musik-)Biographik insgesamt seit langer Zeit in einer – häufig beklagten – Krise. Die Selbstverständlichkeit, mit der noch vor hundert Jahren Leben und Schaffen als eine Einheit gesehen wurden, ist vorbei. Die Relation zwischen den beiden Bereichen muß in jedem Falle erst erkundet werden. Für Musikerbiographien „pur“ interessiert sich heute kaum jemand, der sachlich belehrt sein möchte. Wer „Musikerbiographien“ liest, in denen das Komponierte nebensächlich ist, greift zu Mozart-, Schubert-, Chopin-, Verdi- und – vor allem – zu Wagner-Romanen, aber nicht zu Schönberg-, auch nicht zu Kurt-Weill- oder zu Alban-Berg-Biographien, nicht zu reden von einer Nono-Biographie.

Nun hat sich gerade Nono nie als ein „reiner“ Musiker verstanden; eine Trennung von „Kunst“ und „Leben“ ist angesichts seiner Werke absurd. Es stellt sich allerdings die Frage, was man, mit Blick auf Nono, unter „Leben“ verstehen will. Ich erlaube mir ein persönliches Beispiel: Für die neun Zeilen auf Seite 84 meiner kleinen rororo-Monographie über „Nono als einen ,homme à femmes‘“ (von denen ich glaubte, sie seien ein Minimum, unverzichtbar und zudem ausreichend diskret) bin ich kräftig geprügelt worden. Meinen Vorschlag jedoch, daß Nono von Anfang an ein genuiner Musikdramatiker gewesen sei, auch in seinen nichtszenischen Werken, hat niemand erwähnt, geschweige denn diskutiert. Hinsichtlich des Biographischen gibt es offenbar Tabus, die man in Zeiten des „politically – und auch erotically – correct“ nicht angehen sollte. Man muß sie aber dort angehen, wo die Einwirkung von „Biographischem“ im Werk unverkennbar ist. Was für Nono die kubanische Kultur, nicht nur Che Guevara (dessen Werke er so gründlich wie sonst nur wenige Bücher studiert hat), Fidel Castro und Carlos Franqui bedeutete, offenbart ein so sinnliches Werk wie „Y entonces comprendiò“ (1969/70) beim ersten Hören. Kuba war für Nono offensichtlich weit mehr als bloß ein ideologisches Stichwort. Umgekehrt sind etwa die Texte des „Prometeo“, aber auch viele Aussagen des Nono der achtziger Jahre mit sehr viel Bildungsgut beladen; dieses kann – muß nicht – durchaus an der Oberfläche bleiben, weil für den Komponisten vielleicht nur ein kleines Detail, ein halber Satz, eine Kapitelüberschrift in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ (und nicht der Text dieses Kapitels) von Bedeutung war. Wer alle Hinweise und Zitate etwa im Streichquartett- oder „Prometeo“-Umfeld aufdröselt, aber tendenziell einen Umweg um die Musik macht, mißversteht Nonos Schaffen in durchaus ähnlicher Weise, wie jene, die in den sechziger und siebziger Jahren mit Nono-Interviews und der Lektüre der verwendeten Texte ihr Auskommen fanden und der Musik kaum bedurften. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nicht ganz zufällig, daß bei zwei der jüngsten Inszenierungen von „Al gran sole“ am einen Ort (Hamburg) fortlaufend Texte – weit über die vertonten hinaus – auf die Bühne projiziert, am andern Ort (Stuttgart) aber kurz vor der Premiere die Übertitelungen der gesungenen Texte eliminiert wurden. Ein in dieser Hinsicht abschreckendes Beispiel ist eine Video-Produktion des „Canto sospeso“. Visualisierung von Musik ist ein besonders schwieriges Unterfangen. Wer aber den Gegensatz zwischen dem brutal realistischen Chor-Orchester-Teil VIa und dem kammermusikalisch Utopischen VIb nicht hört und zu VIb Bilder von Leichenbergen zeigt, sollte beim Dokumentarfilm bleiben. Denn Nonos Verhältnisse zu Texten sind durchaus vielschichtig; wie beredt, ja konkret seine Instrumentalmusik mitunter ist, haben beispielsweise Raphael Brunner am „Lorca-Epitaph“ und Erika Schaller am „Diario polacco“ ‘58 gezeigt.

Und wenn schon von Tabus die Rede ist: Es scheint, daß Nonos Verhältnis zu den Dissidenten, ob sie aus Kuba oder Moskau kamen, bemerkenswert „dogmatisch“ sein konnte.10 Daß seine Texte für die Parteizeitung L’Unità von deren Redaktion offenbar eingreifend redigiert worden sind, könnte im Zusammenhang einer Standortbestimmung von Nono innerhalb der Linken durchaus aufschlußreich sein.

Die Live-Elektronik war 1998 in Hamburg Gegenstand einer wichtigen Diskussion zwischen Hans Zender und André Richard. Dort ging es zwar um Aufführungen, damit aber auch um die kritischen Edition vor allem der Werke der achtziger Jahre. André Richard bestand nicht nur auf der Herstellung eines gesicherten Notentexts, sondern auch auf einer umfassenden Dokumentation der live-elektronischen Realisierungen durch den Komponisten, wie dies bei einer Reihe von kritisch edierten und durch den Verlag Ricordi veröffentlichten Werken geschehen ist. André Richard weiß genau, daß Werke nach dem Tode ihres Schöpfers sozusagen auf eigenen Beinen gehen müssen und daß letztlich alle Versuche, eine – wie Hermann Danuser es ausdrückte – „auktoriale“ Aufführungstradition festzuschreiben und diese als verbindlich zu erklären, gescheitert sind11. Dazu kommt, daß die rasanten technischen Entwicklungen im Bereich der Elektronik nicht ohne Einfluß auf die klangliche Erscheinungsform, vor allem aber auf die Realisierungsmöglichkeiten bleiben werden. André Richards Insistieren auf den Intentionen des Komponisten beruht auf konkreten Erfahrungen bei Aufführungen von Werken Nonos mit Live-Elektronik (aber auch der Werke mit Tonbändern). Es hat in den letzten Jahren mehrmals Aufführungen von Werken Nonos gegeben, die in die Nähe von Karikaturen gerieten; einige sind sogar auf CD-Einspielungen zu hören. Nun wissen wir, daß sich dasselbe auch von ungezählten herkömmlichen Aufführungen von Beethoven-Sinfonien oder Verdi-Opern sagen läßt. Besonders bei den Werken mit Live-Elektronik gibt es dafür einen ganz handfesten Grund: Wenn man sie mit irgend einem verfügbaren, preisgünstigen Equipment realisiert, geraten sie dementsprechend: zwar „preisgünstig“, aber eben auch kaum mehr erkennbar. Das Freiburger Experimentalstudio wird auf die Dauer nicht das einzige Studio bleiben, das die von Nono geforderte Live-Elektronik adäquat realisieren kann, doch seine Ausstattung, verbunden mit den jahrelangen Erfahrungen der dort Tätigen und des Studioleiters André Ri­chard, werden noch für längere Zeit unverzichtbar bleiben. Auch für die Edition der Werke Nonos sind jene philologischen und musikalischen Qualitäten zu fordern, die bei älteren Komponisten, sei es nun Bach, Mozart oder Schönberg, selbstverständlich sind. Das gilt nicht nur für die Werke mit Live-Elektronik, sondern auch für Werke mit Tonband (wie „A floresta“) oder reine Instrumental- und Vokalwerke (wie die ungekürzte Fassung der „Polifonica – Monodia – Ritmica“ oder den „Canto sospeso“12). Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß der Ricordi-Verlag bisher bereit war, in kritische Ausgaben von Luigi Nonos Werken nicht unbeträchtliche Mittel zu investieren. Man kann nur hoffen, daß die Reihe dieser kritischen Ausgaben fortgesetzt wird.13

Noch ein „neuer Nono“? – Die Antwort lautet offensichtlich zunächst einmal „Nein“. Und gleichwohl hat sich das vielfältige Bild von Luigi Nono seit seinem Tod erheblich verändert, eher sukzessive, in einer langen Folge von zahlreichen kleinen Schritten – in durchaus verschiedene Richtungen. Ob weitere derartige Schritte, zusammen mit vertieften und differenzierten Kenntnissen über sein Leben, sein Schaffen und seine Wirkung, schließlich zu einem anderen, einem wirklich „neuen“ Bild des Komponisten führen werden, dürfen wir getrost der Zukunft überlassen.

1Der vorliegende Text ist ursprünglich im Jahre 2000 für ein Salzburger Nono-Symposium entstanden. Seither sind wichtige weitere Arbeiten über Nono abgeschlossen und veröffentlicht worden, die hier nur teilweise genannt werden. – Meine vollständige Nono-Bibliographie wird in nächster Zeit in der neuen Reihe des Salzburger Instituts für Musik- und Tanzwissenschaft „Salzburger Stier“ im Druck erscheinen: Luigi Nono – Werkverzeichnis, Bibliographie seiner Schriften und der Sekundärliteratrur, Diskographie.

2Gespräch mit Roberto Garavaglia, in: L’Uni­tà 58 (1981), Nummer 125 vom 29. Mai, deutsch von Catherine Stenzl, in: Schweizerische Musikzeitung 121 (1981), 310.

3Diese sind aufgeführt in der Bibliographie, in: Luigi Nono. Texte. Studien über seine Musik, herausgegeben von Jürg Stenzl, Zürich: Atlantis, 1975, 449–455.

4Matteo Nanni, „Ein hörender Musiker. Luigi Nonos Schriften und Gespräche“, in: Musik & Ästhetik 8 (2004), Heft 30, 102–106

5Diese Bühnenmusik ist in einer Salzburger Arbeit von Sandra Schwaighofer rekon­struiert worden und soll in nächster Zeit im Rahmen der in Anmerkung 1 genannten Schriftenreihe veröffentlicht werden.

6Ulrich Mosch, Musikalisches Hören serieller Musik. Untersuchungen am Beispiel von Pierre Boulez‘ „Le Marteau sans maître“, Saarbrücken: Pfau, 2004.

7Luigi Nono, „Diario polacco ‘58 (1959)“, Text von 1960, abgedruckt in Luigi Nono, Texte. Studien zu seiner Musik, herausgeben von Jürg Stenzl, Zürich: Atlantis 1975, 123.

8Am angegebenen Ort, wie Anmerkung 1.

9dissonance numéro 60 (mai 1999), 4–11; deutsch in dissonanz Nummer 60 (Mai 1999), 4–11.

10Das war im Falle des kubanischen Dichters und Dissidenten Heberto Padilla der Grund, wieso Henze mit Nono brach, „wortlos den [Telefon]Hörer aufgelegt“ hat.

11Hermann Danuser, „Auktoriale Aufführungstradition“ in Kongreß-Bericht IMS Bologna 1987, Band 3: Free Papers, Torino 1988, 331–343.

12Die auch in der Edition Eulenburg vorliegt.

13Seit der Übernahme des Verlags Ricordi durch einen „global player“ deutscher Herkunft scheint dies nicht mehr gesichert.