MusikTexte 105 – Mai 2005, 93

Im Chor der Neo-Melodiker

Vier Konzerte im „Forum neuer Musik“ des Deutschlandfunk Köln

von Rainer Nonnenmann

Während viele Avantgarde-Festivals großen Zulauf finden, versucht man andernorts schwindendem Publikumsinteresse und stilistischen Verhärtungen mit Sparten übergreifenden Programmen, multimedialen Inszenierungen und Ausflügen in die Popkultur zu begegnen, um auch jüngere Hörerschichten außerhalb der en­gen Avantgardezirkel anzusprechen. Dieses Anliegen verfolgt auch Frank Kämpfer, der im vierten Jahr das Ressort neue Musik im Deutschlandfunk Köln verantwortet, mit dem jährlich im März stattfindenden „Forum neuer Musik“.

Sidney Corbett ist einer von vielen Komponisten im Chor der Neo-Melodiker, der sich in der Nachfolge der „Melodien“ für Orchester 1971 seines Lehrers György Ligeti um eine Erneuerung dieser ebenso elementaren wie kunstvollen Gestaltungsform bemüht. Auf seiner erklärten Suche nach der Essenz dessen, „was Musik ist und sein kann“, wird er ausgerechnet da fündig, wo andere nach wie vor den Ausbund musikalischer Reaktion wittern. Trotz erklärter Offenheit für sämtliche Stile und Epochen bewegen sich seine „Stimmen der Wände“ in den engen Grenzen choralartiger Unisono-Melodien, die sich zu süßer Terzenseligkeit und Mehrstimmigkeit verzweigen. Die solistisch besetzte E-Gitarre ist dabei auf traditionelle Spielweisen beschränkt und wird lediglich leicht verstärkt. In seinem viersätzigen „Electric Guitar Concerto“ läßt der 1960 geborene Amerikaner etwas von seiner frühen Prägung durch den innovativsten Rock- und Experimentalgitarristen der Musikgeschichte Jimi Hendrix erkennen. Eine wilde Tarantella gegenläufiger Ostinati beschwört zumindest von fern die mit dem Instrument verknüpfte Jugendrevolte gegen die verkrustete Bürgergesellschaft von Eltern, Onkeln, Tanten. Und in einem von spinnwebfeinen Tönen gesponnenen Gedächtnisraum in memoriam des 2002 verstorbenen Freundes und Kollegen Mark Osborn beginnt das Soloinstrument unter den einfühlsamen Händen von Seth Josel mit fein ausziselierten erweiterten Spiel- und Klangmöglichkeiten eigenwillig fremd zu singen. Das Ensemble musikFabrik unter der präzisen Leitung von Johannes Debus hatte indes mit Intonationsschwierigkeiten zu kämpfen.

Das zweite Porträt galt Iris ter Schiphorst, die lange Zeit mit Helmut Oehring zusammen arbeitete, in mehreren Rockbands spielt und bekennt, sie schreibe im weitesten Sinne immer Lieder und Melodien. In „aus kindertagen: verloren“ demonstriert sie anhand von Liedern und Kinderversen die bekannte Einsicht, daß Musik immer kontextualisiert, mit Erinnerungen verbunden und assoziativ wahr­genommen wird. Dank der Besetzung mit Klavier, Streichsextett und E-Gitarre spielt sie mit Anklängen an Klassik, Romantik und Rockmusik sowie der Aura von über Tonband zugesprochenen Kinderreimen, die mit den Jahren offensichtlich Blessuren davon getragen haben: „ri ra rutsch, die Kindheit die ist futsch“. Wie auf dem Puppentheater ihrer Kindheit reiht die 1956 geborene Hamburgerin wechselnde Energiezustände, insistierende Ostinati und leise Klangflächen wie zufällige Erinnerungsbrocken aneinander, so daß eine anekdotische Folge von „short cuts“ oder – wie man früher sagte – ein Potpourri entsteht, dessen demolierte Verse und Textfragmente über das Altern sich in der Grauzone zwischen Sentimentalität und Erbitterung bewegen. Ein minutenlang flatternder Ton durchzieht gleichsam als Phantomschmerz der verlorenen Kindheit, Unschuld, Geborgenheit das Stück, dessen aufdringlicher Botschaft umso feiner austarierte Zuspielungen und gut ausgehörte Instrumentalaktionen des Chemnitzer „Ensemble 01“ entgegenstehen.

Vielstimmiger geriet „Jugend. Volume I: Freud“ des – mit vierzig Jahren nicht mehr eben jugendlichen – Frankfurter Künstlerquartetts Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn, das sich – in Fortsetzung der Arbeiten von Heiner Goebbels – seit Mitte der neunziger Jahre dem Remix von Brecht/Eisler, Karl Marx und jetzt einem „Electric Music Theater“ zur Psychoanalyse widmet. Nach dem Vorbild von Sigmund Freuds Sprache des Unbewußten improvisieren sie aus einem reichen Fundus an Texten, Büchern, Briefzitaten, Träumen, Noten, Overhead-Folien, Samples, CD-, Computer- und Synthesizerklängen. Durch verschiedene Präsentationsformen, Vorträge, Rezitationen, Folienprojektionen, Musik von Schubert, Mahler, Wagner und deutsche Schlager entsteht eine surrealistische Kolportage ambivalenter Situationen zwischen Konzert, Talentprobe, Assessment-Center, Fachkonferenz, Lebenshilfegruppe und Therapiestunde. Trotz offenem Verlauf und heterogenem Material schält sich während fünfundsiebzig Minuten eine erstaunlich ausgewogene Dramaturgie von Steigerungs- und Entspannungsphasen heraus und fügt sich bei perfekt abgemischter Elektronik, die selbst leiseste Zuspielungen mit größter Deutlichkeit erkennen läßt, die exaltierte Deklamation von Goethes „Erlkönig“ nach und nach zu Schuberts berühmter Ballade.

Ein spätabendliches Klavier-Recital präsentierte den jungen niederländischen Pianisten Ralph von Raat, Jahrgang 1978 und Schüler von Pierre-Laurent Aimard in Köln, der das eineinhalbstündige Programm auswendig spielte. So treffsicher er auf den Tasten auch agierte, so bewies er und der für den DLF tätige Michael Arntz bei der Auswahl der Stücke doch eine eher unglückliche Hand. Statt der viel beschworenen stilistischen Offenheit der zeitgenössischen niederländischen Mu­sik waren mit Ausnahme der spröden Zwölftonexpressivität des kürzlich verstorbenen Jan Rokus van Roosendael und der fulminanten Rhythmusstudie „Trepidus“ von Louis Andriessen vor allem pianistische Allerweltsphrasen zwischen hartem Tastengehämmer, watteweichem Plüsch und zuckersüßem Konfekt zu hören. Die Stücke von Peter Schat und Bart Spaan lavierten zwischen repetitivem Minimalimus und pseudo-chopinesken Noc­turnes, Joep Franssens eiferte Keith Jarrett nach und Andriessen huldigte in seinem „Lied“ dem seligen Schnulzenheini Ri­chard Kleidermann. Von Ironie bei all dem keine Spur. Was nützt ein guterS Pianist, der schlechte Musik spielt?

Der Anspruch, neue Musik definiere sich durch das „Verlassen überlebter Kriterien und Kategorien“, wie Frank Kämpfer unterstrich, erwies sich für dieses „Forum neuer Musik“ insgesamt als zu hoch gesteckt. Auch das Anliegen, junges und anderes Publikum zu finden, erfüllte sich nicht. Die beim Eröffnungskonzert versammelte Schulklasse ließ sich bei den anschließenden Konzerten nicht mehr blicken. Liegt die Zukunft der neuen Musik in der alten? Geht die Suche vielleicht in die falsche Richtung?