MusikTexte 106 – August 2005, 50–52

„Lascia o Raddoppia?“

John Cage im Fernsehquiz der RAI

von Harald Muenz

„Lascia o Raddoppia?“ war eine Institution des italienischen Fernsehens (RAI), die ab dem 19. November 1955 bis 1959 ausgestrahlt wurde. Diese erste große Quizshow Italiens ging auf das amerikanische Vorbild „The 64,000 Dollar Question“ zurück, das bereits vom britischen Sender ITV als „Double your money“ übernommen worden war. Das Konzept geriet auch in Italien zum ungeheuren Erfolg. Einzelne Kandidaten wurden über mehrere Wochen hinweg zu einem selbstgewählten Fachgebiet befragt. Von 40.000 Lire Anfangseinsatz ausgehend konnte ein Proband seine Gewinnsumme durch Verdoppeln bis auf maximal 5.120.000 Lire erhöhen. Der Moderator stellte den Kandidaten dabei jedesmal vor die Entscheidung „Lascia o Raddoppia?“, zu deutsch etwa „Hören Sie auf oder verdoppeln Sie?“

Den Moderator der Sendung, Mike Bongiorno, kann man mit Fug und Recht als ein Urgestein des italienischen Fernsehens bezeichnen. 1924 in New York als Sohn eines italo-amerikanischen Vaters und einer Turiner Mutter geboren, kam er jung nach Italien, wo er sich der Resistenza anschloß. Er wurde von den Nazis verhaftet und entging dem Tod im Konzentrationslager dank eines Gefangenenaustauschs zwischen den USA und Deutschland. Nach Moderationserfahrungen im US-amerikanischen Hörfunk kehrte er 1953 nach Italien zurück. Dort moderierte er bereits am 3. Januar 1954, als das italienische Fernsehen zum ersten Mal auf Sendung ging, und steht bis heute (2005) regelmäßig vor der Kamera. 1956 spielte Bongiorno in dem berühmt gewordenen Streifen „Totò lascia o raddoppia?“ sich selbst. Umberto Eco entwarf 1961 in „Fenomenologia di Mike Bongiorno“ ein Profil des TV-Stars. 1977 lernte Bongiorno Silvio Berlusconi kennen und wurde so auch beim italienischen Privatfernsehen zum Mann der ersten Stunde. Er kannte die Allianz von Medien und Marktwirtschaft bereits aus den USA und war in Italien der erste, der in seinen Sendungen auf TeleMilano (heute Canale 5) Sponsoren einführte. Über seinen Arbeitgeber Berlusconi äußerte er 1992: „Wenn er in Amerika geboren wäre, könnte er sogar Präsident werden.“ Der italienische Staatspräsident Ciampi verlieh Bongiorno 2004 den Großen Verdienstorden der Republik.

Die fünf legendären Folgen von „Lascia o Raddoppia?“, in denen sich John Cage zum Thema Mykologie befragen ließ, müssen um die Jahreswende 1958/59 stattgefunden haben. In dieser Zeit arbeitete Cage auf Einladung von Bruno Maderna und Luciano Berio im Mailänder Studio di Fonologia der RAI an „Fontana Mix“. Berio soll Cage für den Fernsehauftritt sein geflicktes Jackett geliehen haben. Sylvano Bussotti äußerte in einem Interview, er habe die ganze „Lascia o raddoppia?“-Geschichte Tag für Tag miterlebt, denn Cage habe sich von seiner Tante, der Schwester des bildenden Künstlers Antonio („Tono“) Zancanaro, lateinische Pilznamen abhören lassen.1

Cage hatte in den Quizsendungen auch Gelegenheit, eigene Kompositionen vorzustellen. So spielte er in der ersten Folge die Teile I und IV, die Soli für präpariertes Kla­vier, aus „Amores“, in der zweiten und dritten Woche folg­ten die Uraufführungen der auf „Fontana Mix“ beruhenden Kompositionen „Water Walk“ und „Sounds of Venice“.

Der hier transkribierte Dialog stammt aus dem fünften und letzten Fernsehauftritt, der im Januar 1959 in einem Mailänder RAI-Studio über die Bühne ging. Cage gewann in dieser Sendung die maximal erreichbare Gewinnsumme von umgerechnet circa 8000$. Davon blieben ihm nach dem Umtausch etwa 6000$ übrig, mit denen er nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten der Merce Cunningham Dance Company für 2336$ einen VW-Bus und sich selbst einen Steinway-Flügel für 2000$ kaufte.

Laut David Revill2 bediente sich Cage in den Sendungen eines Dolmetschers. Dann wäre allerdings fraglich, warum die italienische Transkription dennoch Passagen auf Englisch enthält. Der hier zugrundeliegende italienische Text folgt dem Abdruck in Bigazzi3, der die Transkription von Bertocci4 verwendet. In der deutschen Übersetzung wurde versucht, an Punkten, an denen Cages Italienisch fehlerhaft ist, ein deutsches Äquivalent zu finden. Die Schreibweise der lateinischen Pilznamen wurde mit Hilfe botanischer Pilzführer rektifiziert. Im Original englische Textstellen blieben unübersetzt.

„Il Profeta e Il Burattinaio“5

Guten Abend, Herr Cage, wie geht’s Ihnen?

Ganz gut.

Also, ich war gerade dabei, unseren Zuschauern zu erklären, daß die Person, die gerade aufgegeben hat, ganz und gar vernünftig ist, weil sie aufgegeben hat, denn sonst spielen immer alle um die fünf Millionen; deshalb wollte ich wissen, ob Sie auch so vernünftig sind, das heißt, ob auch Sie sich zum Aufgeben entschlossen haben, oder ob Sie um die fünf Millionen spielen möchten.

Ich verdopple.

Sie verdoppeln?

Ja.

Aha, na gut. Und das, nachdem ich diesen Vortrag gehalten habe, um ihn zu überzeugen! (lacht, Beifall des Publikums) Aha, na gut, sie verdoppeln. Aber hören Sie, ist Ihnen klar, daß, wenn Sie jetzt verlieren, Sie mit recht wenig dasitzen und den Trostpreis bekommen, der Tausendundvier, der einer Million vierhunderttausend entspricht?

Ganz gut.

Gut so? Eine Million vierhunderttausend reicht Ihnen?

Ja, das ist viel.

Das ist viel? Es sind zweitausend Dollar, two thousand dollars.

Sehr, sehr gut.

Sehr gut, two thousand dollars, Ihnen reichen zweitausend Dollar?

Ja, in Amerika gibt es a talent check, Guggenheim talent check ...

In Amerika gibt es ein Stipendium, das Guggenheim ...

Two thousand dollars.

... beträgt zweitausend Dollar, das Stipendium. Wenn Sie also verlieren, gewinnen Sie ohnehin denselben Betrag, und wenn Sie aber gewinnen? Fünf Millionen sind achttausend Dollar.

Besser.

Das ist noch besser! Tja, ich weiß. Klar, wenn Sie jedoch verlieren, sind es zwei, aber wenn Sie aufgeben, dann sind es zweieinhalb.

Ja, aber es ist different zwischen acht und zwei.

Wie, es ist different zwischen acht und zwei?

Two thousand...

... ich verstehe, es ist besser acht zu haben, es ist viel besser acht zu haben als zwei. Klar, Sie wollen es also versuchen. Mit diesen Zahlenspielen hier verlieren wir uns bloß in Kabale und Lottozahlen, klar. Also, Herr Cage, trauen Sie sich zu, in die Kabine zu gehen und zu verdoppeln, klar? Also, Sie dürfen sich den Umschlag nicht aussuchen, setzen Sie sich dorthin, und wir schauen mal, wie’s ausgeht, oder? Nehmen Sie es hinterher nicht so tragisch, wenn Sie zufälligerweise durchfallen, hä! Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen aufgeben.

(Geräusche von Schritten und Eintreten in die Kabine)

Also, Herr Cage, auch diesmal haben wir die Fragen ins Englische übersetzt, ich lasse Ihnen einen Umschlag mit der Übersetzung geben, dann können Sie da drinnen lesen, hä! Tja, ich kann mir vorstellen, daß Sie heute viel aufgeregter sind als an den vorigen Abenden. (Geräusch vom Aufreißen des Umschlags) Ich sehe, daß er ganz verschwitzt ist, er hat ein ganz verschwitztes Gesicht. Trocknen Sie sich ab, Herr Cage. Also, wir zeigen Ihnen Dia Nummer eins – Dia Nummer eins – da auf dem Schirm ist es. Wir zeigen Ihnen als Dia, Herr Cage, die Systematik der Po-ly-po-ra-ze-en, die wir aus dem Buch von Atkinson6 abphotographiert haben. In der Systematik sind bei den Buchstaben A, B, C und D vier Gattungsbezeichnungen entfernt worden. Ergänzen Sie die in dieser Systematik fehlenden Bezeichnungen. Die hier ist wirklich fünf Millionen wert, man muß sie zweimal durchlesen, bis man versteht, worum es geht; ergänzen Sie die in dieser Systematik fehlenden Bezeichnungen. Also: neunzig Sekunden, ninety seconds, alles angekommen?

(Das Ticktack fängt an.)

For A: Fistulina.

A: Fistulina. Richtig!

For B: Polyporu[s].

Für B: Polyporus, richtig.

For C: Boletus.

Für C: Boletus.

Cage: For D: Boletinus.

Boletinus, ganz ausgezeichnet. Herr Cage, die Herausforderung geht also weiter. Kommen wir zur zweiten Frage. Bringt Herrn Cage bitte die Übersetzung der nächsten Frage. War’s schwer? Was it difficult?

A little.

A little, ein kleines bißchen, klar. Dia Nummer zwei. Achtung, dieses Mal zeigen wir Ihnen das Foto eines Pilzes, der in der Natur und auch auf dem Foto einen schwarzen Stiel hat. Sie sollen uns nennen: den wissenschaftlichen Namen, die Farbe der Sporen, die Form der Sporen, die Länge der Sporen in Mikron, die Breite der Sporen in Mikron. Konzentrieren Sie sich gut, Herr Cage.

The name of mushroom is Bacillus, Bacillus Acrotomentosis.

Bacillus Acrotomentosis ist der wissenschaftliche Name, richtig. Die Farbe der Sporen?

Äh, yellow.

Die Farbe der Sporen ist gelb, das ist richtig, die Farbe, jetzt die Form der Sporen?

Oval.

Oval, richtig. Die Länge der Sporen in Mikron?

Four to six micron.

Zwischen vier und sechs Mikron, das ist richtig. Die Breite dieser Sporen in Mikron?

Three to four.

Zwischen drei und vier, ganz ausgezeichnet, John. (Applaus)

Dritte Frage, dritte und letzte Frage; au weia, Herr Cage, wenn Sie bisher schon geschwitzt haben, dann werden Sie gleich noch mehr schwitzen, wenn Sie die dritte und letzte Frage um Ihre fünf Millionen hören. Achtung, Herr Cage: sagen Sie uns die Namen der vierundzwanzig diagarischen Gattungen mit weißen Sporen, die bei Atkinson aufgezählt werden, die Namen der vierundzwanzig diagarischen Gattungen mit weißen Sporen, die bei Atkinson aufgezählt werden.

I can enumerate the alphabetic list.

Wie bitte?

I can enumerate the alphabetic list.

Herr Cage sagt, daß er uns die ganze Liste in alphabetischer Reihenfolge sagen, geben kann.

Okay alphabetisch.

(Das Ticktack der Stoppuhr fängt wieder an. Bongiorno zählt Cages Auflistung mit.)

Eins, weiter, Amanita gut, Amanitassis drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun ... ganz ausgezeichnet bestanden. (Musik und Applaus)

Ganz ausgezeichnet, bravo bravo bravo bravo. Bravo bravissimo, bravo, Cage. Tja, Herr Cage hat uns ohne Zweifel bewiesen, daß er was von Pilzen versteht, denn bei den Fragen, die wir ihm heute abend gestellt haben, gab es wirklich Grund zu schwitzen. Er ist also nicht bloß so ein Typ, der hier auf die Bühne gekommen ist, um mehr oder weniger schräge Darbietungen vollkommen schräger Musik zu geben, sondern er hat wirklich etwas auf dem Kasten. Ich wußte das, denn ich erinnere mich, Herr Cage hatte uns gesagt, daß er in den Wäldchen in der Umgebung von New York gelebt hat und jeden Tag Pilze sammeln gegangen ist, jetzt wissen wir also, wo er sein Fachgebiet gelernt hat.

Ein Dank an ... Pilze, und Dank an die RAI, und Dank alle Leute in Italien.

Allen Leuten in Italien. (Applaus)

Bravo, Herr Cage, auf Wiedersehen und gute Reise, gehen Sie jetzt nach Amerika zurück oder bleiben Sie hier? Do you back to United States or you stay here?

... aha! Sie kommen auch wieder zurück, ich verstehe.

... meine Musik bleibt.

Aha, Sie gehen weg und Ihre Musik bleibt hier, es wäre aber besser, wenn Ihre Musik wegginge und Sie hierblieben. (Gelächter und Applaus)

Auf Wiedersehen, Herr Cage, auf Wiedersehen und allen viel Glück bei Lascia e [sic] Raddoppia.

1Sandro Ricaldone, Intervista a Sylvano Bussotti (31/10/1998) auf http://www.geocities.com/Paris/Rue/4853/busint.html

2David Revill, The Roaring Silence. John Cage: A Life. London: Bloomsbury Publishing Ltd., 1992.

3Giampiero Bigazzi (Herausgeber), Sonderheft John Cage in der Reihe Sonora. Itinerari oltre il suono, San Giovanni Valdarno: Materiali Sonori Edizioni Musicali snc, ohne Jahr [1993].

4John Cage und Mike Bongiorno. Il Profeta e Il Burattinaio (Transkription von Carlo Bertocci) in Gong Nr. 10, Oktober 1975. Neudruck als „Lascia o raddoppia la sua musica strambissima?” in Franco Mogni (Herausgeber), Dopo di me il silenzio (?): conversazione con Luciano Martinengo, intervista con Luca Torrealta e Toni Verità, voci fuori campo Octavio Paz [et al.]. Milano: Emme Edizioni, 1978, 51–55. Weiterer Nachdruck als „Mike & John: lascia o raddoppia?” in: Giampiero Bigazzi, am angegebenen Ort, 94–95.

5Bigazzi zitiert Bertocci, der zum Titel „Il Profeta e Il Burattinaio“ wie folgt Stellung nimmt: „Durch die Transkription gehen selbstverständlich alle expressiven Besonderheiten des Klangstücks verloren, dessen Interpreten die Persönlichkeiten John Cage und Mike Bongiorno sind. Jeder steht für seine außergewöhnliche und gegensätzliche Charakteristik; einerseits der Musiker und Avantgardekünstler, der zusammen mit seiner unverstandenen Musik seine gleichwohl beachtliche Begabung im Auswendiglernen vorführt, und andererseits der Marionettenspieler [„il burattinaio“] der Massenmedien, der sich nicht dessen bewußt ist, daß es sich bei der Marionette um ein Genie handelt, sehr wohl aber der Reduktion und Banalisierung, die auf jeden x-beliebigen menschlichen Probanden anzuwenden ist“ (Bertocci, zitiert nach Bigazzi, am angegebenen Ort, 93).

6George Francis Atkinson, Studies of American fungi. Mush­rooms, edible, poisonous. New York: Andrus & Church, 1900.