MusikTexte 107 – November 2005, 73–74

Die wahre oder unwahre Geschichte des „Cahier du Soir“

Folge von zwanzig Stücken für vierzehn Instrumente, eine Schaupielerin und Dias (1991–1992)

von Luc Ferrari

Ein verworreneres Abenteuer als jenes von „Cahier du Soir“ läßt sich kaum träumen. Hier ist seine Geschichte:

Eines Tages kam einem ganz einfältigen Komponisten der Gedanke, einen normalen Abend mit musikalischen Mitteln zu schildern: zwanzig Musikstücke als Porträts vorbeiziehender Gefühle. In diesem Fall erleben eine Frau und ein Mann den Abend wie ein Ritual, ohne sich darum zu kümmern, ob die ausgetauschten Worte, Gesten, Eindrücke banal oder außergewöhnlich sind, weil das steht nicht in Frage steht. Es geht darum, daß all dies an einem Abend vorkommen mag, und daß es im Leben nichts Außergewöhnliches gibt, das nicht zugleich banal wäre.

Somit ist der Alltag aufgeworfen. Der Komponist dieses Alltags bin ich. Ich bin ein erzählender Komponist. Und könnte ich mir ein Etikett aussuchen, so wäre es dieses, weil dieser Begriff mein gesamtes Leben als Komponist, Autor, Regisseur und auf unterschiedliche Weise Schaffender begleitet.

Das erste Abenteuer verlief so:

Mein Gedanke war, diese Komposition von einem Schriftsteller erzählen zu lassen, weil sie sich wie eine Geschichte darstellt. Dieser sollte Dialoge zwischen die einzelnen Musikstücke einfügen. Ein Dialog zwischen einer Frau und einem Mann, alles, was man sich an Intelligentem, an Unsinnigem, an Erinnerungen, Anekdoten und Erklärungen im Laufe eines Abends sagen mag. Das war mein Grundentwurf. Und der Entwurf beinhaltete eine Spielregel, nämlich, daß Musik und Text gleichzeitig entstehen.

Und so verging die Zeit, die Texte kamen nicht, und ich war beinahe fertig, während der Schriftsteller noch nicht einmal begonnen hatte. Ich sagte ihm: Na und? – Er sagte mir: Ja, das stimmt. – Ich sagte ihm: Aber ich bin fast ­fertig. – Du machst zu schnell, sagte er mir. – Ich antwortete ihm: Ich habe Eile. – Warte, sagte er mir. – Ich sagte ihm: Ich kann nicht warten.

So endete unsere Zusammenarbeit. Das ist eine wahre Geschichte ... oder so gut wie wahr!

Und dann saß ich da mit einer Partitur von hundertdreiundsechzig Seiten, fünfzig Minuten narrativer Musik, die ich durch den Text bestätigen wollte.

Ich frage mich noch heute, ob die Idee gut war, und dennoch bin ich mir dessen sicher.

Das zweite Abenteuer ist ein ganz anderes, doch ebenso kompliziert.

Ich war, und bin es auch jetzt noch, befreundet mit einer Gruppe von Instrumentalisten, die sich zusammengetan hatten, um einige meiner Partituren von Grund auf zu erarbeiten. An sie dachte ich, als ich „Cahier du Soir“ zu komponieren begann.

Sie hatten sich also zu einem Ensemble zusammengetan, aber es ergab sich, daß die hervorragenden Köpfe dieser Vereinigung sich zu streiten begannen, und das zwei Jahre lang. Währenddessen wußte ich nicht mehr, an wen ich mich wenden sollte, und wie und warum die Dinge so verliefen. Zwei Jahre, in deren Verlauf die Produktion dieses Vorhabens, die schon als solche nicht so einfach war, immer schwieriger wurde.

Produktion, sage ich, und damit beginnt schon das dritte Abenteuer.

Die Produktion, so idiotisch es ist, das zu sagen, berührt die Intimität, und zwar so sehr, daß ich es nach allen Überlegungen oder Nicht-Überlegungen und allen verschütteten Intuitionen vorziehe, nicht darüber zu sprechen. Dennoch reizt es mich, denn es ist, symbolisch gesehen, sehr aufschlußreich und eben voller Symbole. Aber gut, darüber schreibe ich nicht.

Dagegen will ich das vierte Abenteuer erzählen.

Die Abenteuer sind wie überlagerte Schichten oder Decken im Winter, wenn es sehr kalt ist. Sie folgen nicht aufeinander. Zum Glück, denn sonst wären schon zehn Jahre verflossen. Eines Tages sagten der Dirigent und ich uns: Beauftragen wir sowohl einen Regisseur als auch einen Autor, ich kenne da gerade einen, ich auch, sagten wir uns, es ist Der-und-der. Wir sprechen sie also an, sie sind begeistert vom Projekt, und wir fangen an, die einzelnen Schritte der Realisation zu besprechen.

Nun aber beginnt derjenige, der schreiben sollte, zu bummeln, und ein Jahr später, nach rastlosem, der Vorgeschichte der Kommunikationsgesellschaft würdigem telephonischen Suchen und Versuchen, war noch nicht ein Wort geschrieben.

Erst anläßlich eines Abendessen bei mir zu Hause, nach beträchtlichem Alkoholkonsum, tut uns der vermeintliche Autor kund, daß die beiden Kumpane nach zehnjähriger gemeinsamer Arbeit im Begriff sind, sich voneinander zu trennen! Was für ein Pech! Schon seit zehn Jahren wollte ich mit ihnen arbeiten, und gerade in dem Augenblick, in dem ich mir sagte, es läßt sich gut an, läßt es sich aufs Schlechteste an. Warum passiert das gerade mir, und ich würde sagen, wenn ich mich gehen lasse, wird diese Partitur vom Schicksal getroffen. Aber zum Glück lasse ich mich nicht gehen.

Das fünfte Abenteuer ist vorläufig das letzte, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Eines Tages sagte ich mir beim Erwachen: Wie dumm ich doch bin! Und so war plötzlich alles gelöst.

Während des Komponierens hatte ich zwischen die Stücke Texte notiert, Überlegungen, Briefe, Erinnerungen, Erläuterungen, für die Musiker, Etceteras, und ich hatte all das in der Partitur gelassen, es war so Teil von ihr geworden, daß ich es vergessen hatte.

Und eines Morgens sagte ich mir: Wie dumm ich doch bin, gerade das brauche ich. Ich sagte mir: Diese Texte erklären alles, sie erklären die Musik, sie erklären den Zeitgeist, sie erklären die Gefühle, die vorbeiziehen, sie erklären die Ungewißheit, sie erklären. In der Tat.

Und ich sagte mir: Wie dumm ich doch bin, man sollte sie lesen, denn so erhalten wir eine Folge von Text und Musik, die in einer wunderbaren, beinahe einwandfreien Redundanz das gleiche aussagen.

Nun ist das hinsichtlich von Musik und Text geglückt, nicht aber im Sinn von Theater, Wort und Musik, nicht aber Oratorium. Diese verwenden Elektrizität, aber nicht Technologie, sie verwenden Bilder, aber nicht Multimedia ... vielleicht schon wieder eine Sache, die in keine Kategorie paßt und dennoch völlig normal ist. Narrativ.

Und eines Morgens sagte ich mir: Wie dumm ich doch bin, ich bin ein narrativer Komponist, das muß man einsehen. Ich suchte gerade nach einem Etikett, hier hatte ich es, und das erleichtert mir mein ganzes Leben. Jetzt werde ich ruhiger sein, friedlicher, ich werde der Verbitterung von oben herab ins Auge schauen.

Sollten hier die Abenteuer ein Ende haben, kann man „Cahier du Soir“ als Lektüre der Partitur betrachten, als Lektüre eines Abenteuers, nämlich jenes dieser Partitur.

Verkürzt habe ich diese Geschichte so erzählt, wie ich sie erlebt habe.

Aber ist das wohl die wahre Geschichte?

Erstabdruck in französischer Sprache in: Jacqueline Caux, Presque rien avec Luc Ferrari, Paris: Éditions Main d’Œuvre, 2002, übersetzt von Brunhild Meyer-Ferrari