MusikTexte 107 – November 2005, 99

Gespenstische Autodämmerung

George Brechts „Motor Vehicle Sundown“ auf dem Kölner Roncalli-Platz

von Rainer Nonnenmann

George Brecht, 1926 in New York als George MacDiarmid geboren, studierte zunächst Chemie und entwickelte Tampons für ein Pharmaunternehmen. Daneben beschäftigt er sich mit dem Zufall in der Kunst und nahm 1958/59 an den Kursen von John Cage an der New School for Social Reserch in New York teil. Cages Konzept des „Found Sound“, des immer und überall in der Welt anzutreffenden Klangs, beeinflußte maßgeblich seine Entwicklung von „Event“-Partituren, mit denen er die Aufmerksamkeit des Publikums für alltägliche Dinge und Ereignisse sensibilisieren wollte. Brecht begann knappe Wortanweisungen für die Ausführung bestimmter Aktionen oder zur Zusammenstellung von Objekten zu notieren: etwa „Drip Music“ und „Water Yam“, 1962 vom Initiator der Fluxus-Bewegung George Maciunas in Düsseldorf präsentiert. Nach Aufführungen bei den „Internationalen Fluxus-Festspielen Neuester Musik“ 1962 in Wiesbaden, wo Maciunas als Gebrauchsgraphiker für die US-Streitkräfte arbeitete, gehörte Brecht zum festen Kreis der internationalen Happening- und Fluxus-Szene, die in Europa neben Kopenhagen, London, Paris und Wien vor allem in Düsseldorf und Köln zusammentraf. Im Rheinland wirkten Nam June Paik, John Cage, Joseph Beuys, Wolf Vostell, am Rande auch Mauricio Kagel und Karlheinz Stockhausen. Über Rom, London und Düsseldorf kam schließlich auch Brecht nach Köln, wo er seit 1972 zurückgezogen lebt.

Nachdem das Kölner Museum Ludwig bereits 1992 eine große Fluxus-Ausstellung zusammengestellt hatte, zeigte es zum bevorstehenden achtzigsten Geburtstag des Künstlers die Ausstellung „George Brecht. Events – Eine Heterospektive“. Anläßlich der Eröffnung der Ausstellung organisierte das Museum eine Aufführung von Brechts „Motor Vehicle Sundown“. Das 1960 konzipierte und Cage gewidmete Freiluft-„Event“ versammelt im Halbkreis zwanzig motorisierte Fahrzeuge, Oldtimer, Militärjeeps, Limousinen, Klein-, Liefer-, Last- und Kastenwagen, Polizei- und Feuerwehrauto, Kehrmaschine, Motorrad und Wohnmobil. In Vertretung von Brecht, der es vorzog, zu Hause zu bleiben, gab sein amerikanischer Fluxus-Kollege Larry Miller mit dem Dirigentenstab den Takt vor, in dem die Beteiligten „Musiker“ – unter anderem Mitglieder des Ensembles Concerto Köln im Frack – zu ihren „Instrumenten“ zu gehen und gemeinsam die Maschinen anzuwerfen hatten.

Entgegen der Buntheit des versammelten Fuhrparks und dem geballten Stolz seiner Besitzer ereignete sich zeitgleich zum Sonnenuntergang eine gespenstische Autodämmerung. Was sonst dem Transport, Fahren oder Geschwindigkeitsrausch dient, blieb auf der Stelle und funktionierte nur noch um seiner selbst willen. Die Fahrzeuge mutierten zu Kunstobjekten, auf deren Hebeln, Schaltern und Pedalen die Musiker nach exakt auf Karteikarten notierten Anweisungen wie auf einer Klaviatur spielten: Lichter, Blinker, Scheibenwischer, Martinshörner an und aus, Türen, Fenster, Motorhauben auf und zu, Motor beschleunigen, bremsen, Vollgas geben und das umstehende Publikum in Kohlenmonoxyd enthaltende Abgasschwaden hüllen. Im Gegensatz zur Maschinenkunst des in Kraft und Tempo vernarrten Futurismus der 1910er Jahre vollzieht Brechts PS-starkes Event eine künstliche Historisierung der Kraftfahrzeuge, die in eine ökologisch-gesellschaftliche Zukunftsvision umschlägt. Die zweckentfremdete, reduzierte und für alle Autos gleiche Behandlung stellt Straßenkreuzer und Kehrmaschine auf dieselbe Ebene und nimmt dem fetischisierten „Heiligs Blechle“ seinen Prestigewert. Zugleich lassen die leer laufenden Motoren vor dem Dom auf dem Roncalli-Platz, der seinerzeit mühsam dem Verkehr abgetrotzt werden mußte, eine Zeit nach dem massenhaften Individualverkehr erahnen ohne Benzin, Lärm, Gestank, mit viel Platz in den Städten und auf den Straßen, eine vielleicht nicht mehr allzu ferne Zukunft, die Autos nur noch als Kuriositäten aus Museen oder von Jahrmärkten kennt.

Die Anwesenheit des Realen in der Kunst und die gleichzeitige Ästhetisierung des Alltäglichen durch satirisch gebrochenen Einsatz altehrwürdiger Rituale aus dem bürgerlichen Kunst- und Konzertbetrieb ist Teil der avantgardistischen Utopie, Kunst in Lebenspraxis zu überführen. Indes hinterläßt ein Ereignis, das als Kunst wahrgenommen werden möchte und zugleich vor den immanenten Schwierigkeiten und Absurditäten von Kunst in den Alltag flüchtet, einen zwiespältigen Eindruck. Es wirft die prinzipielle Frage auf, wie groß die Differenz zwischen Kunst und Alltag mindestens sein muß oder gerade eben noch sein darf, damit etwas ästhetisch erlebt und zugleich an die Lebenspraxis des Rezipienten zurückgebunden wird. Ob und wie dies gelingt, entscheidet sich von Fall zu Fall. Die Aufführung von „Motor Vehicle Sundown“ blieb leider die einzige Umsetzung eines Brecht-Events im Umfeld der Kölner Ausstellung. Fluxus zielt auf die Verflüssigung bestehender Wahrnehmungs- und Wertungsweisen und möchte – wie der Name schon sagt – beweglich bleiben, frei fluktuieren. Die Musealisierung der ebenso flüchtigen wie subversiven Aktionskunst im Rahmen althergebrachter, standardisierter Präsentationsformen ist ein fragliches Unterfangen. Im Fall von Brechts radikal rezeptionsästhetischen Konzepten ist sie umso weniger angemessen, als die eingesetzten Objekte nur durch die Art und Weise ihrer Wahrnehmung zu Kunst werden ohne sich dabei automatisch als Kunstwerke zu manifestieren und verdinglichen zu lassen. Der heitere Anarchismus von Fluxus gehört nicht hinter Vitrinen, sondern zum Leben erweckt, vielleicht gerade wieder heute, wo von der einstigen Sponti-Generation nicht mehr viel geblieben ist.