MusikTexte 110 – August 2006, 5–10

Komponieren nach Rihm und Spahlinger

von Markus Hechtle

„Jeder kann malen! Mit ,Malen nach Zahlen‘ kann man alle Bilder leicht selber malen! Einfach die numerierten Felder mit den entsprechenden Farben ausmalen und fertig ist das Meisterwerk.“ Unter diesem Motto und mit einem „Malen nach Zahlen“-Wettbewerb feiert Ravensburger Spiele den dreißigsten Geburtstag seines Kult-Malsets. Befragt über ihr Hobby, erklärt die siebenjährige Gewinnerin Jasmin B. aus W.: „Das geht ganz leicht, weil man da einfach ausmalen kann.“

Die Ansage des Zugleiters unterbricht meine Lektüre des Bahn-Journals, bald werde ich aussteigen müssen. Gedankenverloren blättere ich weiter und bleibe an einem Photo hängen, auf dem ein feister junger Mann mit Trachtenjacke in die Kamera lächelt.

Metzgermeister Michael M. aus S. ist stolz auf seinen Sohn Adam, der sich entschlossen hat, den Familienbetrieb in der vierten Generation weiterzuführen. Adam M. sieht sich in der Pflicht und erklärt: „Die Tradition unserer Familie fortzuführen ist eine Ehre für mich und deshalb habe mich entschlossen, ebenfalls Metzger zu sein, obwohl ich eigentlich lieber Kfz-Mechaniker geworden wäre.“

Das Wörtchen „eigentlich“ irritiert mich eigentümlich und ich lege die Zeitschrift beiseite. Der Kaffeebecher ist leer, das Rauchen nur noch im Bistro erlaubt, gelangweilt schaue ich durch die regenbeschlagene Scheibe auf die vorbeifliegende Landschaft. Ich bin auf dem Weg zu einem Symposium der Gesellschaft der Musikfuturologen, deren freundliche Einladung ich nicht abschlagen wollte. Vom Bahnhof sind es nur wenige Minuten ins Tagungshotel, ein winziges Plakat neben dem Eingang kündet vom Motto des Kongresses: „Nur wer die Tradition kennt, hat eine Zukunft.“ Das alte Humboldt-Zitat, leicht abgewandelt, aber immer wieder gern benutzt, sogar von ausgewiesenen Futurologen, denke ich, und betrete das Hotel. Im hinteren Teil der großen Halle stehen gemütliche Ledersessel vor einem Kamin, in dem ein Feuerchen prasselt. Wolfgang R. aus K. scheint in einem der Sessel zu sitzen, die charakteristischen Rauchringe seiner Zigarre lassen zumindest auf ihn schließen. Links neben der Sitzecke ein Steinway, an dem Mathias S. aus F. mit leichter Hand eine Stelle aus der Campanella-Etüde klimpert, während neben ihm stehend der Musikwissenschaftler Bert K. aus D., seines Zeichens Vorsitzender der Gesellschaft der Musikfuturologen, anerkennend sein Cognacglas schwenkt. Die Atmosphäre ist ruhig. Wir nicken uns von weitem zu, dann gehe ich auf mein Zimmer, um mich ein wenig frisch zu machen. Auf dem immer gleichen Hotelschreibtischchen liegt ein Umschlag mit einem Willkommensgruß der Gesellschaft. Sehr nett, denke ich, öffne den Umschlag und während eine eingebaute Spieluhr anmutig Tierkreismelodien von Karlheinz S. aus K. in Erinnerung ruft, studiere ich den beigelegten Tagesplaner. Am heutigen Abend, im Anschluß an die Vorträge, wird ein Ehrengast erwartet und ich staune nicht schlecht, als ich den Namen lese. Respekt! Die Veranstalter scheinen weder Kosten noch Mühen gescheut zu haben. Ein Vermerk unter den Vortragstiteln zieht meine Aufmerksamkeit ebenfalls auf sich: Die Vorträge sollen jederzeit durch Kommentare oder Zwischenfragen der Teilnehmer unterbrochen werden dürfen, man erhoffe sich mit dieser neuartigen Konzeption eine größere Diskursbereitschaft und Lebendigkeit. Das kann ja heiter werden, murmle ich, verschwinde unter der Dusche, um schließlich pünktlich zum Vortrag im kleinen Kongreßsaal zu erscheinen. Ich werde der zweite Redner an diesem Tag sein, vor mir mein langjähriger Freund und Kollege Jörg M. aus M., der sich das abgewandelte Humboldt-Zitat zu eigen gemacht zu haben scheint. Als Jörg seinen Vortrag mit einem Adorno-Zitat beendet, ist es so weit. Ich trete nach vorne und beginne meinen Vortrag, dessen merkwürdiger Titel „Komponieren nach Rihm und Spahlinger“ mir vom Veranstalter vorgeschlagen wurde und den ich, obwohl, oder gerade weil ich nicht wußte, was er bedeuten solle, irgendwie spannend fand und deshalb beibehielt:

„Jeder kann malen! Mit ,Malen nach Zahlen‘ kann man alle Bilder leicht selber malen! Einfach die numerierten Felder mit den entsprechenden Farben ausmalen und fertig ist das Meisterwerk.“ Unter diesem Motto und mit einem „Malen nach Zahlen“-Wettbewerb feiert Ravensburger Spiele den dreißigsten Geburtstag seines Kult-Malsets. Befragt über ihr Hobby, erklärt die siebenjährige Gewinnerin Jasmin B. aus W.: „Das geht ganz leicht, weil man da einfach ausmalen kann.“

Diesen Artikel las ich im Bahn-Journal auf der Fahrt hierher und er hat mich seltsam berührt. Denn auch in der Mu­sik erfreut sich das Komponieren nach Zahlen bis heute großer Beliebtheit und das Sprechen über Technik und über die Weiterentwicklung von Technik besitzt sowohl unter Wissenschaftlern wie auch unter Komponisten ungeheuren Stellenwert. Aber warum kommt es immer wieder zur Verwechslung von Wissenschaft und Kunst?

Doch zunächst die gute Nachricht: Rihm und Spahlinger sind bei guter Gesundheit und ungebrochen kreativ. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie nach den beiden komponiert werden könnte. Und zwar im doppelten Sinn: Im Sinn der Nachahmung, wie auch im Sinn der Nachfolge. Mein Verdacht: Beides hat noch nie funktioniert, die Namen im Titel dieses Vortrags sind nur Platzhalter, man könnte jeden anderen Namen einsetzen und die Fragen, die der Titel anstelle von Antworten aufwirft, blieben die gleichen. Nachahmung und Nachfolge sind keine Haltungen, die beim Komponieren eine wesentliche Rolle spielen könnten. Im Unterschied zu Wissenschaftlern entwickeln Künstler nichts weiter, bauen nicht auf gesicherten Erkenntnissen auf, knüpfen nicht an Versuchsreihen an. Wer das versucht, scheitert unweigerlich. Kunst findet im Dunkeln statt, findet sich im Dunstkreis von Erfahrung und berichtet von Erfahrung. Kunst knüpft an nichts an und ist im besten Falle selbst nicht anschlußfähig.

„Aber die Musikgeschichte zeigt doch unzählige Beispiele von Kontinuität, nein, sie ist Kontinuität“, ruft mir der berühmte Musikwissenschaftler Hubert C. aus R. zu.

Aha, der erste Zwischenrufer, denke ich, die neue Konzeption wird also praktiziert. Ich erröte, zögere und wiederhole dann: Beim Komponieren kann ich nicht an andere Komponisten anschließen, kann keine Kontinuität er­zeugen wollen. Komponieren findet traditionslos statt! Hu­bert C. sieht das offenbar ganz anders und ich spüre, daß dieser Vortrag nicht einfach werden wird und fahre fort.

Erfahrung muß durchlebt, gemacht werden, immer wie­der, jedesmal und von jedem neu. Wir leben nicht, um an andere Leben anzuknüpfen, wir leben unsere Leben, machen die gleichen Fehler, müssen sie machen, durchleben ähnliche Situationen und keine Schilderung, kein Bericht von Erfahrung kann die eigene Erfahrung ersetzen.

Ein Durakkord zischt an meinem Kopf vorbei und trifft auftrumpfend auf die Wand hinter mir. Erschrocken und verwundert schaue ich ins Publikum, kann aber nicht erkennen, wer ihn warf und spreche weiter.

Es ist in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder die Rede davon, daß Erfahrung weitergegeben werden könnte. Tatsächlich kann aber von Erfahrung nur berichtet werden. Und für den Zuhörenden, Zusehenden, Lesenden kann dieser Bericht, diese Schilderung, diese Darstellung von Erfahrung bestenfalls zur Erfahrung werden. Erfahrung selbst kann nicht über- oder vermittelt werden. Der Erfahrungsbericht, der Betroffenheit einfordert, scheitert oft genug an dieser Tatsache. Das Erzählen von Erfahrung kann daher im besten Falle die Ermöglichung für die Erfahrung eines anderen sein, aber für eine andersgeartete Erfahrung, nicht identisch zur Erfahrung des Berichtenden. Noch besser scheint zu sein: Erfahrung nicht mit Erfahrung kommentieren, Erfahrung kann nicht bespiegelt werden. So empfinde ich auch Kunst. Die Erfahrungen, die ich beim Hören von Musik mache, kann ich als Komponist nicht weitergeben wollen, indem ich an diese Musik anzuknüpfen versuche. Weitergeben von fremder Erfahrung würde außerdem das Vertrauen in die Richtigkeit dieser Erfahrung voraussetzen. Dieses Vertrauen scheint mir aber in der Kunst unangebracht zu sein. Kunst lebt auch vom Mißtrauen, nicht aber dem Erzählenden oder dem Erzählten, sondern seiner überpersönlichen Gültigkeit gegenüber. Auch das ist ein Aspekt, der Anschluß verunmöglicht. Und wenn der Anschluß an technische, strukturelle Aspekte versucht wird, dann müßten diese Aspekte abstrahiert werden, um anschlußfähig werden zu können. Von was müßten sie abstrahiert werden? Von ihren Autoren. Aber die Abtrennung von ihren Autoren nimmt ihnen den Kern, der sie am Leben erhält. Material lebt nicht von selbst, kann nicht ohne Autor atmen. Der Fehler, den wir alle immer wieder begehen, liegt möglicherweise in diesem Mißverständnis. Junge Komponisten, beeindruckt von Lebenswerken, klugen Überbauungen und tiefschürfenden Unterkellerungen älterer Komponisten, neigen oft dazu, Materialien für die Sache selbst zu halten. Ein folgenschwerer Irrtum! Aber dieser Irrtum wurde lange genährt und zur Tugend erklärt. Nur wem es gelingt, sich der eigenen Erfahrung auszusetzen, sie ernst zu nehmen, sie für voll zu nehmen, kann Identität bilden. Darauf kommt es in der Kunst an, auf Identitäten, auf Persönlichkeiten, die Verantwortung übernehmen, die ohne Verweise auskommen, ohne Absicherung, ja, ohne Tradition. Insofern insistiere ich: Es gibt wahrscheinlich keine traditionslose Musik, aber traditionsloses Komponieren lebt sehr wohl.

Im Augenwinkel sehe ich einen verminderten Septakkord auf mich zufliegen, weiche ihm mit einer Kopfbewegung reflexartig aus und füge ihm schnell einen Grundton hinzu, wodurch ihn die Schwerkraft zur Landung zwingt. Von Materialschlachten war im Tagesplaner aber nicht die Rede, denke ich und tue so, als hätte ich den perfiden Anschlag nicht bemerkt.

Anknüpfungsunternehmungen haftet außerdem ein Geschmack von Größenwahn, Arroganz und Verachtung an. Denn angeknüpft wird immer an die Großen der Geschichte, an die Geschichtsgewinner, die Genannten und Gerühmten. Nicht zuletzt mit der Hoffnung, auch diesbezüglich Kontinuität zu garantieren, will heißen, mit der Hoffnung, selbst in diese Erfolgsgeschichte einzutreten, selbst Gewinner zu werden. Wer denkt schon an die abertausend Verlierer, an die, die auf der Strecke geblieben sind, an die Unberücksichtigten, an die vermeintlichen Sackgassengänger? Die Gesellschaft der Erfolgreichen ist da doch viel zu verlockend, scheint sie doch Empfehlung und Garant für die eigene Bewertung zu sein. Dies ist nicht nur in der Kunst so, aber es ist erschreckend, daß es in der Kunst manchmal auch so ist, obwohl dort gleichzeitig oft genug Unabhängigkeit und Antibürgertum behauptet werden. Es soll sogar Komponisten geben, die ihre eigene geschichtliche Einordnung betreiben und die peinlicherweise nicht davor zurückschrecken, sich als Vertreter numerisch klassifizierter Stadien der Moderne auszurufen. Muß man denn auch in der Kunst die Klappe aufreißen, um gehört zu werden? Hier lassen sich Verhaltensweisen bestaunen, die denen aus der untersten Schublade der Unterhaltungsindustrie nicht unähnlich sind, ganz nach dem Motto: Wer nur lange genug behauptet, relevant zu sein, wird am Ende vielleicht dafür gehalten. Aber Vorsicht, Nebenwirkungen sind nicht auszuschließen, denn wer den Mund zu voll nimmt, kann sich beim Sprechen böse verschlucken, auch das wissen wir aus Erfahrung!

Und selbst die, die sich auf die „Verirrten“, die Randständigen, aber dennoch zumindest marginal Überlieferten beziehen, sehen in diesem Akt des Anti-Mainstream eine Möglichkeit zur Profilierung.

Aus der pädagogischen Perspektive scheint es ohnehin unangebracht, mit der Keule der Tradition zu winken. Das schafft nur Angst, falschen Respekt, Lähmung. Ich plädiere für eine Pädagogik der Verantwortung, die ohne Drohgebärde und Schockeffekt agiert. Für eine Pädagogik, die die Schüler ermutigt, ihre eigene Phantasie ernstzunehmen, ihren Ideen zu vertrauen und nicht zuvorderst die Kenntnis des Alten einfordert, um dann irgendwann einmal kreativ werden zu dürfen.

Möglicherweise wurde beim Versuch der intellektuellen Bewältigung der Moderne Gift in hoher Dosierung freigesetzt. Die Werkzeuge wurden zur Hauptsache, Struktur eroberte den Markt. Das Gift der Moderne, ihre fatale Technik- und Wissenschaftszugewandtheit, kursiert unvermindert. Leider wurde es nie geschluckt, jedenfalls nicht in der nötigen letalen Dosis. Vielleicht wären wir dann heute an einem anderen Punkt, hätten die Moderne in der Musik wirklich begangen, als Mord an einem Kunstbegriff, der immer noch nach Handwerk schreit, wo Handwerk längst keine Rolle mehr spielen sollte. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich sage nicht, wo Handwerk abwesend sein sollte, nein, im Gegenteil, Handwerk ist bitternötig, aber nicht im Zentrum der Bemühungen, nicht im Brennpunkt des Diskurses, nicht als Ziel der Arbeit. Viele Strukturen, von ambitionierten Komponisten entworfen, sehnen sich in erster Linie nach ihrer analytischen Entdeckung, ja scheinen ausschließlich auf diesen möglichen, in der Zukunft erhofften Moment ihrer Aufdeckung hin entworfen zu sein. Ihre eigentliche Bestimmung, nämlich ihr sinnliches Auf­scheinen im Moment des Erklingens von Musik, ist da oft nur nebensächlich. Was für eine Pervertierung!, möchte ich rufen, wenn nicht gleichzeitig auch ein Gefühl von Mitleid entstünde, das denjenigen tröstend zur Seite stehen will, deren Partituren niemals auf die Seziertische der Musikpathologen gelangen werden. Tatsächlich, und am Beispiel von Helmut L. aus L. könnte man das gut illustrieren, existiert das Mißverständnis, Mate­rial könne, indem es nämlich in den Stand der Errungenschaft gehoben wird, von seinem Autor abgekoppelt und dadurch für die Nachkommenschaft zugriffsfähig werden. Ein gigantisches und folgenschweres Mißverständnis! Und so schnarchen und schlurfen und quietschen und hecheln und röcheln ganze Komponistengenerationen Helmut L. hinterher, ihrer Zeitgenossenschaft versichert, ohne auch nur einen Moment Musik entstehen zu lassen. Material spricht nicht von selbst! Material ist, wie sein häßlicher Name schon verrät, tot. Nichts spricht von selbst und nichts ist von selbst ungeeignet zu sprechen, Kraft einer historischen Verwachsung oder ähnlichem. Ob es spricht oder schweigt, liegt allein in der Kraft und in der Verantwortung des Komponisten. Das Wunderbare an der Musik von Helmut L. ist doch nicht, daß er das Cello zum Grunzen, die Flöte zum Quietschen, die Geige zum Hupen und den Sänger zum Röcheln gebracht hat, sondern daß er mit seiner instrumentalen Phantasie und seiner gestalterischen Potenz eine unerhört energetische, poetische, magische Kraft zu entwickeln vermag. Das identische Material in den Händen phantasieloser, aber wissenschaftlich ambitionierter Töne-Bastler ist nichts. Phantasie ohne Intelligenz kann ja immerhin interessant sein, aber Intelligenz ohne Phantasie ist in der Kunst nicht nur erbärmlich, sondern geradezu gefährlich. In der Kunst muß man nicht unbedingt viel wissen, vor allem aber viel spüren.

„Jetzt reicht’s aber!“, ruft ein Komponist aus der zweiten Reihe und schüttelt dabei mahnend den Kopf, „diese billigen Künstlermythen hier vor einem Publikum zu verbreiten, das aufgeklärt und gebildet sich nennen darf, grenzt an eine Unverschämtheit. Sie wollen doch nicht im Ernst die olle Kamelle aufwärmen, geistige Unbedarftheit sei die Voraussetzung geglückten Künstlertums. Es gibt doch immerhin Errungenschaften, ja geschichtsphilosophische Einsichten, an denen wir nicht vorbei kommen und dürfen!“

Genau so ist es, antworte ich, jetzt ebenfalls merklich erregt, wir kommen an ihnen oft nicht vorbei und manch einer behauptet, wir dürften auch nicht an ihnen vorbei- kommen, aber in der Kunst darf ich alles und darf auch an allem vorbei! Im Gegensatz zu Wissenschaft, Ideologie und Religion gibt es in der Kunst keine gültige überpersönliche Einsicht, die Wege blockieren, Türen verriegeln, Gedanken verbieten könnte. Und das hat weder mit Dumpfheit noch mit Unbedarftheit zu tun, sondern es ist harte Arbeit, sich einem Zustand zu nähern, der Hierarchien zwischen Bewußtem und Unbewußtem verhindert oder aufhebt, der dich beim Komponieren auf das Wesentliche konzentrieren läßt, auf das, was du suchst, was du für richtig hältst. Es ist anstrengend, sich die Tradi­tion bei der Arbeit vom Leib zu halten, es kostet Mühe, nicht in ihren angeblich sicheren Hafen einzulaufen und ein Nickerchen einzulegen, ohne Gegenwind und spritzende Gischt, obwohl ich auch nicht wüßte, wo dieser Hafen sein sollte und grundsätzlich große Zweifel an seiner Existenz hege.

Ich spüre, daß etwas meine Beine berührt und entdecke eine kleine Zwölftonreihe, die sich im Krebsgang um meine Beine wickelt, offenbar mit der Absicht, mich zu Fall zu bringen. Mit einem Handspiegel weise ich sie auf ihre Herkunft hin und sie zieht enttäuscht von dannen. Ich spreche weiter.

Selbstverständlich arbeiten wir nicht im luftleeren Raum, selbstverständlich sind wir geprägt von Tradition und Zeitgeist, selbstverständlich soll und kann der Verstand nicht ausgeschaltet werden, aber sowohl der Bezug auf, als auch der Abstoß von Tradition sind im Grunde reaktionäre Verhaltensweisen. Woher soll ich denn wissen, wie man nach Rihm und Spahlinger komponiert? Das Neue kommt von alleine, unaufhaltsam, aber eben auch unplanbar und unberechenbar. Mein Vertrauen in das Neue ist ungebrochen, ich muß mich nicht darum kümmern, muß es nicht beschwören oder gar züchten. Das Neue tritt ein, bricht herein und ist dann plötzlich da, wir begegnen ihm zufällig, es überrascht uns wahrscheinlich dort, wo wir es am wenigsten vermutet hätten.

Von hinten meldet sich ein helles Stimmchen, das zu Sieglinde P. aus H., einer Blockflöten-Koryphäe der Neuen Musik, gehört: „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich frage mich mittlerweile schon, was Sie überhaupt wissen?“ Der Saal lacht und Sieglinde P. fährt angefeuert fort: „Die großen Neuerungen der Musikgeschichte lassen sich doch unstrittig mit Materialneuerungen verbinden, oder haben Sie auch davon noch nie etwas gehört, Sie Ärmster?“

Ich muß mich schon ziemlich zusammenreißen, um nicht wütend zu werden und trinke zur Beruhigung einen Schluck Wasser, der aber irgendwie merkwürdig schmeckt. Jemand muß das Wasser heimlich mit einem Oboenmultiphonic verunreinigt haben. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, wische mit meinem Taschentuch eilig einige Obertöne von den Lippen und antworte: Wenn dann die, denen Neues gelungen ist, auf Nachfrage auf materiale Entwicklungserfolge verweisen, dann gilt es wachsam zu sein, nicht alles zu glauben, was da an Erklärungen feilgeboten wird, denn möglicherweise sind es unsere ständigen Begleiter, nämlich Hilflosigkeit und Un­sicherheit, die nach Handfestem suchen lassen. Die Unsicherheit, jenseits der meßbaren parametrischen Beziehungen von Tönen, Klängen und Farben sich über Musik zu äußern, sie ist unter Komponisten weit verbreitet. Niemand ist vor ihr sicher, fast jeder kennt sie. Es ist die Unsicherheit des Komponisten vor dem nächsten Ton, dem nächsten Klang. Die Unsicherheit, die womöglich noch größer zu werden droht, wenn der Folgeton nicht legitimiert, nicht eingebunden in ein übergeordnetes Ganzes erscheinen könnte. Es ist auch die Unsicherheit vor der eigenen, nicht auf einen anderen abzuwälzende Entscheidung, die Unsicherheit vor der eigenen Verantwortung. Wieviel leichter ist es, den nächsten Ton, den nächsten Akkord einem wie auch immer gefundenen Verfahren zu überantworten, einem systematischen Vorgang, der Angebote generiert, die dann ausgewertet und bewertet werden können, in mehr oder weniger bürokratischen Vorgängen, nach mehr oder weniger geregelten, schon a priori sanktionierten Kriterien. Nicht zu sprechen von konzeptionellen Maschinerien: Wer keine Fragen stellt, der muß sich auch um Antworten nicht bemühen. Besonders in der Musik ist die Gefahr groß, systemische Abhängigkeiten als natürlich, als der Sache inhärent hin- und anzunehmen. Das hat historische und innermusikalische Gründe, ist aber auch durch das Legitimationsgerede der Komponisten verschuldet. Mir jedenfalls scheint diese Unsicherheit lebenslanger Gefährte des Künstlers zu sein und es gehört zur Arbeit dazu, sie auszuhalten. Wer den Anschein erweckt, sie dauerhaft abgelegt zu haben, ist mir im höchsten Maße suspekt.

Als ein Elftonakkord auf meinem Pult explodiert, den ich als Weiterentwicklung des berühmten Neuntöners aus Mahlers Zehnter identifiziere, und eine ganze Reihe bärtiger Futurologen in kindisches Gelächter ausbricht, über­­lege ich kurz, abzubrechen, fahre aber dann doch fort.

Auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel kam mir ein Mann entgegen, der mich an einen Redakteur erinnerte, mit dem ich vor Jahren zu einem Seminar eingeladen war und der dort allen Ernstes verkündete, die jüngere Komponistengeneration würde das aufarbeiten, was die Generationen vor ihr am Wegesrand zurückgelassen hätten. Sofort stellte ich mir eine verschlammte Straße vor, darauf ein Wagenkonvoi, dem ich in einer Herde von Kollegen traurig hinterhertrotte, in der Hoffnung, die eine oder andere Note würde herunterfallen, die eine oder andere Idee, die wir nur noch etwas säubern und ein bißchen in Schuß bringen müßten, damit sie unsere Arbeit speist. Schließlich gibt es kaum einen Hähnchenschlegel, an dem nicht doch noch etwas abzunagen wäre. Suchend blickte ich die Straße hinunter und wurde vor einem schönen Bürgerhaus tatsächlich fündig. Sperrmüll bei den großen Komponisten: Achtlos weggeworfene Strukturen, herrenlose Tempoangaben, Tonhöhen in Hülle und Fülle, Skizzen für den Fortschritt, auch das eine oder andere unbenutzte Geräusch, kurz: sanktioniertes Material, all das, was man zum Komponieren so braucht, denkt sich der Redakteur und bückt sich. Was für bizarre Mißverständnisse, welch absurde Vorstellungen existieren eigentlich noch über das Komponieren und wer oder was nährt sie so beständig?

Die Versuchung, sich auf dem Sperrmüll der Geschichte oder im Supermarkt der Errungenschaften zu bedienen, muß Versuchung bleiben. Auch der vielbeschworene und vielgeliebte Pluralismus der gegenwärtigen Musik ist Phänomen, aber keine mögliche Position fürs Komponieren! Kunst kann nur dann entstehen, wenn sie an die individuelle Verantwortung des Komponisten gebunden bleibt. Vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis der Observation: Man kann nach wie vor überhaupt nichts benutzen und man kann nach wie vor überhaupt nichts benutzen. Aber obwohl wir als Komponisten so die volle Verantwortung für unser Material übernehmen müssen, ist seine Darstellung, die Zurschaustellung des Materials, als Aussage über Musik vollkommen unbefriedigend.

„Ver-ant-wor-tung, Ver-ant-wor-tung, ist al-les, was er kennt! Ver-ant-wor-tung, Ver-ant-wor-tung, heißt sei-ne Re-li-gion!“ skandiert jetzt lautstark ein spontan gegründeter Sprechchor der Futurologen.

Hilflos hebe ich meine Stimme und versuche mich durchzusetzen: Denn das Sprechen über Musik ist ähnlich dem Sprechen über Sexualität. Wer sich dem Kern, dem Geheimnis nähern möchte, kann sich nicht damit zufrieden geben, andauernd nur anatomische, respektive pornographische Details zum Besten zu geben. Die Schin­derei des Künstlers rührt eben auch von dieser doppelten Verausgabung: Einerseits die Arbeit am Material, an der Struktur, mühsam und unersetzlich, am Ende aber nicht der Rede wert! Andererseits das Ringen um den „Mehrwert“, das „Eigentliche“: dunkel und kryptisch meist, eben­falls nicht der Rede wert, weil meistens der Rede nicht fähig! Was also spricht am Ende? Es ist manchmal schwer zu begreifen, daß all die Mühen am Ende nichts wert sein sollen, außer dem Ergebnis, also der Musik selbst, die sie gezeitigt haben. Natürlich heißt das nicht, daß wir den Diskurs nicht führen sollten. Wir sollten ihn nur mit dem Bewußtsein führen, daß das eigentlich Wertvolle an ihm nicht so sehr in den Dingen liegt, die diskursiv behandelt werden, sondern in der Diskursivität selbst. Der Wert der Dinge, der behandelten Stoffe, ist, aus Sicht des Künstlers, wahrscheinlich nahezu gleich Null.

Im Saal ist es jetzt so unruhig geworden, daß ein Weitersprechen unmöglich ist. Dämlicherweise lasse ich mich nun auch dazu hinreißen, einen Quintsextakkord mit tiefalterierter Quinte ins Publikum zu schleudern. Naiv, sehr naiv, wie ich sofort feststellen muß, denn für die vielen geübten Theoretiker gehört es natürlich zum Tagesgeschäft, ihn noch im Flug aufzulösen. Der Gegenschlag läßt nicht lange auf sich warten, ein Hagel algorith­misch generierter Spektralakkorde, die gemeinerweise noch durch mikrotonale Abweichungen geschärft wurden, zwingt mich dazu, mich hinter dem Rednerpult zu verschanzen und das Handtuch zu werfen. Im lärmenden Getöse der nicht endenwollenden Wurfklänge krieche ich zum Ausgang des Saals, stürze in mein Zimmer, schließe die Tür ab und verschnaufe. Bei einer Zigarette und einem kleinen Whiskey aus der Minibar entschließe ich mich dann aber doch, die Abendveranstaltung mit dem Ehrengast nicht versäumen zu wollen. Die noch verbleibende Zeit verbringe ich damit, mich als Musikfuturologe zu verkleiden, um am Abend nicht erkannt und erneut mit Material beworfen zu werden.

Schließlich bin ich pünktlich im großen Saal des Hotels und sitze unerkannt in der wartenden Menge. Es heißt, sie würde sich verspäten. Nach geraumer Zeit wird es plötzlich unruhig im Saal, ich drehe mich zur Tür und sehe, daß die beiden Flügel weit geöffnet werden und Leibwächter in den Saal drängen. Ist sie jetzt angekommen? Aber ich kann sie nicht sehen, offenbar wird sie von den Leibwächtern verdeckt. Alle im Saal erheben sich nun, teils aus Ehrfurcht, teils aus Neugier und schauen in Richtung Mittelgang, also in Richtung der Leibwächter, die sich langsam nach vorne bewegen. Da!, kurz konnte ich sie sehen, sie scheint im Rollstuhl zu sitzen und von einem Betreuer geschoben zu werden. Mein Gott, ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt, gesund und kräftig, groß und stark. Offenbar geht es vielen im Raum so, denn eine gewisse Bestürzung ist förmlich mit Händen zu greifen. Jetzt hat sie das Podest mit dem Rednerpult erreicht, der Betreuer zieht den Rollstuhl rückwärts die Stufe hinauf und ich sehe zum erstenmal in ihr Gesicht: faltig, bleich, eingefallen, von Krankheit gezeichnet. Wer hat ihr das nur angetan? Tränen steigen in meine Augen, im Saal wird es still, Betroffenheit breitet sich aus. Der Betreuer montiert umständlich das Mikrophon von dem viel zu hohen Rednerpult ab, offenbar waren selbst die Veranstalter nicht über ihren Zustand informiert, peinlich, peinlich, denke ich, während ich sie mir genauer anschaue. Ihre Gesichtszüge zeugen von früherer Schönheit, Eleganz und Grazie. Aber nicht nur der Sauerstoffschlauch in ihrer Nase scheint eine ausgeprägtere Mimik zu verhindern. Mit zitternder Hand richtet sie das Mikro ein wenig zurecht, erschrickt über eine kurze Rückkopplung, hustet dann und erhebt den Kopf. Ich sitze zu weit hinten, als daß ich ihre Augen erkennen könnte, aber der Blick scheint noch klar zu sein. Dann beginnt sie zu sprechen: „Liebe Freunde! Ich sage Freunde, obwohl Sie heute sehen können, was Sie mit mir angerichtet, was Sie mir zugemutet, was Sie mir angetan haben. Trotzdem nenne ich Sie Freunde, denn ich weiß, daß Sie im Grunde nichts Böses tun wollten, daß Sie es gut gemeint haben. Aber wie oft schon hat das Gutgemeinte das Gegenteil bewirkt, wie oft schon hat die angestrengte Bemühung im Desaster geendet?“ Sie spricht mit klarer, aber trockener Stimme, und nachdem der Betreuer ihr ein Glas Wasser reicht, fährt sie fort: „Sie alle haben mich bemüht, unentwegt, haben mich benutzt und mißbraucht für die unterschiedlichsten Belange und Projekte. Jeder dachte, er hätte ein Recht dazu und viele dachten, es wäre sogar ihre Pflicht, mich wegen jeder Kleinigkeit, jeder winzigen Rechtfertigung anzurufen, meine Zeit, mein Renommee, meine Erfahrung, meine Weisheit in Anspruch zu nehmen.“ Immer aufgebrachter scheint sie zu werden und zunehmend mit den dünnen und kraftlosen Armen gestikulierend, spricht sie weiter: „Sie haben mich zu Tode gepflegt, jetzt bin ich krank, kraft- und hilflos. Warum können Sie nicht alleine zurechtkommen, warum übernehmen Sie nicht endlich selbst die Verantwortung, warum müssen Sie sich immer mit mir legitimieren? Es macht keinen Unterschied, ob Sie sich gegen mich gewandt oder für mich gekämpft haben! In beiden Fällen haben Sie mich belästigt, haben mir meine Kraft geraubt, haben mich mißbraucht für ihre Machenschaften. Ich bitte Sie inständig“, und sie unterbricht, weil ein kolossaler Hustenanfall sie nahezu erstickt und ihren Betreuer dazu zwingt, die Sauerstoffzufuhr ein wenig weiter aufzudrehen, „ich bitte Sie inständig, lassen Sie mich in Zukunft in Ruhe, stehen Sie auf eigenen Beinen, gestalten Sie selbständig, übernehmen Sie endlich Verantwortung! Sie helfen mir damit und sich selbst helfen Sie noch mehr, auch wenn Sie sich im Moment ein Leben ohne mich noch schwer vorstellen können. Aber Sie können und müssen ohne mich leben und indem Sie mich ignorieren, verlängern Sie mein Leben. Liebe Freunde, dies ist mein letzter öffentlicher Auftritt, und ich möchte Sie inständig darum bitten, meinen Ruf nach Ruhe und Ungestörtheit nach draußen zu tragen. Berichten Sie ihren Kollegen von meinem erbärmlichen Zustand, für den sie mitverantwortlich sind, und berichten Sie auch, daß auf mich in Zukunft nicht mehr zu zählen sein wird. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen viel Glück!“

Erschöpft von ihrem kurzen, aber leidenschaftlichen Vortrag, übergibt sie das Mikro ihrem Betreuer. Im Saal ist es jetzt ganz still. Alle sind bestürzt und ergriffen von dem Appell der alten Dame. Soll sie, die gute, alte Tradi­tion, heute tatsächlich zum letzten Mal zu uns gesprochen haben?

Am nächsten Morgen sitze ich mit einem mulmigen Gefühl im Bistro der Bahn, rauche und starre verwirrt nach draußen, nicht, weil mir am Abend zuvor dann doch noch der angeklebte Futurologenbart verrutscht war und wir noch lange tranken und diskutierten, sondern weil ich zu meiner Verblüffung feststellen muß, daß ich wider Erwarten und unbeabsichtigterweise nun auch zu jenen gehöre, die sich auf Kosten der Tradition legitimiert haben. Merkwürdig. Sehr merkwürdig.

Vorgetragen am 22. April 2006 bei der Arbeitstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt. Vorabdruck aus: Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, herausgegeben von Jörn Peter Hiekel, Mainz: Schott, 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 47).