MusikTexte 110 – August 2006, 86–87

Weichen für die Musik der Zukunft

Nachwuchs-Förderung an der Kölner Musikhochschule und LandesJugendEnsemble für Neue Musik NRW

von Rainer Nonnenmann

Auch hundert Jahre nach Arnold Schönbergs Schritt in die Atonalität ist neue Musik für die meisten Menschen keine Selbstverständlichkeit, sondern eher terra incognita oder ein rotes Tuch. Das gilt für weite Teile des Publikums, aber auch für die Mehrzahl der Musiker – und das ist das eigentliche Skandalon. Nach wie vor ist es eine Frage der Vermittlung, ob und wie junge Menschen mit Musik der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit in Berührung kommen und welche Erfahrungen sie dabei machen. Was den Nachwuchs betrifft, ist das vielbeschworene „Altern der neuen Musik“ auch ein demographisches Phänomen.

Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts unterrichteten an der Kölner Musikhochschule namhafte Instrumentalisten mit internationaler Ausstrahlung, die sich in vorderster Front auch als Interpreten neuer Musik hervortaten – von den damals an der Hochschule lehrenden Komponisten Zimmermann, Stockhausen, Kagel, Henze zu schweigen. Die entscheidenden Weichen dazu stellte Hochschuldirektor Heinz Schröter während seiner Amtszeit 1957 bis 1972 mit einer Reihe zukunftsweisender Berufungen: als ersten verpflichtete er den Cellisten Siegfried Palm, bald folgten die Pianisten Aloys und Alfons Kontarsky, der Posaunist Vinko Globokar, der Geiger Saschko Gawriloff und der Schlagzeuger Christoph Caskel. Auch die Verpflichtung Herbert Eimerts, nach dessen Pensionierung als Leiter des Studios für elektronische Musik des WDR Köln 1965, das weltweit erste elektronische Studio an einer Musikhochschule aufzubauen, war eine Pionierleistung Schröters. Dank all dieser Persönlichkeiten gehörte neue Musik damals selbstverständlich zum Alltag der Studierenden, was viele nach Köln zog.

Heute beschränkt man sich vielfach auf museale Repertoirepflege. Neue Musik wird weitgehend ausgeblendet und ältere Musik nicht als die neue Musik der Vergangenheit entdeckt. Der Entwicklung entgegenzuwirken versucht die von David Smeyers initiierte und geleitete Hochschulreihe „Back to the future“. Ihren Namen verdankt sie der Überlegung, „daß man nur weitergehen kann, wenn man das Vergangene kennt, und der einfachen Tatsache, die viele Interpreten leider nicht erfaßt haben, daß die Musik, die sie heute mit Inbrunst lieben, einmal neu war und keine ungeteilte Zustimmung bei den Zeitgenossen fand, als sie zum ersten Mal erklang.“ Nur durch engagierte Musiker ist die klassisch-romantische Musik zu dem geworden, was sie heute ist. Und denselben Einsatz braucht heute die Musik der Gegenwart, soll sie einstmals die Klassik von morgen werden.

Smeyers unterrichtet seit 2003 „Ensembleleitung neue Musik“ an der Kölner Musikhochschule. Mit den meisten der bis zu fünfzig Studierenden pro Semester muß er erst einmal Fragen von Notation und Spieltechniken klären, bevor er überhaupt interpretatorisch arbeiten kann. Mit einigen Studenten arbeitet der 1952 in Detroit geborene Klarinettist jedoch kon­tinuierlich über mehrere Semester, vor allem mit solchen, die sich bereits zu festen Ensembles zusammengeschlossen haben. Für sie organisiert er auch Konzertauftritte und Rundfunkmitschnitte: etwa für das Assasello-Streichquartett und ein Saxophon-Duodezett, das bei der MusikTriennale Köln 2007 Luciano Berios „Recit“ für Altsaxophonsolo, Saxophon­zwölftett und Schlagzeug spielen und die Arbeit der Musikhochschule einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen soll.

Für Studierende und frische Hochschulabgänger gibt es inzwischen mehrere Förder- und Fortbildungsmöglichkeiten: Seit 1996 das anfangs jährlich stattfindende „Nachwuchsforum der Gesellschaft für Neue Musik“ für Komponisten, Interpreten und Musikologen, seit 2003 die „Internationale Ensemble Modern Akademie“ und seit 2004 die „Lucerne Festival Academy“, deren Besuch die Kunststiftung NRW mit Stipendien fördert, um nur einige zu nennen. Ähnliches leistet in kleinerem Stil speziell für die Studierenden der Kölner Hochschule die Reihe von David Smeyers. Hier treten internationale Spitzeninterpreten als Gastdozenten auf und treffen junge Interpreten mit auswärtigen Kompositionsklassen zusammen. Bisher gab es Austauschprogramme mit den Klassen von Adriana Hölszky in Salzburg und Mathias Spahlinger in Freiburg. Ferner zu Gast mit Vorträgen und Workshops zur Erarbeitung eigener Werke waren George Benjamin, Peter Maxwell Davis, Georg Hajdu, Toshio Hosokawa, Helmut Lachenmann, Isabel Mundry, Wolfgang Rihm und andere.

Wegen der zuweilen frustrierenden Erfahrung, daß viele Musikstudenten die inzwischen hundertjährige Tradition der neuen Musik nicht kennen, planen Smeyers und seine Frau und Klarinettenduo-Partnerin Beate Zelinsky schon seit sechs Jahren die Gründung eines „LandesJugendEnsemble für Neue Musik NRW“. Begabte Schüler und Jungstudenten im Alter von vierzehn Jahren und mehr sollten frühzeitig mit neuer Musik vertraut gemacht werden, weil sie weniger Vorurteile oder Hemmungen im Umgang mit zeitgenössischer Musik haben. Da die Jugendlichen von sich aus Neues entdecken wollen und weder umfassende Kenntnisse der älteren noch der neueren Musik haben, sind für sie beide gleichwertig. Smeyers und Zelinsky sehen in dieser Unbefangenheit eine große Chance. Frei nach Igor Strawinsky vertreten sie die Auffassung: „Kinder oder Jugendliche sollten zuerst Musik von heute kennen lernen, bevor man dann langsam rückwärts geht“.

Dank des Einsatzes von Werner Lohmann, der als Musikratspräsident die Trägerschaft durch den Landesmusikrat NRW durchsetzte, und der Finanzierung durch private Sponsoren konnte im Januar 2006 eine erste sechstägige Projektphase durchgeführt werden. Von fünfzig Bewerbern, die zuvor beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ auf Landesebene teilgenommen hatten, qualifizierten sich durch Probespiel siebzehn junge Musiker. Alle waren begeistert von der unvertrauten Musik und ihrer Erarbeitung, und viele machten hier erstmals die beglückende Erfahrung, Gleichgesinnte zu treffen, die zu Hause ebenfalls Boulez, Stockhausen, Rihm hören. Beim nächsten Mal möchten alle wiederkommen. Sofern es die Finanzierung erlaubt, sollen in Zukunft jährlich zwei Arbeitsphasen mit einem möglichst breiten Spektrum neuer Musik ermöglicht werden. Beim nächsten Mal im August/September 2006 stehen Werke von Wolfgang Rihm, Alfred Schnittke und John Cage auf dem Programm.

Die Initiative ist bisher einmalig in Deutschlands Landesmusikräten und könnte vor dem Hintergrund der Bildungsdebatte und der seit Jahren verlangten Hochbegabtenförderung Vorbildcharakter gewinnen. Daß dieser Anstoß jetzt aus NRW kommt, hält Smeyers für bezeichnend, da hier und vor allem in Köln nach dem Zeiten Weltkrieg das deutsche Zentrum für neue Musik gelegen habe, in den letzten Jahren jedoch viel versäumt worden und entsprechend viel nachzuholen sei gegenüber Städten wie Stuttgart, Freiburg und Karlsruhe, wo hochkarätige neue musikalische Forschungs-, Ausbildungs- und Spielstätten entstanden sind. Vielleicht werden jetzt auch in Köln wieder Weichen für die Musik der Zukunft gestellt.