MusikTexte 110 – August 2006, 81–82

In der Warteschleife

Die Wittener Tage für neue Kammermusik

von Rainer Nonnenmann

In Witten nichts Neues, möchte man unken … außer fünf deutschen Erst- und einundzwanzig Uraufführungen. Obwohl Bekanntes und Bewährtes überwog und vornehmlich Komponisten und Interpreten auftraten, die teils schon mehrfach in Witten präsentiert wurden, hoben sich nach drei Festivaltagen dennoch einige nachhaltiger wirkende Eindrücke sowie zwei Hauptaspekte heraus, die sich momentan zu regelrechten Trends zu verdichten scheinen: die Adaption der ursprünglich aus der elektronischen und Computermusik stammenden Loop-Technik durch rein instrumentale und vokale Ansätze sowie die gattungsfremde Aufladung der Kammermusik mit Erzählinhalten bis hin zu regelrechten Melodramen.

Gleich das Eröffnungskonzert des Amsterdamer Asko Ensembles bot mit Ri­chard Rijnvos’ halbszenischem „mappamondo“ dafür ein Paradebeispiel und zugleich einen Totalausfall. Statt das Paradox des venezianischen Mönchs Fra Mauro, der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts aufgrund von Reiseberichten eine Weltkarte anfertigte ohne jemals selbst seine Zelle zu verlassen, kompositorisch zu verdichten, läßt der Niederländer einen Sprecher in weißer Mönchskutte seitenlang die Memoiren des Kartographen beziehungslos neben der Musik verlesen und einen als Nebelhorn auftretenden Tubisten zum Alter Ego des Klausners werden, der sein Leben in immer gleichen Tonfolgen quälend langsam wie weiland Fafner unter einer Überdosis Valium verschnarcht: szenische Peinlichkeiten, entnervende Monotonie und schlimm­stes Pseudo-Nono-Epigonentum.

Epische Züge trug auch Klas Torstenssons private Hörgeschichte „Self-portrait“, bei dem eine Soloschlagzeugerin das Ensemble durch unterschiedliche Sphären zwischen Sinfonik, Jazz, Rock, Gershwin, Salon-Schnulzen, neue Musik und Gustav Mahlers Kuhglocken-Weltent­rückung treibt. Der Klangschutt des vergangenen Jahrhunderts wird geborgen und zugleich durch dutzendfache Wiederholungen und Überlagerung mit neuen Schichten wieder verschüttet. Auch Iris ter Schiphorsts „Zerstören“ integrierte „Dreck“ und Geräuschhaftes aus der Alltagswelt, was im Wittener Saalbau leicht zu Verwechslungen mit der altersschwachen Belüftungsanlage führte.

Nach wie vor große Faszination übt das Nahverhältnis von Musik und Sprache aus, nicht zuletzt auf jüngere Schweizer Komponisten, die das ensemble ascolta aus Stuttgart präsentierte. Michel Roth trans­formierte phantastisch verfremdete Beschreibungen der Erd-, Kultur- und Industriegeschichte des Badisch-Schweizer Raums in ein breites Sprachspektrum vom stupiden Fremdenführerton bis zum exal­tierten Kreischen. Annette Schmucki woll­te nichts weniger als „das sprechen erfinden“ und verfing manisch-assoziati­ve Wort­kettenbildungen immer wieder in me­chanischen Wiederholungsspiralen. Mi­scha Käser bot in seinen „Präludien“ lautpoetische Sprachakrobatik vom Schwit­zerdütsch bis zu Mickeymausiaden. Und Nadir Vassenas neomadrigaleskes „frammento d’opera“ enthielt hochaffektuösen stile exaltico, wie geschaffen für die Neuen Vocalsolisten Stuttgart und ihren bravourösen Countertenor Daniel Gloger.

Rolf Riehm wählte eine genuin musikalische Umsetzung der streng formalen Lyrik von Inger Christensen. Nach langem Kontrabaßklarinetten-Solo (Theo Nabicht) werden die ersten Einsätze der übrigen Instrumente und der charismatischen Stimme der dänischen Dichterin zu echten Ereignissen. Wegen der blockartigen Entgegensetzung erschloß sich die Strukturverwandtschaft von Poesie und Musik jedoch zu wenig. Nachdem Mathias Spahlinger mit den im November in Stuttgart uraufgeführten „Farben der Frühe“ für sieben Klaviere zu einer teils gestischen und idiomatisch gefärbten Musik gefunden hatte, überraschte er jetzt in „fugitive beauté“ (ensemble recherche) mit der Rückkehr zu einem streng punktuellen Stil, der unterschiedliche Temposchichten so überlagert, daß an den Knotenpunkten flüchtige Akkorde und Gestaltelemente entstehen und wieder vergehen.

Der Bereich Performance war dieses Jahr komplett dem fünfköpfigen Berliner Künstlerinnen-Kollektiv „Les Femmes Savantes“ eingeräumt. Angesichts der Fülle unterschiedlichster Formationen aus den Grenzbereichen von Improvisation, Komposition und experimenteller Elektronik war diese Gruppe mit vier Konzerten und zu­sätzlichen Wiederholungsaufführungen überrepräsentiert. Zudem erschöpften, äh­nelten oder wiederholten sich die Konzep­te und wurden die Mitglieder Ute Wassermann, Andrea Neumann und Sabine Ercklentz in Witten bereits vorgestellt.

Daß es durchaus sinnvoll sein kann, einen Komponisten mehrfach nach Witten einzuladen, bewies die erneute Vergabe eines Kompositionsauftrags an Erik Oña. Vor zwei Jahren hatte der in Basel lehrende Argentinier ein Stück für individuell präpariertes Klavier vorgestellt. Jetzt präsentierte er mit „Lokaler Widerstand“ für Klavier und Streicher (ensemble resonanz) eine eindringliche Folge hochenergetisch verdichteter Texturen und deren leises Verzittern. Seine Landsfrau María Cecilia Villanueva befreite die wenig beachtete Gattung Klavier zu vier Händen von ihrem Image als gefällige Hausmusik höherer Töchter, indem sie Helena Bu­gallo und Amy Williams schlagkräftig agieren und aus knallenden Clustern und dumpf grollenden Akkorden immer wieder einzelne zaghafte Melodiezüge aufsteigen ließ.

Für die Königsdisziplin Streichquartett war abermals das Arditti-Quartett engagiert: Kommt schon keine andere Quartettformation nach Witten, so doch diese jährlich in anderen Besetzungen, diesmal mit dem inzwischen bestens integrierten Lukas Fels als neuem Cellisten. Während Stefano Gervasoni und Brian Ferneyhough ihrem Niveau und Stilideal treu blieben, präsentierte Peter Ruzicka mit seinem prä­tentiös überhöhten „Sturz“ eine tremolierte Belanglosigkeit auf ein und demselben Gestus. Jonathan Harvey gelang eines der wenigen langen und zugleich tragfähigen Stücke des Festivals, auch wenn die technoide Brillanz des Ircam-Studiosounds manchen störte. Durch live-elektronische Transformationen schuf der 1939 geborene Engländer fließende Übergänge und spannungsvolle Kontraste zwischen sichtbaren Aktionen und hörbaren Resultaten, dem warmen Espressivo vertrauter Streicher und eisig klirrender Elektronik, zwischen erloschenen Bogengeräuschen und hellem Schwirren aus quer im Raum verteilten Lautsprechern.

Viele andere Stücke ließen die Einheit von musikalischer und erlebter Zeit vermissen, wie schlecht erzählte Witze mit der Pointe am Anfang und nachfolgenden umständlichen Erklärungen. Auch fallen die Uraufführungen bei den Wittener Tagen schon seit Jahren zumeist erheblich länger aus als bestellt und von den Komponisten angegeben. Die Konzerte finden daher kein Ende, dauern bis Mitternacht und erzwingen die Streichung bitter nötiger Pausen. Derlei Unwägbarkeiten sind nicht zu vermeiden, machen das Festival aber zur Tortur, wenn sie zur Regel werden. Daß die Wittener Tage schlechter besucht waren als sonst, mag dagegen an der Verschiebung in den Mai und dem herrlichen Ausflugswetter gelegen haben.