MusikTexte 111 – November 2006, 99

Die Avantgarde jenseits der Avantgarde dokumentiert

Alternative Gruppen- und Studiogründungen im Köln der sechziger und siebziger Jahre

von Rainer Nonnenmann

„Wer zog die Fäden, als sich das Rheinland um 1960 aufmachte, jahrzehntelang zur wichtigsten Kunstregion neben New York zu werden?“ Die Frage steht am Anfang der neuen Editionsreihe der Kunststiftung NRW „Energien / Synergien“, die im wesentlichen auf Gesprächen mit damaligen Protagonisten basiert. Nach bisher drei Bänden im Broschur-Format zur Bildenden Kunst sind jetzt gleichzeitig drei Bände zu musikalischen Gruppen- und Studiogründungen in der einstigen „Welthauptstadt der neuen Musik“ Köln erschienen, allesamt Initiativen, mit denen sich die damals junge Generation von ihren Lehrern und der zunehmend als etabliert, institutionalisiert, akademisch erstarrt und verbraucht empfundenen neuen Musik abzugrenzen suchte.

Chronologisch der erste Ausbruch aus gängigen Formen, Stilen und Hörerkreisen war 1968 die Gründung der Avantgarde-Rockband „CAN“. Ein Pianist und Kapellmeister (Irmin Schmidt), ein Kirchenmusiker und Musiklehrer (Holger Czukay), ein Komponist elektronischer Musik (David Johnson), ein Beatnik-Gitarrist (Michael Karoli) und ein Free-Jazz-Schlagzeuger (Jaki Liebezeit) vereinten ihre Erfahrungen mit klassischer, alter, außereuropäischer, experimenteller und elektronischer Musik, mit Cage, Fluxus und der Prozeß- und Interpretenmusik von Karlheinz Stockhausens „Kurzwellen“ zu einem spartenübergreifenden Konzept. Sie waren alle zum Studium nach Köln gekommen und hatten zum Teil Stockhausens „Kölner Kurse für Neue Musik“ an der Rheinischen Musikschule besucht. Statt auf HiFi und unbezahlbare teure Geräte setzte man im selbst zusammengebastelten „Innerspace Studio“ bewußt auf individuelles „LowFi“. Die Gespräche mit ehemaligen CAN-Mitgliedern werden ergänzt durch kenntnisreiche Vor- und Nachworte des Herausgebers Robert von Zahn, der die Band im Kontext der damaligen Beat-Generation verortet und Ausblicke auf ihre weitere Wirkungsgeschichte in Techno und Rave bis hin zur zeitgenössischen Elektronik-Szene gibt.

Johannes Fritsch, Rolf Gehlhaar und David Johnson hatten andere Ziele als sie 1970 das Feedback-Studio und 1971 – ohne Johnson – als ersten deutschen Kom­po­nistenverlag den gleichnamigen Verlag und die Zeitschrift „Feedback Papers“ gründeten. Auch sie hatten bei Stockhausen studiert und lange in dessen Ensemble gespielt. Nachdem sie bei der Welt­aus­stel­lung in Osaka 1970 bei zahllosen Stock­hausen-Aufführungen mitgewirkt hatten, kam es zum Bruch mit dem Meister. Als „Composer-Performer“ entschlos­sen sie sich, aus dessen Schatten herauszutreten und unabhängig von öffentlichen Mitteln in Fritschs kleinem Privatstudio in einem Hinterhaus des Belgischen Viertels ihre eigene „Firma“ zu gründen. Deren Dienst­leistungen umfaßten die „Erforschung musikalischer Kommunikationsformen, akustische Umweltgestaltung, Entwicklung öffentlicher Musikräume, Sound Service, Veranstaltungen und Konzerte mit elektronischer und elektronisch-instrumentaler Musik, Produktion von Tonbandkompositionen, Musik für zu Hause, Radio, Film, Fernsehen, Theater, Museum.“ Die Herausgeber Ger­hard R. Koch und Winrich Hopp gliedern das Gespräch mit Fritsch in systematische Kapitel zu diesen Arbeitsfeldern. In ihnen wird deutlich, wie die Idee von „Feedback“ beziehungsweise Rückkopplung oder kommunikativer Rückwirkung die einzelnen Studioaktivitäten bestimmte, vor allem die Zeitschrift, die anfangs mit simpelsten Mitteln hergestellt, und die Konzertreihe „Hinterhausmusiken“, die zum Anlaufpunkt zahlloser Kölner und internationaler Künstler verschiedener Sparten wurde. Bis heute führt Fritsch diese „merkwürdige Verschränkung von Avantgarde einerseits und Flickschusterbetrieb andererseits“ allein fort.

Gegen den vermeintlich herrschenden ästhetisch-stilistischen Konsens der WDR-Reihe „Musik der Zeit“ und der Lehrergestalten Stockhausen und Kagel wandte sich auch Walter Zimmermann, als er 1977 in einer ehemaligen Fabriketage nach dem Vorbild New Yorker Lofts sein „Beginner Studio“ eröffnete. Den Namen entlehnte er Shunryu Suzukis Buch „Beginner’s Mind“, um zu unterstreichen, daß man alles „wie ein Anfänger“ ohne Verkrustungen neu hören, sehen, erleben, durchdenken müsse. In seinem Studio veranstaltete er wöchentliche „Regenbogen-Konzerte“, die traditionelle afrikanische, japanische und indische Musik ebenso einschlossen wie Free Jazz, Rock, elektronische, neue und alte Musik, Improvisationen und Happenings, von unbekannten und namhaften Interpreten und Komponisten wie Steve Lacy, Sequentia, Kronos-Quartett, John Cage und Morton Feldman. Teilweise mitfinanziert wurden die Konzerte durch die Stadt, vor allem aber durch Mitschnitte des Deutschlandfunks und dessen neugierigen Redakteur für neue Musik Reinhard Oehlschlägel. Im Gespräch mit Bernd Leukert führt Zimmermanns sprunghafter Erzählstil zu manch störender Wiederholung, aber auch zu erheiternden Nebensächlichkeiten, wie etwa der Beschreibung von Nicolaus A. Hubers Erscheinen in perlenbesetzten Mokassins. Über weite Strecken listet Zimmermann eine Unmenge Namen aus den gesammelten Programmzetteln auf, ohne die genannten Künstler, Gruppen und Ansätze weiter zu kommentieren. Der Anmer­kungsapparat des Herausgebers sucht das zumindest selektiv aufzufangen. Darüber hinaus wäre – das gilt für alle Bände – im Anhang eine tabellarische Chronik und Dokumentation der Programme sowie ein Namens- und Werkindex sinnvoll gewesen.

Die neue Editionsreihe setzt auf orale Überlieferung durch Zeitzeugen. Das scheint Authentizität zu verbürgen, birgt zugleich aber auch die Gefahr, daß sich nach Jahrzehnten in der Erinnerung manches verschiebt, verklärt, vergrößert. Indes deuten die bisherigen Texte eher auf selbstrelativierende Bescheidenheit der Gesprächspartner statt auf überhöhende Selbststilisierungen, Heroen- oder Mythenbildungen. Alle drei Bände zur Musik sind leicht und anregend zu lesen, reich an Namen, Informationen, Anekdoten, Photos. Sie dokumentieren anschaulich die zeittypischen Gemeinsamkeiten und Verflechtungen zwischen den Initiativen und Akteuren und geben erhellende Einblicke in die Anfangszeit einer bis heute in Köln und anderswo lebendigen alternativen freien Musikszene.

Winrich Hopp / Gerhard R. Koch, Johannes Fritsch: Feedback Studio (= Energien / Synergien 4), herausgegeben von der Kunststiftung NRW, Köln: DuMont, 2006, 102 Seiten.

Bernd Leukert, Walter Zimmermann: Beginner Studio (= Energien / Synergien 5), herausgegeben von der Kunststiftung NRW, Köln: DuMont, 2006, 86 Seiten.

Robert von Zahn, Holger Czukay, Jaki Liebezeit, Irmin Schmidt: CAN (= Energien / Synergien 6), herausgegeben von der Kunststiftung NRW, Köln: DuMont, 102 Seiten.