MusikTexte 112 – Februar 2007, 93–94

Neue Bahnen?

Das Stuttgarter Festival „Eclat“ sucht nach alternativen Darstellungsformen

von Rainer Nonnenmann

Zum Wesen der neuen Musik gehört, daß sie die eigenen Voraussetzungen befragt, Gegenentwürfe zu Bestehendem aufzeigt und Experimente mit offenem Ausgang wagt. Die Suche nach alternativen Formen der Kommunikation und Präsentation von neuer Musik muß daher nicht zwangsläufig auf eine Krise deuten, zumal nicht in Stuttgart, wo international profilierte Akteure dank langjähriger guter Vernetzung im vergangenen Sommer die Weltmusiktage der IGNM ausrichteten und der Zusammenschluß „Musik der Jahrhunderte“ seit Jahren das Festival „Eclat“ veranstaltet. Und doch möchte man gerade hier aus dem oft engen und standardisierten Korsett typischer Avantgarde-Veranstaltungen ausbrechen und neue konzeptionelle, programmatische, performative und kommunikative Wege beschreiten.

Bereits das Programmheft von „Eclat“ unterscheidet sich von Broschüren anderer Festivals. Statt einen Werkkommentar an den anderen zu reihen, macht sich Festivalleiter Hans-Peter Jahn die Mühe, alle rechtzeitig eintreffenden Partituren zu studieren und selbst kurz zu kommentieren. Sein persönlicher Blick auf die Werke erspart manchem Komponisten die lästige Pflicht der Selbstbespiegelung und den Lesern allzu kryptische, narzißtische oder technizistische Auslassungen. Das vereinheitlichte Textbild hat aber auch zur Folge, daß kein Komponist mit eigenen Äußerungen vertreten ist und die vorab gefilterten Informationen zuweilen Zweifel über die eigentliche Werk­intention zurücklassen.

Auch Alternativen zum üblichen Komponistengespräch werden erprobt. Um ängstlich lavierende Zitterpartien und eloquente Personality-Shows zu vermeiden, lud man alle am Festival beteiligten Komponisten, Interpreten und besonders interessierte Hörer zu Kaffee, Sekt und Wein, um gemeinsam über die Produktion und Rezeption neuer Musik sowie die Themenschwerpunkte des Festivals zu sprechen. Gelenkt durch Fragen der SWR-Moderatorin Katharina Eickhoff, die für diese Aufgabe eigens ausgewählt wurde, weil sie sich beruflich nicht mit neuer Musik befaßt, ergab sich so tatsächlich eine angeregte Gesprächssituation mit Worten und Widerworten. Daß sich das Festival stärker am Publikum orientieren möchte, zeigt auch ein Umfragebogen, von dem sich die Veranstalter Informationen über Herkunft, Bildung, Mediennutzung und Zugänge der Besucher zu Musik insgesamt und speziell zu „Eclat“ erhoffen.

Neue Formen der Darstellung und Wahr­nehmung sucht das Festival jedoch vor allem inhaltlich durch die Programmgestaltung. Statt mit Serienuraufführungen die Maßstäbe für die Anders- und Eigenheit neuer Musik zu nivellieren, gelangten bereits in den letzten Jahren auch bewährte Stücke zu Wiederaufführungen. Dieses Jahr ging man einen Schritt weiter und kombinierte neue Werke für Sing- und Sprechstimmen mit romantischen Klavierliedern und Chorwerken. Vergleiche, Kontraste und Parallelen sollten land­läufige Vorstellungen über die historische Romantik und die „Gegenwartsromantik“ korrigieren helfen und gegebenenfalls zum Ergebnis führen, daß die Moderne – wie Jahn vermutet – als „kleine Schwester der Romantik“ erscheint.

Das Eröffnungskonzert versammelte Robert Schumanns selten aufgeführtes „Requiem für Mignon“ für Soli, Chor und Klavier mit Enno Poppes „Gold“ für sechzehn Solostimmen und achtstimmigen Chor auf Worte von Arno Holz. Das uraufgeführte Werk verläuft in drei Sätzen von Sprachpolyphonie über Glissandolinien zu rein vokalischen Liegeklängen, verrät dabei aber einen eher engen, fast schematisch und unbeholfen wirkenden Umgang mit Singstimmen, zumal mit solchen vom Format des SWR-Vokal­ensembles. Ebenso bravourös meisterten die Neuen Vocalsolisten Johannes Schöllhorns „play“ auf einen minimalistischen Text von Gertrude Stein. Die komplett statische Musik gleicht einer konzeptuellen Vexation, deren gleichmäßig dichte Klangmixturen sich im Verlauf einer halben Stunde auf repetierte Unisoni verengen. Mit quälend hohen Tönen der Sopranistin und Falsetts des Bassisten entfaltete diese Neo-Beckett-Feldmaniana jedoch nicht die körperliche Intensität wie vergleichbare Extremanforderungen in Stücken von Schöllhorns Lehrer Mathias Spahlinger.

Ferner kombinierten Sinfonieorchester und Vokalensemble des SWR unter Leitung von Matthias Pintscher dessen bereits älteres „Sur Depart“ mit Schuberts „Gesang der Geister über den Wassern“ und der Uraufführung von Manfred ­Trojahns „Che fie di me?“. Die mehr als halbstündige Klage auf Verse von Michel­angelo über Liebe, Leben, Kunst beschränkt sich auf einen schleppenden, vielleicht etwas verschleppten Lamentogestus mit gedämpften, ineinander gleitenden bitonalen und Moll-Akkorden, über denen sich weite, melodisch-geschmeidige Gesänge zweier leuchtender Solosoprane (Mojca Erdmann und Anja Kaesmacher) in der Tradition des italienischen Belcanto erheben. Daß die Versuchsanordnung aus Romantik und Moderne hier wie dort keine greifbaren Ergebnisse zeitigte, mag daran gelegen haben, daß Schuberts und Schumanns Chorwerke eher der biedermeierlichen Gesangskultur angehören und nicht der avancierten Tradition der Moderne, wie ihre bei weitem innovativeren Instrumental- und Klavierwerke.

Wie in der Vergangenheit bot „Eclat“ auch diesmal mehrere Video- und Musiktheater-Projekte. Jürgen Palmers Filme spielten mit der Fremdheit, An- und Abwesenheit von Klängen an verschiedenen Orten, um automatisierte Wahrnehmungs- und Sinneinheiten zu brechen. Die in sich verkapselten Selbstreflexionen des von Friederike Kammer eindrücklich dargebotenen Monologs „Emily Dickinsons Uhr“ auf einen Text von Jürgen Muck fanden ein optisches Pendant in der weiß getünchten, leeren Guckkastenbühne der Inszenierung von Thierry Bruehl und eine teils übersprudelnd beredte, teils statisch-monochrome akustische Entsprechung in einem Sopransolo, Klarinettenquartett und dessen elektronischer Raumprojektion von Márton Illés. „Der Brand. Proscaenium emblematicum“ von Jens Joneleit auf Kirchhofsgedanken des Barockdichters Andreas Gryphius geriet zur spannungslosen Gratwanderung zwischen Sinnbild und Klischee. Apokalyptische Posaunen, Theaterdonner und starres Rampensingen hinterlegt mit – in jeder Hinsicht – unterbelichteten Videoprojektionen von fließendem Wasser, zitterndem Laub und einem menschenleeren Stuttgarter Schloßplatz machen noch kein Musiktheater. Daß das Ensemble Modern hinter der Bühne verborgen spielte und über Lautsprecher übertragen wurde, ließ das Ganze auch klanglich verflachen. Vanitas vanitatum …

Im finalen Großprojekt „Karambolage“ nach einer Idee von Hans-Peter Jahn ­sollten die Themen Stimme, Musiktheater und Romantik zusammenstoßen, ohne daß sich die einzelnen Nummern bewußt inhaltlich aufeinander beziehen. In revueartigem Showdown wechseln Klavierlieder von Wolff, Schubert, Brahms, Strauss und Schumann mit neuen Vokalwerken von Andreas Dohmen, Jörg Widmann, Wolfgang Rihm, Hanspeter Kyburz, Matthias Pintscher und zwölf Theaterszenen aus der Feder des zugleich inszenierenden Festivalleiters. Entgegen der intendierten Befreiung der Kunstmusik der Tradition und Gegenwart von kon­servativen Festlegungen auf das Wahre, Gute, Schöne, eröffnete der bunte Reigen verschiedener Musizier- und Darstellungs­weisen, Alltags- und Kunstsphären jedoch kaum neue Perspektiven. Daß Salome Kammer in Wolfgang Rihms überlanger „Frage“ für Stimme und Ensemble eine geschlagene Viertelstunde auf ihren ersten Einsatz warten mußte, fand eine visuelle Parallele in drei vergeblich auf einen Bus wartenden Frauen. Ansonsten beschränkten sich die Relationen zwischen Musik und Szene auf Formen scheiternder Kom­munikation und teils kabarettistisch kalauernde Satiren auf den Kultur- und Musikbetrieb. Der Pfuhl an Charakterschwächen, Dilettantismen, Schund, Neid, Lüge, Heuchelei fügte sich zu einer Psychopathologie des Musik- und Gesellschaftslebens. Zurück blieben Buhrufe und Ratlosigkeit.