MusikTexte 112 – Februar 2007, 101–102

Dem Wanderer auf den Fersen

Literatur zur Musik von Helmut Lachenmann

von Rainer Nonnenmann

Im Umfeld von Helmut Lachenmanns siebzigstem Geburtstag im November 2005 erschienen mehrere umfangreiche Aufsatzsammlungen: zwei ausschließlich Lachenmann gewidmete Ausgaben des englischen Periodikums „Contemporary Music Review“, der verspätete Bericht des Lachenmann-Symposions 2002 in Salzburg, „Nachgedachte Musik“ (Pfau), die Essaysammlung „auf(–) und zuhören“ (Wol­ke) und der zur Hälfte Lachenmann gewidmete Band 46 der Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt mit dem Titel „Musik inszeniert“ (Schott). Die dabei allfällig geäußerte Klage, über Lachenmanns Musik würde nur „lachenmannisch“ gedacht und geschrieben, ist dabei längst zu einem Stereotyp geworden. Sie wird vor allem von denjenigen beschworen, die zugleich am ausgiebigsten aus Lachenmanns Schriften zitieren, statt auf der Grundlage eigener Hörerfahrungen zu argumentieren und durch genaues Partiturstudium zu prüfen, wie Lachenmanns Denken über Musik mit seinem kompositorischen Denken in Musik zusammenhängt. Allzu häufig wird so mit Lachenmann über Lachenmann an Lachenmann vorbei gesprochen. Das gilt auch für einige Aufsätze des jetzt erschienenen Lachenmann-Buches der monographischen Reihe „edition neue zeitschrift für musik“, die sich mehr mit den ästhetischen Reflexionen des Musiktheoretikers befassen als mit detaillierten Material- und Strukturanalysen seiner Kompositionen.

Die Texte verdanken sich einem Symposion, das im September 2005 in der ­Alten Oper Frankfurt stattfand. Mu­sik­wissen­schaftler, Musikjournalisten und Philo­so­phen widmeten sich dabei zwei Haupt­themen: der Schwierigkeit des Spre­chens und Schreibens über Lachenmanns Musik sowie damit zusammenhängend dem transzendenten Gehalt beziehungsweise der Semantik oder Welthaltigkeit seiner scheinbar streng material- und struktur­immanenten Werke. Jörn Peter Hiekel erörtert die Frage „Lachenmann verstehen“ statt auf der Grundlage eines auf Konsens zielenden Kommunikationsbegriffs anhand der verschiedene Grade von Dissens anzeigenden Begrifflichkeiten „Ver­weigerung“, „kritisches Komponieren“, „Distanz“, „Negation“, „Nicht-Musik“ und „Nicht-Verstehen“. Ulrich Mosch beschreibt dagegen „Verständlichkeit“ im Vergleich dreier Aufnahmen von „Klangschatten – mein Saitenspiel“ sowohl als wahrnehmendes Abtasten konkreter Klang­strukturen als auch als Klangerfahrung jenseits von Musik. Hartmut Lück spürt Text-Musik-Verhältnissen in Lachenmanns Vokalwerken sowie Parallelen zwischen Lachenmanns „Mouvement (– vor der Erstarrrung)“ und Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ nach. Hans-Klaus Jungheinrich reflektiert über das in „Ein Kinderspiel“ beschworene Kindermodell als probate Versuchsanordnung für den spielerisch unbedarften kompositorischen Einfall und das entdeckungsfreudige Hören. Vor dem Hintergrund einer atmosphärischen Gegenüberstellung von Lachenmanns und Nonos Heimatstädten Stuttgart und Venedig beschreibt Gerhard R. Koch ästhetische, kompositorische, literarische, politische und religiöse Unterschiede beziehungsweise Ähnlichkeiten der beiden Komponisten. Max Nyffeler deutet inhaltliche Transzendenzen des teils gestischen und figürlichen Klangmaterials in Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ und des darin eingelassenen Ensemblewerks „… Zwei Gefühle …“. Reinhart Meyer-Kalkus plädiert für einen „neuro-ästhetischen“ Untersuchungsansatz, indem er die Semantik von Lachenmanns Musik in synästhetischen Wechselbeziehungen von Hören und Tasten verortet und einleuchtende Beispiele für die unmittelbare Körperlichkeit, Motorik, Taktilität und Haptik der Klangerzeugung anführt.

Martin Kaltenecker entwirft eine allgemeine Systematik aus drei Musik- und Wahrnehmungsarten, um damit Lachenmanns „Nun“ mit Musik von John Cage zu vergleichen. Er unterscheidet: „Neue-“ oder „Anti-Musik“, die sich im Verhältnis zur musikalischen Tradition definiert und vom Hörer diskursives Einordnen verlangt; „Nicht-Musik“, die sich in Bezug auf die konkrete Materialität des Klingenden bestimmt und passiv aufgenommen wird; „Auch-Musik“, die Über­tragungen in andere, auch außermusikalische Zusammenhänge gestattet und den Hörer zu aktiven Zuschreibungen, Projektionen und hermeneutischen Paraphrasen herausfordert. Albrecht Wellmer benennt mit der „Sinn-Dimension“ und „Welthaltigkeit“ zwar ein Wesensmerkmal des Kunstcharakters von Lachen­manns Musik, bleibt dabei aber so allgemein, daß seine Ausführungen austauschbar werden und sich auf jede Kunst übertragen lassen. Mit der Rechtfertigung, seine „philosophischen Variationen über ein Thema von Lachenmann“ hingen schon allein deshalb „nicht gänzlich in der Luft“, weil Lachenmanns eigene ästhetische Reflexionen aufs Engste mit seiner kompositorischen Arbeit verknüpft seien, münzt Wellmer die eigentliche zentrale Frage nach dem komplexen Zusammenhang von Lachenmanns Denken in und über Musik vorschnell zur Antwort um. Daß aus historischem Abstand scheinbare Gegensätze zusammenrücken können, problematisieren Jan Müller-Wielands Vergleich von Lachenmann und Hans Werner Henze sowie die Parallelisierung von Berios „Sinfonia“ und Lachen­manns „Accanto“ in der von Jürg Stenzl geleiteten Abschlußdiskussion.

Der Herausgeber erwähnt im Vorwort, Lachenmann habe beim Frankfurter Symposion die vorgetragenen Referate auch in Frage gestellt oder zurecht gerückt. Bis auf Ulrich Mosch hat jedoch keiner der Autoren die Chance solch erhellender Kontoverse genutzt und nachweislich Lachenmanns Einwände in die schriftliche Vortragsfassung eingearbeitet. Auch sonst werden argumentative Konflikte nicht problematisiert oder gar gelöst. Der offensichtliche Widerspruch zwischen Lachenmanns Auffassung, „me­taphorisches Komponieren – geschweige metaphorisches Hören – funktioniert niemals“, und der Licht-, Wärme-, Kälte-Metaphorik und christlichen Symbolik in seiner Oper führt zu keiner produktiven Reflexion des prinzipiellen Doppelcharakters seiner Musik als konkrete Materialstruktur und existentielles Erfahrungsangebot. Statt dessen werden traditionell ­polarisierende semantisch-affektive Zuschreibungen vorgenommen: hier die Verknüpfung von Geräuschen mit Lüge und Tod, dort Klang und Gesang mit Wahrheit, Schönheit, Leben beziehungsweise der „Auferstehung des Klangs aus den Grüften des Geräuschs“ (Seite 85). Ungelöst bleibt auch der Widerspruch zwischen der theoretisierenden Festlegung Lachenmanns auf einen genuinen Instrumentalkomponisten und der musikologischen Praxis, vor allem seine Vokalwerke auf der Grundlage der darin in Musik gesetzten Texte zu deuten, statt sich wirklich einmal der Herausforderung zu stellen und den außermusikalischen Gehalt der Instrumentalwerke zu umreißen. Daß sich die Hälfte der Beiträge auf die beiden Vokalwerke „… Zwei Gefühle …“ und „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ aus ein und derselben Schaffensphase konzentriert, verrät gegenüber Lachenmanns inzwischen über fünfzig Werke und fünfzig Jahre umfassendem Œuvre einen allzu verengten Blick. Die Folge sind nicht nur zahlreiche Redundanzen zwischen den Textbeiträgen, sondern auch die beharrlich wiederholte Behauptung, Lachenmann habe seit den späten achtziger Jahren zu einem neuen Umgang mit dem herkömmlichen philharmonischen Orchesterklang gefunden. Das ist zwar richtig, verkennt aber zugleich, daß bereits die ersten, seit Ende der sechziger Jahre entstandenen Werke der „musique concrète instrumentale“ an zentralen Stellen tonale, musiksprachliche Elemente einbeziehen, um in verändertem Kontext das fremd gewordene Vertraute neu erlebbar zu machen. Es gibt eben mehr Dinge in Lachenmanns Kunst, als unsere musikologische Schulweisheit sich träumen läßt.

Hans-Klaus Jungheinrich (Herausgeber), Der Atem des Wanderers. Der Komponist Helmut Lachenmann, Mainz: edition neue zeitschrift für musik, 2006.