MusikTexte 113 – Mai 2007, 81

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Die Wittener Tage für neue Kammermusik

von Rainer Nonnenmannn

Die gegenwärtige Phase der Musikgeschichte, in der alles möglich, aber nichts nötig zu sein scheint, läßt immer mehr Komponisten nach Gründen außerhalb von Musik suchen, um ihre Werke zu rechtfertigen und die offene Frage zu beantworten, was man eigentlich versteht, wenn man Musik zu verstehen meint. Wer das Dilemma von Form und Gehalt nicht einseitig mit inhaltsästhetischen Festlegungen lösen möchte, sucht durch die Art der musikalischen Gestaltung zumindest indirekt analoge Strukturen der außermusikalischen Wirklichkeit und deren Wahrnehmung erfahrbar zu machen. Die Wittener Tage für neue Kammermusik boten dieses Jahr unter dem Thema „Stimme“ ein breites Spektrum an teils neuen und ungewöhnlichen Abtastvorgängen und Abbildungsverhältnissen zwi­schen Musik und Sprache, Texten, Körpern, Gesten, Geschichten, Figuren, Bildern.

Eröffnet wurde das von WDR und Stadt Witten unter Leitung von WDR-Redakteur Harry Vogt veranstaltete dreitägige Uraufführungsfestival mit einer Auswahl aus Peter Ablingers auf insgesamt achtzig Ein­zelstücke projektierten „Voices and Pia­­no“. Der eigenwillige „Liederzyklus“ über­trägt vom Tonband erklingende Reden bekannter Persönlichkeiten mit Hilfe eines Spracherkennungsprogramms simultan möglichst getreu auf Klavier. Daß der Wiener Komponist dazu ausgerechnet ein Instrument wählte, dessen stets di­minu­ie­rende distinkte Tonhöhen schwer­lich die Feinheiten sprachlicher Intonation und Modulation wiedergeben können, mag wi­dersinnig erscheinen. Indes geht es ihm nicht um naturalistische Imitation gespro­chener Sprache, sondern um analytische Reduktion sprachlicher Komplexität auf tonal-rhythmische Raster. Als lebender Pho­nograph zeichnete Pianist Nicolas Hodges jedes „Äh“ ebenso unerbittlich nach wie Ezra Pounds gemessene Erzählweise, Rolf Dieter Brinkmanns lapidare Gesellschaftskritik, Billie Hollidays fast singende und von Lachen unterbrochene Sprechstimme, Hanna Schygullas anrührend naives Rätseln über den Klang ihres Namens sowie das schneidende Chinesisch des großen Vorsitzenden Mao Tse-Tung, von dessen Rede man doch gerne gewußt hätte, was er verkündet, bevor man applaudiert. Abgesehen von verhuschten Jazz-Klängen im Holliday-Stück spielte für Ablinger der Inhalt des Gesagten jedoch keine Rolle, wie auch seine Übersetzung der Rosenkranz-Gebete seiner Eltern auf zwei Selbstspielklaviere zeigte.

Ganz auf Sprache gründet sich das Werk des in Paris lebenden Griechen Georges Aperghis, der Blasinstrumente wie menschliche Stimmen plappern und singen läßt. Für sein märchenhaftes „Spectacle musicale“ mit dem Titel „Zeugen“ kombinierte er Texte aus Dramoletten Robert Walsers mit nachgebauten Handpuppen von Paul Klee, deren Knopfaugen, Bemalungen und Stoffreste-Kleider per Video abgetastet und projiziert wurden. Salome Kammer und Christopher Widauer liehen den stummen Zeugen ihre Stimme, um die verschiedenen Puppenschicksale und Präsentationsebenen zu einer seltsam brüchigen Poesie zu verflechten. Begleitet wurde das Schauspiel von einem bis zur Nebensächlichkeit schattenhaften Instrumentalensemble mit statischen Flächen, Rankenwerk und Repetitionen.

Auf das dünne Eis interaktiver Ansätze wagte sich Ivan Fedele mit „Capt-Actions“. Arditti Quartet und Akkordeonist Teodoro Anzellotti wurden hierzu mit Sensoren und einer eigens entwickelten Informationstechnologie verkabelt, über welche die Spielgesten der Musiker in Echtzeit den Notentext beeinflussen sollten. Ganz Witten schenkt ihm sein Computerprogramm: die live-elektronischen Reaktionen blieben verschwindend gegenüber den rein instrumental durchaus ansprechenden Wechseln von zartem Flageolett-Lyrizismus mit virtuosen Rasereien, zupackenden Tremolo- und Quetsch-Passagen, wie sie auch in Fedeles viertem Quartett „Palimpsest“ zu hören sind. Überzeugender wirkte „Arbeit“ von Enno Poppe, der einen von Ernst Surberg virtuos traktierten Synthesizer benutzte, um eine virtuelle Hammondorgel zu simulieren mit Anklängen an Zupfbaß, Oboe und schön häßlich aufkreischende E-Rockgitarren.

Wieder andere Übersetzungsverhältnisse boten Isabel Mundrys „gesichtet, gesichelt“ für Stimme, Trompete und drei Chorgruppen und Walter Zimmermanns „Voces Abandonadas“ für Klavier. Dort tasteten Salome Kammer, Marco Blaauw und der WDR Rundfunkchor Köln einem Text von Thomas Kling mime­tisch nach. Hier reihte der sagenhaft vielseitige Nicolas Hodges zahllose Charakterfragmente auf Sentenzen des argentinischen Dichters Antonio Porchia so aneinander, daß sich durch vereinzelte Wiederholungen und Zitate von Purcell, Mozart, Wagners „Tristan“ und älteren Stücken Zimmermanns dennoch ein größeres Ganzes in der Art eines musikalischen Tagebuchs entfaltete. Vykintas Baltakas fand beim Versuch, in seinem Streichquartett „b(ell tree)“ Schweizer Kuhglocken nachzuahmen, zu subtiler Musikantik und leicht folkloristischen Färbungen. Carola Bauckholts Transkriptionen von alterssenilen Seufzern und Babygelalle schließlich fanden durch die Stimm- und Verwandlungskünstlerin Salome Kammer kongeniale Rückübersetzungen in kreatürliche Lautäußerungen.

Rein innermusikalische Klangtransformationen ohne deskriptive Absicht verfolgte der 1971 geborene Witten-Debütant Jérôme Combier, dessen „Sables de vieux os“ ein großes Arsenal an Kuhglocken, Tempelgongs und Handtrommeln mit zwei präparierten Klavieren verband. Mit diesem Stück erstmal öffentlich in Erscheinung trat das „Ensemble 2 x 2“, zu dem sich jüngst die Pianisten Heather O’Donnel und Benjamin Kobler mit den ebenso hervorragenden Schlagzeugern László Hudacsek und Rie Watanabe zusammengeschlossen haben. Komponisten dürfen sich fortan glücklich schätzen, für diese junge Formation zu schreiben.

Zu vielversprechenden Begabungen ihrer Generation gehören Hans Thomalla und Márton Illés. Beide sind 1975 geboren und setzen sich kritisch mit der (Un)-Möglichkeit von Komponieren heute auseinander. Thomalla, Schüler von Hans Zen­der und Brian Ferneyhough, präsentierte mit „Bebungen“ für das trio recherche eine Musik, die sich wie auf der Flucht vor sich selbst nach allen Richtungen verrennt: Dur-Moll-Schwankungen ver­festi­gen sich zu Preßgeräuschen, auffahrende expressive Gesten verebben im Nichts, weit gestreckte Skalen irren in ziellose Hö­hen und mikrotonale Klangflächen ma­chen die Orientierungslosigkeit perfekt. Illés, Schüler von Detlev Müller-Siemens, Michael Reudenbach und Wolfgang Rihm, bot mit dem dritten Stück seines Werkzyklus „Torso“, uraufgeführt vom Ensemble Modern unter Leitung von Lucas Vis, ein hochenergetisches Konglomerat hohldrehender Marsch- und Walzerbegleitfloskeln, die ohne thematisches Zentrum wie die Speichen eines Rads ohne Nabe so lange wild durch die Luft klappern, bis sie in Einzelteile zerfallen. Lange Momente der Stille folgten … und Applaus!