MusikTexte 115 – November 2007, 83

Please! No Music!

Moritz Eggerts Oper „Freax“ in Bonn

von Rainer Nonnenmann

Dass sich ein Komponist von der Inszenie­rung seiner Oper distanziert, kommt vor. Wohl einzigartig ist, dass der Regisseur den Komponisten fallen lässt, weil sich herausstellt, dass ihre Auffassungen über die Darstellung des behandelten Stoffs un­vereinbar sind. Sehenden Auges sind The­ater Bonn und Beethovenfest Bonn mit vollen Segeln auf eine solche Kollision zugesteuert – und kläglich gekentert. Im letzten Moment trennte sich Regisseur Christoph Schlingensief von Moritz Eggerts Oper „Freax“. Als Torso übrig blieb die halbszenische Uraufführung der Oper mit Kostümen von Aino Laberenz in der Art von Oskar Schlemmers Triadischem Ballett und einem auf Simultanszenen angelegten Dreh-Bühnenbild von Thekla von Mülheim und Tobias Buser. Getrennt davon lief während der Pause im Opernfoyer Schlingensiefs Filminstallation „Fremdverstümmelung“ als eigener Zugang zu Tod Brownings Film „Freaks“ über Schwerstbehinderte von 1932.

Die Bonner Intendanz hätte wissen müssen, dass zwischen beiden Künstlern keine Zusammenarbeit möglich ist. Seit Jahren verfolgen sie diametrale ästhetische Konzepte und dramaturgische Wege. Der eine ist die Fehlbesetzung des anderen. Scheitern war vorprogrammiert. Indes ist Scheitern ein zu großes Wort für die Unverfrorenheit, mit der man unbeirrt sein eigentliches Ziel verfolgte: mit Hilfe von „Skandalregisseur“ Schlingensief möglichst große mediale Aufmerksamkeit für die erste Uraufführung am Bonner Stadttheater seit zehn Jahren zu erzwingen. Entsprechend gut besucht war die Pressekonferenz vor den beiden amputierten Separat-Premieren.

Während Generalintendant Klaus Wei­se das Debakel als modellhaften Entstehungsprozess progressiven neuen Musiktheaters zu preisen suchte, brachte Schlingensief die verfahrene Situation auf den Punkt, als er mit Blick zum Intendanten fragte, „Warum hat man mich nicht früher rausgeschmissen?“ Indes fällt der Vorwurf der Fehleinschätzung auf den Regisseur und Filmer selbst zurück, der sich hätte kundig machen müssen, mit welcher Musik er es zu tun bekommen würde. Trotz allseits bekundeter Freundschaftsbeteuerungen und dem von Schlingensief beigebrachten ärztlichen At­test, seine Inszenierung sei in erster Linie durch die Infektion seiner Augen mit „Adeno-Viren“ vereitelt worden, klangen die grundlegenden ästhetische Differenzen durch, über denen man sich entzweit hatte. Schlingensiefs Hinweis, für die Regie in der Art eines Ausstattungsmusicals von Andrew Loyd Webber, hätte man jemand anderes suchen müssen, ließ ahnen, was er tatsächlich von Eggerts Musik hält.

Seit fünfzehn Jahren wollte sich der 1965 in Heidelberg geborene Eggert angeblich bereits mit Brownings altem „Freaks“-Film befasst haben, was ihn jedoch nicht abhielt, in der Zwischenzeit zehn (!) andere Opern zu schreiben, zuletzt die in Zusammenarbeit mit Hans Neuenfels 2004 in Mannheim uraufgeführte Oper „Die Schnecke“ und das mit dem Autor des Schalke-Musicals Michael Klaus im Rahmen von RuhrTriennale und WM-Kulturprogramm 2006 in Gelsenkirchen uraufgeführte Fußball-Oratorium „Die Tiefe des Raumes“. Das neueste Werk „Freax“ des agilen Pianisten und Mitbegründers des seit zehn Jahren bestehenden Münchner Festivals „A*De­vant­garde“ ist eine Handlungsoper, wie sie konventioneller nicht ausfallen könnte. Sie lässt kein Klischee aus und will nichts von Missbildungen wissen. Handwerklich gekonnt gemacht und von Wolfgang Lischke sicher dirigiert reiht sie in bunt-virtuoser Jahrmarktsfolge Schnulzen, Gassenhauer, Märsche, Walzer, Blaskapellen-Polkas, Jazz-Combos, Songs, Chansons, Choreinlagen in der Art der Comedian Harmonists bis hin zum Beet­hoven-Jubelchor „Freude schöner Körperformen“. So gleicht die Musik eben dem abgeschmackten Kuriositätenkabinett, in dem bis in die 1930er Jahre hinein – wie Brownings Film zeigt – verstümmelte Menschen zur Schau gestellt wurden. Eine kongeniale Entsprechung fand der Musik-Mix des Killmayer- und von Bose-Schülers im Phrasen- und Kalauerreichen Textbuch der Düsseldorfer Librettistin Hannah Dübgen.

Wer anfangs noch dachte, die überzuckerten Hollywood-Serenaden, schmachtenden Geigen und eitlen Sequenzenketten seien Parodien auf die Geldgier, Bosheit und Verlogenheit, mit der die schöne Sängerin Isabella (strahlend Julia Rutigliano) den zwergwüchsigen Franz (souverän in großer Partie Thomas Harper) hintergeht, wurde schnell eines Anderen belehrt. Die eindimensionale Musik des dut­zendfach mit Preisen und Stipendien bedachten Komponisten macht keinen Unterschied zwischen der Rahmenhandlung und dem Theater auf dem Theater, in dem die Opernsänger als „Freax“ auftreten. Statt mehrschichtige Musik über Musik sind die pathetischen Chöre, melodramatischen Arien und Ensembles alle ernst gemeint. Neben den gespielten „Freax“ lässt Eggert keinen Platz für die echten Behinderten, mit denen Schlingensief seit 1993 an der Berliner Volksbühne arbeitet.

Dasselbe gilt für die Showeinlagen der „Freax“, die nichts von den körperlichen und seelischen Freuden und Qualen Behinderter vermitteln. Stattdessen macht sich die Musik mit dem Showbusiness gemein, das sie zu kritisieren vorgibt. Das zeigen ein großes Duett der Siamesischen Zwillinge über ihre jeweils „bessere Hälfte aus einem Ei“ und ein Liebesduett, das ein zwischen Bariton und Counter-Tenor ständig wechselnder Hermaphrodit mit sich selbst singt. Der spontane Szenenapplaus, den Hege Gustava Tjönn, Barbara Schmidt-Gaden und der überragende Otto Katzameier für diese „komischen“ Einlagen erhielten, verschmolz bruchlos mit den aus dem Off eingeblendeten Lachern, die sonst die Auftritte und Verspottungen der „Monster“ wie bei einer Comedy-Show quittierten. An die Stelle der nötigen epischen Brechung tritt vordergründiges Entertainment auf Kosten der geschundenen Kreaturen.

Schlingensiefs „Fremdverstümmelung 2007 – Freax: Ein installativer und filmischer (sechzehn Millimeter) Diskurs“ zeigt dagegen Momentaufnahmen von Bühnenproben an der Bonner Oper sowie eingeblendete Texte von Theodor W. Ador­no, Luigi Pirandello, Erving Goffmans „Stigma“ und Schlingensief selbst, die dem von Eggert bedienten Opernbetrieb eine unmissverständliche Absage erteilen: „Das Takten nach Noten ist wie das Malen nach Zahlen“. Hinter halb durchsichtiger Filmleinwand stellen die behinderten Schauspieler von Schlingensiefs Berliner „Familie“ als lebendes Bild die Hochzeitstafel aus dem alten „Freaks“-Film nach. Die sich damit überlagernden, teils erschütternden Filmprojektionen gipfeln in der Kreuzigung eines Verkrüppelten inmitten der versammelten Gemeinde Zwergwüchsiger, während schrilles Dauerläuten zum zweiten Akt der Oper ruft, als gälte es für das Publikum, zwischen Schlingensief und Eggert zu wählen. Klare Entscheidungshilfe dazu gab Schlingensiefs ebenso eindringliche wie im Nachhinein verständliche Bitte: „Please! NO MUSIC!“