MusikTexte 118 – August 2008, 105–106

Mänadentanz und großes Welttheater

Neue Compact Discs

von Rainer Nonnenmann

Ein Amerikaner in Köln

Der amerikanische Komponist und Schlagzeuger Michael W. Ranta kam 1967 als Fünfundzwanzigjähriger in die Bundesrepublik, wo er unter anderem mit Kagel, Lachenmann, Riedl und Stockhausen zusammenarbeitete. Während der siebziger Jahre lebte und lehrte er in Taipei europäische Schlagzeuginterpretation und gab Konzerte in vielen Städten Ostasiens. Beeinflussen ließ er sich durch die taiwanesische, chinesische und japanische Musik und Kultur. 1979 zog er nach Köln, wo er die Perkussionsgruppe „Transit“ gründete, zu einem Wegbereiter der New Age-Musik wurde und einen internationalen Handel mit asiatischen Schlaginstrumenten aufbaute.

Seine neueste Digitalplatte (Nürnberg: B. & A. Dietrich, 2005) enthält aus seinem mehrstündigen Werk „Yüen Shan“ für Schlagzeug und achtkanaliges Tonband den Teil „I-Shr (Ritual II)“, benannt nach einem runden, kultischen Berg in Taipei. Die traditionelle Funktion des Schlagzeugs als Instrument zu Rhythmus und naturalistischer Lautmalerei ist hier konsequent aufgegeben zugunsten des Farbreichtums eines ganz eigenen Klangkosmos aus in­strumentalen und elektronischen Klängen. Glocken und Tempelgongs verleihen dem Stück eine spirituelle Aura und weiten Atem. Die Einspielung ist eine der letzten des Nürnberger Schlagzeug-Quartetts CABAZA, das sich nach über zwanzig Jahren aufgelöst hat. Sie entstand in einem leeren Schwimmbad, dessen hallige Akustik die Musik auf sanften Wellen durch Raum und Zeit schweben lässt.

Vorspiel zum großen Welttheater

Rückblickend erweisen sich Karlheinz Stockhausens „Momente“ als eine Vorstufe zu seinem späteren großen Weltthea­ter, der siebenteiligen Kosmogonie „Licht“. Auch ohne Szene entfaltet dieses Stück vom Anfang der sechziger Jahre opernhafte Dimensionen: mit verschiedensten Artikulationsmöglichkeiten bis hin zu Klatschen und Stampfen sowie einer babylonischen Vielstimmigkeit an Texten in vier Sprachen: aus der Bibel, aus Literatur, Märchen, privaten Briefen und Ausrufen von Eingeborenen aus Britisch Neuguinea. Gemäß Stockhausens Idee der vieldeutigen Form müssen sich die Interpreten aus einem Fundus an Ereignissen und Formelementen zunächst eine eigene Fassung erarbeiten, um diese dann zur Aufführung zu bringen.

Nach der Teiluraufführung in Köln 1962 und einer Pariser Aufführung 1965 sowie Stockhausens „Europa-Version“ von 1972 bietet die Doppel-Compact-Disc (Kürten: Stockhau­sen-Verlag, um 1999) die zweite Gesamtaufnahme des Werks in einer Neufassung des Dirigenten Rupert Huber von 1998 mit entsprechend anderer dramaturgischer Abfolge. Die veränderte Wirkung verdankt sich auch den Interpreten: der überragenden Solosopranistin Angela Tun­stall, deren dominierende Gesangs- und Sprechpartie stellvertretend für die Stimme der Liebe in verschiedenen Ausprägungen steht, dem in Einzel- und Gruppenleistungen lebhaft agie­renden WDR Rundfunkchor und dem Ensemble musikFabrik, das mit zwei Synthesizern, acht Blechbläsern und drei Schlagzeugern die Massivität und Opulenz eines Sinfonieorchesters entfaltet.

Stockhausens Beihefttext beschränkt sich auf eine technizistische Beschreibung der Kombinationen klanglicher, melodischer und rhythmischer Gruppencharaktere „Klang-Momente“, „Dauern-Momente“ und „Melodie-Momente“ zu verschiedenen Kombinationen. Verlauf und Aussage der Musik darf indes jeder Hörer selbst erleben. Erst am Vorabend seines plötzlichen Todes war es Stockhausen vergönnt, die in jahrelanger Arbeit endlich fertig gestellte Partitur druckfrisch in Händen zu halten: hundert großformatige Notenblätter, lose und ungebunden abgelegt in einem eigenen Trage­köffer­chen: mobil für weitere Fassungen.

Polnische Fasslichkeit

Die über hundert Werke von Krzysztof Meyer sind frei-atonale neue Musik. Zugleich wirken sie vertraut, da sie die musiksprachliche, expressive Tradition von Klassik, Romantik, Moderne fortsetzen. Der 1943 in Krakau geborene Komponist studierte unter anderem bei Krzysztof Penderecki und Nadia Boulanger. Von 1988 bis 2008 unterrichtete er Komposition an der Kölner Musikhochschule. Er ist Verfasser einer Monographie über Dimitri Schostakowitsch, mit dessen Musik seine eigene auffallende Ähnlichkeiten aufweist hinsichtlich Melodik, themati­scher Verarbeitung und der Klarheit formaler Entwicklungen.

Die Platte (München: Pro Viva, ohne Jahr [ISPV 192]) bietet eine Auswahl aus Meyers Solo- und Kammermusik für Streichinstrumente. Die „Canzona“ für Violoncello und Klavier opus 56 gehört – der Fasslichkeit ihrer Thematik und Form wegen – zu seinen meist aufgeführten Werken. Das Stück basiert auf zwei Viertonfolgen, die die Interpreten David Geringas und seine Partnerin Tanja Schatz in eindringlichem Spannungsbogen durch­führen, kontrapunktieren, variieren, steigern und wieder in die Ausgangslage zurückleiten. Gut durchhörbar ist auch die Verarbeitung der spieltechnischen Dispositionen der Violinsonate opus 36 in der Wiedergabe von Wolfgang Marschner. Die Streichquartette opus 95 und opus. 103, vom polnischen Wieniawski-Quartett intensiv musiziert, beruhen beide auf wechselnden Tempo-, Energie- und Erregungszuständen zwischen Raserei und Ruhe, auffahrenden Gesten und lethargischem Zurücksinken.

Der volle, wilde Klang

Die „Sehnsucht nach dem vollen, wilden Klang“, die Hans-Werner Henze von seinen Anfängen an verspürte, ist in allen seinen auf dieser Digitalplatte versammelten Werken zu hören (Frechen: Delta Music [Capriccio CD 71134], 2007). Mit großer instrumentatorischer Virtuosität gewinnt er dem Orchester unterschiedlichste Facetten ab, Zartes und Gewaltsames, Helles und Dunkles, Ruhe und Sturm, je nach programmatischer Intention.

In den „Nachtstücken und Arien“ vertonte Henze Gedichte von Ingeborg Bachmann, die er 1952 auf einem Treffen der „Gruppe 47“ kennengelernt hatte und mit der er sich schnell befreundete. Mit tonalem, wenn auch immer wieder brüchigem Schönklang, der sich hörbar atmosphärisch an die „Nachtstücke“ von Mahlers Siebter Sinfonie anlehnt, singen seine Stücke und Arien von Liebe und Lyrik im Zeitalter des kalten Kriegs unter wachsender atomarer Bedrohung. Bei der Uraufführung im Rahmen der Donau­eschinger Musiktage 1957 musste diese Emotionalität wie Verrat an der atonalen Avantgarde wirken. Hätten Boulez, Stockhausen und Nono aber den Saal nicht bereits nach wenigen Takten verlassen, hätten sie bemerken können, dass die zu Anfang romantizistischen Sehnsuchts-Soli von Horn und Geigen bald brutalen Blechbläser- und Schlagzeugattacken weichen, wie sie zur selben Zeit auch Nono in seinem „Canto sospeso“ mit ähnlich anklagendem Impetus – wenn auch auf völlig anderer technischer Grundlage – komponierte. Die hohe Gesangspartie ist mit Claudia Barainsky nahezu ideal besetzt. Ihr heller, lyrischer Sopran lässt sich auf dem Live-Mitschnitt aus der Kölner Philharmonie jedoch mit unzulänglicher Textverständlichkeit und oft allzu viel Vibrato vernehmen. Während sich die nachträgliche leichte Verhallung der Aufnahme ungünstig auf die Verständlichkeit der Singstimme auswirkt, hüllt sie dagegen gnädig ihren Mantel der Unschärfe über die intrikaten Ausschläge, mit denen die Geiger des Gürzenich-Orchester zu Beginn des letzten Nachtstücks aufgekratzt durch die Lagen zu zucken haben.

Auf extremen klanglichen Gegensätzen basiert auch „Adagio, Fuge und Mänadentanz“. Henze stellte diese Suite 2005 aus Passagen des dritten Akts seiner Oper „Bassariden“ zusammen, vierzig Jahre nach der Uraufführung dieses opulenten Bühnenwerks bei den Salzburger Festspielen. Die drei direkt ineinander übergehenden Sätze bilden eine Art Symphonische Dichtung, die mit sogartiger Dramatik dem Höhepunkt entgegentreibt: der Blutorgie berauschter Bacchantinnen. Schon zu Beginn drängen sich in ein lichthelles Adagio dunkel dräuende Bassklarinetten-Fieberkurven. Auch wenn die Gegenspieler der Oper, König Pentheus von Theben und der Gott des Weins und Rauschs Dionysos, kaum je eindeutig aus dem Orchester herauszuhören sind, ist doch die Verschlingung der menschlichen Dualismen Verstand und Gefühl, Ratio und Eros, für die beide einstehen, in meisterliche Kontrapunktik gebracht.

Musikdramatischen Charakter hat auch die 1992/93 komponierte „Sinfonia N 8“, zu der sich Henze durch Shakespeares „Sommernachtstraum“ inspirieren ließ. Mit Mendelssohns stilisierter Romantik hat sein Griff in die volle Farbpalette des sinfonischen Apparats indes wenig gemein. Der groteske zweite Satz gipfelt im Versuch der Elfenkönigin Titania, den zum Esel verzauberten Handwerker Zettel zu verführen. Zu hören ist die Szene als koboldartiger Walzer mit kreischen­den Holzbläsern und tölpelhaft dreinfahrender Tuba und Posaune. Rhythmisch ist hier das Gürzenich-Orchester unter Leitung von Markus Stenz nicht ganz auf dem Punkt: kunstvolles Stolpern will gut studiert sein. Der in frenetischer Raserei fortstürmende Schluss mit furiosen „Sacre“-Anklängen kann sich indes hören lassen.