MusikTexte 119 – November 2008, 64–66

Eulenspiegel der neuen Musik

Ein Epitaph für Mauricio Kagel

von Rainer Nonnenmann

„Bereits das Vorhandensein von Musik kann als Zeichen einer täglich wiederholbaren Utopie auf Erden gedeutet werden.“

Mauricio Kagel

Die dichte Folge, in welcher der Schwerkranke während der letzten Jahre Werk auf Werk häufte, ließ ahnen, wie sehr er bereits gegen die Zeit anschrieb. Bis zuletzt arbeitete er – in Gedanken beim jahre­langen Siechtum der späten Lebensjahre Heinrich Heines – an einem Stück mit dem Titel „In der Matratzengruft – Versuch einer Beschreibung nach Worten von Heinrich Heine“, das er nicht mehr ganz fertig stellen konnte, das aber dennoch am 22. April 2009 in München posthum uraufgeführt werden wird. Am 18. September ist der komponierende Auto­didakt und neugierige Wilderer in musikalischen, musikverwandten und musikfernen Regionen im Alter von sechsundsiebzig Jahren nach längerer Leukämie-Erkrankung gestorben. Mit Mauricio Kagel verliert die neue Musik einen weiteren ihrer Gründerväter und bekanntesten Pro­tagonisten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Als Sohn russisch-ukrainisch-deutscher Immigranten an Heiligabend des Jahres 1931 in Buenos Aires geboren blieb er sein Leben lang fremd und daheim zugleich in verschiedenen Ländern, Kultu­ren, Sprachen, Stilen und Sparten. Noch in seiner argentinischen Geburtsstadt ent­wickelte er sich durch Klavier-, Violoncello-, Klarinetten-, Gesangs- und Dirigier­unterricht zum versierten Orchester- und Bühnenpraktiker. Schon während des dor­ti­gen Studiums von Literatur, Philosophie und Ethnologie drehte er erste eigene Fil­me, leitete Chöre, arbeitete als Kritiker für Film- und Photozeitschriften, begründete mit anderen die Cinémathèque Argentine, wirkte als Studienleiter der Kammeroper und als Korrepetitor am Teatro Colón unter Erich Kleiber. Auf Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdiensts kam er 1957 mit einem Stipendium nach Köln, um hier im Studio für elektronische Musik des WDR zu arbeiten. Seitdem ist er der Domstadt treu geblieben, ab 1980 mit deutscher Staatsbürgerschaft.

Mit unermüdlichem Arbeitseifer hat Kagel während fünfzig Jahren ein ebenso umfangreiches wie vielseitiges Œuvre geschaffen. Unter seinen mehr als zweihun­dert Titeln befinden sich über dreißig Bühnenwerke, zwanzig Filme und viele Hörspiele. Hinzu kommen mehrere Textbände und zahlreiche selbstgebaute In­strumente. Etliche davon gingen aus seinem Seminar „Kinderinstrumente“ bei den Kölner Kursen für Neue Musik 1971 hervor. Einige waren 2006 im Rahmen einer Ausstellung der Paul Sacher-Stiftung in Basel zu sehen, die seinen künstlerischen Nachlass verwahrt: Rollratsche, Flipperkasten, Prallkugeldosenbrett, mit Saugnäpfen bestücktes Nudelholz, Klangwürfel, Klappersandalen, Flüstertüten, Spiralfeder- und Schüttelkästen … Kagels kindlich-anarchische Lust am Spielen, Erfinden, Ausprobieren kannte keine Grenzen. 1970 ließ er in „Acustica“ zwei bis fünf Spieler mit zahllosen ungewöhnlichen Gerätschaften wie Forscher in einem verrückten Klanglabor zwischen Sinn und Unsinn agieren, mit Schläuchen, Röhren, Trichtern, Eimern, Steinen, Schallplatten, Förderband, Lötbrenner, Spielzeug und herkömmlichen Musikinstrumenten verschiedener Zeiten und Weltgegenden. Jenseits des gängigen Musikbegriffs entfaltete sich so eine ganz eigene Welt aus vielstimmigem Schwingen, Schallen, Tönen, Tröten, Rauschen: reale „musique concrète“ statt Pierre Schaeffers gleichnamiger radiophoner Klangkunst.

Der Theatermann

Als in den fünfziger Jahren die um wenige Jahre älteren Kölner Komponistenkollegen Stockhausen und Gottfried Michael Koenig mittels Elektronik an einer völlig neuen „Sternenmusik“ und möglichst präzisen Ausgestaltungen sämtli­cher Klangeigenschaften arbeiteten, brach­ten zwei Querdenker aus Übersee die streng konstruktive Vorstellungswelt der Europäer durcheinander: der Nord­ame­rikaner John Cage, dessen auf Zufallsverfahren beruhende nichtintentionale Musik als polemischer Gegenentwurf zu den totalen Beherrschungs- und Steuerungsobsessionen der europäischen Avantgarde empfunden wurde; und der Südamerikaner Mauricio Kagel, der sich auf die seriellen Determinationsbestrebungen nur einließ, um sie durch karikierende Übererfüllung zu unterlaufen. Indem er sämtliche Eigenschaften seines „Anagrama“ für Gesangssolisten, Sprechchor und Kam­merensemble von 1957/1958 aus den Worten, Silben und Buchstaben eines kurzen lateinischen Palindroms ableitete, führte er die Willkür der permutativen Verfahrensweisen und den damit verbundenen Sprachverlust ad absurdum. Und während andere krampfhaft auf die Reinhaltung ihres angestammten Metiers achteten und wieder im Frack auf die etablierten Konzertpodien strebten, erweiterte Kagel seinen künstlerischen Darstellungs- und Wahrnehmungshorizont um außermusikalische Aspekte bis hin zu Erkundungen jenseits des normierten guten Geschmacks. Seinen im Studium geschulten ethnologischen Blick richtete er distanziert-genüsslich auf die eigentümlichen Rituale des abendländischen Musiklebens mit all seinen eingespielten Abläufen des Auf- und Abtretens, Spielens, Dirigierens, Applaudierens, um sie aus veränderten Perspektiven wie die Praktiken eines fremden Kults zu betrachten, gegebenenfalls neu zu bestimmen oder über Bord zu werfen.

Die Auffassung von Musik als sowohl hörbare wie sichtbare Kunst führte Kagel zum Konzept des „instrumentalen Theaters“. Statt seine Stücke von den Interpreten einfach singen oder spielen zu lassen, komponierte er seit „Sur scène“, mit dessen Bremer Uraufführung er 1962 internationales Aufsehen erregte, vor allem Hör- und Schaustücke, welche die Rahmenbedingungen der Produktion und Re­zeption von Musik thematisierten: Raum, Licht, Requisiten, Bühnen-, Film- und Studiotechnik sowie verschiedene Funk­tionalisierungen und Erscheinungsfor­men von Musik in Gesellschaft und Medien. Alles wurde für Kagel komponierbar, auch ganz Handgreifliches wie die Bau- und Spielweisen der Instrumente oder der Alltag von Musikern mit Üben, Proben, Konzertieren, Fehlleistungen, körperlichen Gebrechen und fortschreitendem stimmlichen Verfall. In den vier Melodramen „Phonophonie“ inszenierte er 1964 das „Porträt eines Sängers aus dem 19. Jahrhundert im Zustand stimmlicher Dekadenz“. Im „Solo für einen Dirigenten“ – einer filmischen Adaption des 1962 beim ersten Fluxus-Festival in Wiesbaden uraufgeführten Stücks „nostalgie“ des ebenso erfindungsreichen Dieter Schnebel – ließ er 1967 Musik allein durch sichtbare Körperhaltung, Bewegung, Gestik, Mimik des Schauspielers Alfred Feussner assoziieren. Und in der szenischen Montage „Tremens“ stellte er 1965 mit zwei Darstellern und elektrischen Musik- und Wiedergabeinstrumenten die akustischen Halluzinationen nach, die er bei einem Selbstversuch mit psychedelischen Drogen wie Meskalin und LSD unter klinischer Kontrolle am psychotherapeutischen Institut der Universität zu Köln gemacht und protokolliert hatte.

Statt außermusikalische Handlungen darzustellen, brachte Kagel mit der Einheit von Aktion und Klang die Musik selbst auf die Bühne. Für die Wandel­szene „Pas de cinq“ notierte er 1965 exakt abgezirkelte Wegstrecken für fünf Spieler, die in verschiedenen Tempi und Schrittfolgen mit Spazierstöcken über ein Podest aus unterschiedlichen Materialien gehen, so dass die sichtbaren Bewegun­gen als Rhythmen hörbar werden. Im selben Jahr parodierte er das Prinzip des Konzertierens wortwörtlich als veritablen Wettstreit zweier Cellisten, die sich in „Match“ aggressive Bartók-Pizzikati und andere Flegeleien wie Pingpong-Bälle zuwerfen, während ein Schlagzeuger als Schiedsrichter das Geschehen zu regeln oder zu unterbrechen sucht, um immer wieder selbst zwischen die Fronten zu geraten und die Kampfhähne gegen sich aufzubringen. Viele der szenisch-musikalischen Einfälle und Aktionen Kagels gipfelten in „Staatstheater“, seinem 1971 an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführten frühen Hauptwerk. Dieses Metatheater ist eine ebenso liebevolle wie polemische Selbstreflexion des gravitätischen Opernapparats und seiner betagten Tradition. Das bürgerliche Publikum empfand das Stück als Provokation und Sakrileg, weil es seine gefühlsspendende Wärmestube beschmutzt sah. Kagel indes hatte – wie Karl Kraus – nichts zu sagen, dafür aber umso mehr zu zeigen, nicht nur entleerte Bühnenrituale, Requisiten und verstaubte Utensilien, sondern mit ihnen zugleich den ästhetischen und gesellschaftlichen Geist, Ungeist, Verhaltenskodex und Wertekanon, der sich in dieser ebenso staatsgetragenen wie staatstragenden Institution manifestiert. Surrealistische Kolportage und Montage wurden zu Kagels ureigenstem Metier.

Der Narr

Mit der Freiheit des Narren hielt Kagel dem Musikleben den Spiegel vor und deckte verdrängte Wahrheiten auf. Durch hingebungsvolle Demontage altehrwürdiger Gattungen provozierte er das Publikum und brachte zugleich die Avantgarde gegen sich auf, die in seinen Eulenspiegeleien den Versuch witterte, die Errungenschaften der neuen Musik zu verharmlosen und wieder alten tonalen Hörgewohn­heiten zu schmeicheln. Mit seinem Humor und seinem hybriden Kompromiss­ansatz einer „seriellen Tonalität“ schien er Unvereinbares versöhnen und zugleich signalisieren zu wollen, dass jeder noch so radikal sich gebende Traditions- und Tabubruch der neuen Musik letztlich nicht gar so ernst zu nehmen sei. Von manchen Kollegen wurde er als Clown und Spaßmacher verharmlost, weil er sich mal des stillen, mal auch des offen akklamativen Einverständnisses des Publikums zu versichern wusste, wenn er mit Anleihen bei Film-, Zirkus-, Tanz- und Unterhaltungsmusik oder mit demonstrativen Plattitüden und Hanswurstiaden augenzwinkernd den Unernst des Kunst- und Musikbetriebs sowie seiner eigenen Musik zu verstehen gab.

Anlässlich der Zweihunderjahrfeier Beet­hovens ließ er 1970 im Film „Ludwig van“ den Gefeierten durch seine Geburtsstadt spazieren, begleitet von Passanten-Umfragen in Bonner Einkaufsstraßen und unterlegt mit geschredderten Bruchstücken seiner Musik. Was die bundesrepublikanische Öffentlichkeit damals als Respektlosigkeit gegen den Titanen und großen Sohn der damaligen westdeutschen Hauptstadt empfand, war indes ein hintersinniger Protest gegen die Kommerzialisierung und falsche, weil einseitig konservative Vereinnahmung des revolutionären Jahrhundertmusikers. Für Kagel markierte dies den Anfang weiterer Auseinandersetzungen mit Größen des klassisch-romantischen Repertoires.

Nach seinen „Variationen ohne Fuge“ über Brahms’ „Händel-Variationen“ 1973 schrieb er ab 1980 Stücke mit und über Machaut, Schubert, Schumann, „Fürst Igor, Strawinksy“ und die „Sankt-Bach-Passion“ auf den fünften Evangelisten. Im „Mitternachtsstük“ (!) von 1981 machte er aus (alb)traumhaften Tagebuch-Prosafragmenten des achtzehnjährigen Schumann ein auf der Bühne sichtbares konzertantes Hörspiel, das die schwülen Fieberphantasien dieser spätpubertierenden mondsüchtigen Nacht- und Schauerromantik zum grellen Spuk-Comic verdrehte. Zum Stichwort „Thränenweiden“ wird hier gewimmert, zu „Wind“ gesäuselt, zu „Gebeine“ geklappert und zu allem das Kirchhofsglöckchen zwölf Mal angeschlagen. Durch parodistische Überzeichnung machte Kagel aus Schumann einen Vater der Klamotte.

Dieser Romantik-Persiflage geistesverwandt ist seine Lieder-Oper „Aus Deutsch­land“, 1981 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. Kagel stellte Gedichte deutscher Klassiker und Romantiker sowie deren Vertonungen durch romantische Komponisten, allen voran Schubert und Schumann, zu einer abendfüllenden Text-Musik-Collage zusammen. Die Inhalte und lyrischen Ichs der verwendeten Liedtexte brachte er als reale Handlungen, Personen und Kulissen auf die Bühne. So durchwandert Schuberts „Der Leiermann“ die siebenundzwanzig Opern-Nummern als wirkliche Bühnenfigur, um unter der Begleitung von knurrenden Hunden und Schubert höchstselbst am Klavier eigens verquaste Texte der „Winterreise“ vorzutragen. Kagels Versuch, der Verkitschung des Wiener „Schwammerls“ und „Liederfürsten“ entgegenzuwirken und den Protestgehalt mancher romantischer Gedichte durch den Einsatz von Gospels amerikanischer Baumwollpflücker-Sklaven zu unterstreichen, erwies sich jedoch als politisch wie stilistisch überstrapazierte Montage.

In späteren Jahren verzichtete Kagel immer mehr auf Szenisches. Im Vergleich zu seinen früheren Arbeiten, von denen einige regelrechte Skandale provozierten, lassen die späteren Werke bisweilen Biss, Witz und kritische Distanz gegenüber traditionellen Formen und Gattungen vermissen. So wurde der einstige Bürgerschreck zum Liebling selbst konservativer Abonnements-Konzerte, bei denen man seine mit kleinen Absonderheiten aufwartende Musik bereitwillig als ulkige Ausnahme von der klassischen Regel goutierte. Fast schien es, als strebte Kagel fortan nach überzeitlich klassischer Meisterschaft, was ihm Kritiker als Altersmilde, Harmlosigkeit und Einfallsschwäche attestierten. Tatsächlich wirkte sein spätes emphatisches Kunstwollen zuweilen krampfhaft, nachdem er sowohl die tiefen als auch banalen Hintergründe von Kunst und Musik sonst so gerne ironisch spitz kommentiert und demontiert hatte. Ausgerechnet das, was er zuletzt so sehr favorisierte, lag ihm nicht. Die meisten Spätwerke des einstigen Quertreibers sind normale, unterhaltsame, klassizistisch beruhigte Konzertsaalmusik, ohne Selbstironie, provozierende Radikalität und analytischen Humor. Auch im Umgang mit Kritikern konnte er – vielleicht als Folge seines verwöhnten Umgangs mit einem allzu engen Kreis getreuer Exegeten – jeden Humor verlieren und eine verletzbare Eitelkeit an den Tag legen, die ihn zu überraschend unsouveränen Ausfällen verleitete. Unliebsame Musikjournalisten erhielten private Zurechtweisungen und selbst in Leserbriefen und Zeitschriftenartikeln meinte sich der Komponist öffentlich verteidigen zu müssen. In seiner „Kritik der unreinen Vernunft“ stilisierte er sich 1982 als einsames, gehetztes Opfer der angeblich totalitären, gar faschistisch gleichgeschalteten westdeutschen Feuilletonistenschar, um mit seinen blindwütigen Tiraden letztlich doch nur ein bizarres Zeugnis seiner eigenen primadonnenhaften Selbst­verliebtheit und Maßstäbe verzerrenden Egomanie zu liefern. Vielleicht war es das Temperament des Südamerikaners, das ihn zu Übersprungshandlungen hinriss.

Der Radiomacher

In den unter seiner Regie entstandenen Hörspielen und Filmen erwies sich der leidenschaftliche Theatermann oft genug selbst als veritabler Verwandlungskünstler. Neben Schnebel war Kagel der erste Komponist, der die epische Gattung Hörspiel maßgeblich zur akustischen Kunst im Grenzbereich von Literatur, Theater und Musik umwandelte. Für seine erste rein radiophone Arbeit „Ein Aufnahmezustand“ lud er nacheinander Sänger, Sprecher und Musiker zu mehrstündigen Aufnahmen in ein WDR-Studio, wo er von der Begrüßung an alles mitschneiden ließ: Wortwechsel, Schritte, Auf- und Abbau, Mikrophonprobe, Korrekturen des Aufnahmeleiters, Reaktionen der Künstler, fühlbar werdende Spannungen, technische Störungen, Abhören und Kommentieren des Abgehörten et cetera. Das Resultat war eine Selbstbespiegelung des Mediums, ein Radiostück über das Radiomachen, bestehend aus all dem, was sonst aus Beiträgen herausgeschnitten wird, um sie sendefähig zu machen. Als Gegenstück zu seinem „instrumentalen Theater“ mit der Einheit von visueller Aktion und hörbarem Klang gestaltete Kagel seine Hörspiele klanglich so plastisch und anschaulich, dass sie ihrerseits Bilder, Szenen, Figuren und Handlungen eines genuin radiophonen Theaters assoziieren ließen. Als Kagel für „Ein Aufnahmezustand“ 1970 den Karl-Sczuka-Preis des Südwestfunks Baden-Baden für Hörspiel als Radiokunst erhielt, regte er an, die Verleihung im Rahmen der Donaueschinger Musiktage durchzuführen, was dort bis heute jedes Jahr genau so geschieht.

Den zweiten von ihm geleiteten Jahrgang der Kölner Kurse für Neue Musik 1970 veranstaltete Kagel zum Thema „Musik und Hörspiel“ in Koproduktion mit Klaus Schöning, der zwei Jahre zuvor am WDR die eigenständige Redaktion „HörSpielStudio“ etabliert hatte, die er später Dank der Arbeiten von Kagel, Schnebel, Cage, Luc Ferrari, Alvin Curran, Pierre Henry und anderen zum stilistisch offeneren „Studio für Akustische Kunst“ erweiterte. Für dieselbe Redaktion produzierte Kagel 1971 sein Hörspiel „Guten Morgen!“ aus selbst kreierten Werbespots für fiktive Abführmittel, Herren­hemden, Hörgeräte, Weinbrände, Baby­seifen und anderes. Immer wieder thematisierte Kagel die Indienstnahme von Sprache und Musik zu Propagandazwecken. Nicht umsonst stellte er die letzten Kölner Kurse für Neue Musik 1975 unter das – wenn auch skeptisch fragende – Motto „Politische Musik?“ Als Mischform aus Epik, Dramatik und Musik schuf er 1976 das Hörspiel „Die Umkehrung Amerikas“ über den neunzehnmillionenfachen Genozid der Spanischen Conquistadoren an der Bevölkerung Zentralmexikos, nachdem er im Jahr zuvor im Musiktheater „Mare Nostrum“ gerade umgekehrt ein fiktives Szenario der „Entdeckung, Befriedung und Konversion des Mittelmeerraumes durch einen Stamm aus Amazonien“ entworfen hatte. Eine politische Arbeit, die Kagel 1979 in Personalunion als Autor, Sprecher und Regisseur produzierte, ist sein Hörspiel „Der Tribun“, wo er hunderte abgedroschene Ideologeme und sich selbst entlarvende Phrasen von Diktatoren und politischen Führern deklamierte, flankiert von den stolpernden „Zehn Märschen, um den Sieg zu verfehlen“. Seine Kritik an den Mechanismen von Imperialismus, Agitation und Massenmanipulation, wie sie zu verschiedenen Zeiten in unterschiedli­chen politischen Systemen wirksam waren und sind, gründete er in kreativ-spielerischen Analysen der sprachlichen Tricks, pseudologischen Suggestionen und musikalischen Helfershelfer der jeweiligen Machthaber.

Der Fabulierer

Mit seiner großen Statur, seinen markanten Zügen und seiner sonoren, durchdringenden Stimme konnte Kagel als Sprecher und Schauspieler starke Ausstrahlung entfalten, etwa als qualmendes Jazz-Raubein in „Blue’s Blue“ von 1979. Seine deutsche Aussprache blieb dabei bis zuletzt brüchig, obwohl er fünfzig Jahre in Deutschland lebte. Mit Unvermögen hatte dies jedoch nichts zu tun, denn Kagel war zweifellos sprachbegabt. Vielmehr war es Folge seiner inneren Weigerung, perfekt zu sprechen, weil er an die Kreativität von Sprachfehlern glaubte, wie er sie in vielen seiner Werke, Textcollagen und Titel fruchtbar zu machen verstand. In den „Verborgenen Reimen“ ließ er 2007 seiner Sprachfertigkeit freien Lauf. Wie drauflos plappernde Kinder spann er Schlussverse von Gedichten aus verschiedenen Sprachen in einer Art Écriture automatique mit eigenen Nonsens-Folgen und Reimwörtern weiter, flankiert von ebenso polyglotten Anspielungen an französischen Rundtanz, spanische Tarantella und afrikanische Trommeln: „Dideldumdei. Dudelei, Tandara­dei. Mauchelei. Tausenderlei. Vogelfrei. Jederlei. Sei. Keimfrei. Kniefrei. Vorbei …“

Wie wenige Komponisten war Kagel ein Homme de lettre, ein echter Bücherwurm, und das in einem halben Dutzend Weltsprachen. Auf der Suche nach geeigneten Texten zu musikalischen Ideen erstöberte der Bibliomane in Antiquariaten und Archiven manches vergessene Werk jenseits des literarischen Kanons. In „Quirinus’ Liebeskuss“ von 2001 ließ er wie Perlen aufgereihte einsilbige Wortketten des barocken Missionars und Mystikers Quirinus Kuhlmann von einem Vokalensemble rosenkranzartig gleich mehrmals durchsprechen. Auch in anderen Werken zeigte sich seine Neigung zur Vertonung von Listen und Wortsammlungen, was gelegentlich gleichförmige Wiederholungen und simple Reihungsformen zur Folge hatte. In der Kantate „Les Inventions d’Adolphe Sax“ für Chor und Saxophonquartett von 2006 vertonte er Passagen einer Biographie und der Patentanmeldung des nach dem belgischen Tüftler benannten Instruments von 1846 als illustrierte Klangerzählung.

Nachdem Kagel 1969 die Leitung der von Stockhausen 1963 begründeten Kölner Kurse für Neue Musik an der Rheini­schen Musikschule Köln übernommen hatte, unterrichtete er von 1974 bis 1997 im Rahmen einer eigens auf ihn zugeschnittenen Professur für Neues Musiktheater an der Kölner Musikhochschule, deren Nicht-Wiederbesetzung er – der sich unersetzbar wähnte – leichtfertig mitverschuldete. Unter seinen bekanntesten Schülern leben und arbeiten bis heute in Köln Maria de Alvear, Carola Bauckholt, Johannes S. Sistermanns und Manos Tsangaris. Neben zahlreichen Preisen und Würdigun­gen erhielt er 2000 den Siemens-Musikpreis. Obwohl selbst sein Humor an Grenzen stoßen konnte, ist nicht auszuschließen, dass Mauricio Kagel noch gerne ein neues Stück auf seine eigene Beisetzung und die jetzt allerorten auf ihn erschienenen Nachrufe komponiert hätte. Immerhin hatte er sich schon 1981 zu seinem damaligen fünfzigsten Geburtstag mit „Finale“ ein eigenes Requiem geschrieben, bei dem er zum Schluss in der sowohl echten Funktion als auch gespielten Rolle des Dirigenten wie unter einem Herzinfarkt „tot“ zusammenbricht und auf dem Podium so lange bewegungslos liegen bleibt, bis der letzte im Publikum den Saal verlassen hat: requiescat in pacem!