MusikTexte 120 – Februar 2009, 88–89

„Den Frieden komponieren?“

Ein Bremer Symposion zur musikalischen Friedensforschung

von Rainer Nonnenmann

Angesichts traumatischer Erinnerungen an vergangene Katastrophen und angesichts täglicher Schreckensmeldungen über aktuelle Gewaltkonflikte weltweit ist es nur allzu verständlich, dass auch Komponisten mit ihrer Arbeit einen Beitrag zur Wiederherstellung oder zum Erhalt des Friedens leisten möchten. Der dringende Wunsch droht jedoch schnell in Verzweiflung umzuschlagen, da Musik noch nie einen Krieg verhindern konnte. Im Gegenteil, Musik wurde und wird allen Widerständen und Einsprüchen zum Trotz immer wieder zu kriegstreiberi­schen Zwecken ge- und missbraucht. Und gerade in Zeiten des Kriegs hat der Frieden einen schweren Stand, auch im öffentlichen Diskurs. Friede ist keine Nachricht wert: „Good news, no news.“ Sensation machen nur Mord und Totschlag. In der modernen Informations- und Mediengesellschaft hat sich vermutlich nicht zuletzt deswegen das Thema Frieden immer stärker zum Anti-Kriegs-Thema gewandelt. Auch im Diskurs der neuen Musik, der zumeist technische oder materiale Details verhandelt und sich fachblind über das aktuelle Zeitgeschehen erhebt, wird kaum je über Gehalt und mögliche Wirkungen von Musik nachgedacht, gesprochen, geschrieben. So entsteht leicht der Eindruck, als herrsche in den Köpfen der Musiker, Verleger, Veranstalter und Musikologen immer noch die trivialisierte romantische Auffassung von Musik als schöner Gegenwelt zur rauen Wirklichkeit.

Diesem Missstand abhelfen oder zumindest wieder einmal auf ihn aufmerksam machen wollte das Bremer Symposion „Den Frieden komponieren?“. Haupt­interesse der Initiatorin, der koreanisch-deutschen Komponistin Younghi Pagh-Paan war es, zu erfahren, wie jüngere Komponisten heute diese Frage verfolgen und gegebenenfalls beantworten. Veranstaltet wurden die insgesamt sieben Vorträge und drei thematisch darauf zugeschnittenen Konzerte zur „musikalischen Friedensforschung“ an der Hochschule für Künste Bremen. Neben Werken aus Renaissance und Barock gelangten dabei Stücke von Hans-Ola Erickson, Andreas Gürsching, Hespos, Huber, Nono, John Palmer und Isang Yun zur Aufführung sowie neuere Werke der ehemaligen Pagh-Paan-Schüler Joachim Heintz und Samir Odeh-Tamimi sowie ihrer momentanen Schüler Rucsandra Popescu und Calogero Scanio. Als Musiker wirkten neben Dozenten und Studierenden der Hochschule das Bremer Barock Consort, das Bremer Blockflötentrio Viaggio sowie mehrere ausgezeichnete Gastmusiker: Posaunist Patrick Crossland, Akkordeonist Hugo Noth, Schlagzeuger Michael Pattmann, Sopranistin Angela Postweiler, die Cellisten Max Engel und Walter Grimmer sowie als Sänger in zwei Werken von Klaus Huber die Mezzosopranistin Katharina Rikus, Tochter des Komponisten, und als Knabenstimme Samuel Rikus, sein Enkelsohn.

Zum Symposion eingeladen hatten neben Younghi Pagh-Paan der Bremer Friedensforscher Dieter Senghaas und der Bremer Musik- und Literaturwissenschaft­ler Hartmut Lück. Möglich war eine solche Veranstaltung in dieser personellen Besetzung und unter dieser Fragestellung vermutlich nur in Bremen. Immerhin hatte man sich hier bereits im November 2003 bei einem – im Jahr darauf als Buch veröffentlichten – Symposion „ars(in)hu­ma­na? Zur Position des Menschen in den Künsten unserer Zeit“ mit einer kaum geringeren Frage beschäftigt: „Was ist der Mensch?“ Wie damals diente auch jetzt die Musik Klaus Hubers als Bezugspunkt gleich mehrerer Vorträge. Der mit seiner ehemaligen Schülerin Pagh-Paan verheiratete und seit Langem mit ihr in der Hansestadt an der Weser lebende Schweizer Komponist hat seine Musik stets als „konkrete Utopie“ begriffen und mit vielen seiner Werke aus persönlicher Betroffenheit auf verschiedene Missstände reagiert. So integrierte er beispielsweise 1975 in „Senfkorn“ die Passage einer Bach-Kantate als Vorschein des vom Propheten Jesaja geschauten ewigen Friedens und bezog das Stück in sein gleichzeitig begonnenes, aber erst 1982 vollendetes Oratorium „Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet“ als utopisches Moment ein. Dass nur Emeriti und auswärtige Gäste als Referenten geladen waren, aber kein einziger Komponist oder Musikwissenschaftler der Bremer Hochschule, erklärt vielleicht, warum das Symposion bis auf die Kompositionsschüler von der Studentenschaft ignoriert wurde. Ausgiebig zu Wort kamen die Dozenten und Schüler des von Pagh-Paan an der Bremer Hochschule geleiteten Ateliers Neue Musik erst in den an die Vorträge sich anschließenden, teils lebhaften Diskussio­nen und in den Konzerten. Dabei konnten auch Außenstehende das gute partnerschaftliche, unhierarchische und anregende diskursive Verhältnis erleben, das die Studierenden der Klasse von Pagh-Paan miteinander und mit ihrer Professorin verbindet.

Mit dem Fragezeichen hinter dem Sym­posionstitel problematisierten die Veranstalter von vorneherein die Fragwürdigkeit des mit dem großen Wort „Frieden“ erhobenen Anspruchs. Über welchen Frieden sollte gesprochen werden? Über den Weltfrieden? Über Reli­gions­frieden? Privaten Seelenfrieden? Oder Ehefrieden? Militärischen, politischen, kulturellen, wirt­schaftlichen, ökologischen Frieden? Mit der Verwendung des bestimmten Artikels „Den Frieden“ unterstellte man irreführender Wei­se die Existenz eines ebenso bestimmten Gegenstands, doch Dieter Seng­haas stellte gleich zur Eröffnung in einem Grundsatzreferat klar, dass es „den vollkommenen Frieden“ nicht gibt. Der langjährige Ordinarius am Institut für Interkulturelle und Interna­tionale Studien an der Universität Bremen – Autor der Bücher „Klänge des Friedens“ (2001) und „Frieden hören!“ (2003) – erläuterte die seit den sechziger Jahren diskutierten vier „Schutzvorkehrungen des Friedens“: „Schutz vor Gewalt, Schutz der Freiheit, Schutz vor Not, Schutz der kulturellen Vielfalt“. Die Reihenfolge dieser vier „Schutzverantwortungen der internationalen Gemeinschaft“ entspricht in etwa ihrer historischen Entwicklung: vom durch eine Verfassung gebändigten Absolutismus über verbriefte Bürgerrechte und die Lösung der sozialen Frage bis zur Festschreibung von Rechtsstaatlichkeit und internationalen Menschenrechten. Parallel dazu seien in der Musik an die Stelle der affirmativen Schlachtensinfonien früherer Zeiten seit dem neunzehnten Jahrhundert zunehmend nachdenklicher stimmende Auseinandersetzungen mit dem Thema Krieg getreten.

Die weiteren Vorträge zeigten zwei grundlegende Frageperspektiven: zum einen, ob und wie Komponisten versuchen, in ihrer Musik Frieden kompositorisch zu gestalten und erfahrbar zu machen: und zum anderen, mit welchen – zur Not auch unfriedlichen – Mittel sie versuchen, den Frieden förmlich herbeizukomponieren, also mit Musik so auf die Hörer einzuwirken, dass diese – wie und wo auch immer – zu Friedensaktivisten werden. Wegen der offen gehaltenen und letztlich wenig griffigen Fragestellung des Symposions gingen die Referenten immer wieder auch auf Werke ein, in denen Komponisten ein allgemeines gesellschaftspolitisches Engagement verfolgten, das mit Frieden im engeren Sinne jedoch oft wenig zu tun hatte. So erläuterte der kurzfristig für den wegen Gehirnerschütterung verhinderten Constantin Floros eingesprungene Frank Schneider, Intendant des Konzerthauses Berlin, unter dem ebenfalls fragenden Vortragstitel „Musik als Botschaft?“ Werke von Haydn, Beethoven, Schubert, Wagner, Debussy und Schostakowitsch, darunter auch „dies irae“- und „dona nobis pacem“-Kompositionen aus dem Messordinarium, die auf reale politische Veränderungen reagierten. Schneiders Ausführungen über die „pazifistischen Wirkungen von Musik“ und seine Deutung von Schönbergs Emanzipation der Dissonanz als „Einspruch gegen die Scheinharmonisierung der Konflikte einer zunehmend politisch und sozial auseinanderfallenden Gesellschaft“ spannten das Verhältnis von gesellschaftlicher Wirklichkeit und künstlerischen Reaktionsweisen dabei zuweilen in einen zwar hochinteressanten, letztlich aber spekulativen und kaum belegbaren Bereich.

Hartmut Lück problematisierte zwei unversöhnliche Positionen: Denen zufolge hat Musik entweder über sich hinausweisende Dimensionen oder sie ist ein rein klangliches und deswegen semantisch uneindeutiges Phänomen, das keine weiteren Aussagen über seinen Gehalt gestattet. Zu Recht verwies Lück auf die Abhängigkeit des Verständnisses musikalischer Werks von ihrem kulturellen und epochalen Entstehungskontext. Mit dem Ende einer Epoche gingen derlei Hinweise zur Dechiffrierung von Musik jedoch vielfach verloren, so dass man den historischen Verständnishorizont eines Werks mit großem Aufwand rekonstruieren müsse.

Unmittelbar ohrenfällige Beispiele für zwei historische und nachgerade komplementäre Friedens-Komposi­tionen gab er mit zwei Abschnitten aus der „Music for the Royal Firework“, die Händel 1749 anlässlich des Aachener Friedens komponierte, der den österreichisch-spanischen Erbfolgekrieg beendete. Während in „La Réjouissance“ die vom britischen King George II. geforderte Verkündigung des Siegfriedens mit Pauken und Trompeten in Szene gesetzt wird, schuf Händel in „La Paix“ geradezu als Gegenmodell dazu eine zarte Pastorale. Als weitere Positiv-Beispiele komponierten Friedens nannte Lück die „Ode an die Freude“ – obwohl gerade Beethovens Neunte Symphonie von den Nationalsozialisten und im Systemkampf des Kalten Kriegs besonders gerne politisch missbraucht wurde – sowie Nonos „Epitaph für Federico García Lorca“ und Henzes „Nachtstücke und Arien“. Als Negativ-Beispiel führte er Stockhausens „Hymnen“ an, mit der nicht weiter erläuterten Begründung, Nationalhymnen dienten per se nicht der Friedensstiftung.

Die Dialektik von Krieg und Frieden belegte Nicolas Schalz anhand der „Missa Solemnis“, wo Beethoven dem „dona nobis pacem“ einen militärisch dröhnenden Schrecken vorausschickt. Frieden ist hier nicht ohne Krieg denkbar und künstlerisch darstellbar. An Werken von Bernd Alois Zimmermann und Heinz Holliger zeigte Schalz, dass sich dieselbe Bitte nach Frieden auch „nicht-dialektisch“ und gerade dadurch umso nachdrücklicher artikulieren lässt, indem sie verstummt oder in völlige Unverständlichkeit zurückgenommen wird. Klaus Hubers „Senfkorn“ und „Die Seele muss vom Reittier steigen“, die in den Bremer Konzerten zu hören waren, deutete Schalz dagegen als eine Rückkehr zu Beet­hovens dialekti­scher Gegenüberstellung von Krieg und Friedensutopie.

Walter-Wolfgang Sparrer unterstrich zunächst allgemeine Vorstellungen der asiatischen Kultur hinsichtlich Klang, Zeit und dem Verhältnis von Subjekt und Natur, um dann im Besonderen auf Werke von ­Isang Yun, Toshio Hosokawa und Young­hi Pagh-Paan einzugehen, die sich mit Massaker, Atombomben-Abwurf und Irakkrieg auseinandersetzen. Die Kla­ge des Herausgebers des Lexikons „Komponisten der Gegenwart“, jüngere Komponisten würden sich nicht mehr mit politisch-gesellschaftlichen Fragen befassen, erntete prompt Widerspruch aus dem Auditorium. Calo­gero Scanio wies daraufhin, dass sich Frieden auch als Seelenzustand in Musik ausdrücken und mitteilen lasse. Und Kilian Schwoon – Leiter des Bremer elektronischen Studios – führte John Cage als Beispiel für einen Komponisten an, der sich nicht direkt politisch engagiert habe, dessen Werk aber voll politischer Implikationen sei.

Wäre die Sentenz „Wo man singt da lass dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ nicht nur geflügelt, sondern auch wahr, so hätte man eine glückliche Einheit aus Musik und Frieden und bräuchte kein zweitägiges Symposion dar­über veranstalten. Lydia Jeschke nutzte diesen Einstieg, um derlei landläufige Wunschvorstellung eindrücklich zu demontieren. Ein zunächst hörbares Friedens-Idyll einer singenden jungen Frau vor einem Hintergrund aus zwitschern­den Vögeln konfrontierte sie anschließend mit dem dazugehörigen Video, das die Sängerin als bewaffnete Guerilla-Kämpferin der kolumbianischen FARC zu erkennen gibt. Eben dieses Lied und Video nutzte Dror Feiler als Ausgangsmaterial für seine bei den Donaueschinger Musiktagen 2008 uraufgeführten „Fünf Stücke über die Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit“. Das ästhetische Credo des israelischen Komponisten „Musik muss so laut sein, dass beim Hören das Denken aufhört“, deutete Jeschke im Sinne eines Sprengens herkömmlicher Wahrnehmungsweisen zum Zweck neuer Sensibilisierung. Als stark kontext­abhängig erwies sich die politische Aussage der zwei weiteren von ihr angeführten Beispielwerke „Gdadroja“ von Samir Odeh-Tamimi und „üg“ von Mark Andre.

Eine andere Form der kompositori­schen Friedensarbeit verortete Gisela Nauck in „musikalischen Handlungsstrate­gien, die friedliches Verhalten trainieren helfen“. Unter dem Titel „Es darf keine Siege mehr geben“ – einem Zitat von Dieter Schnebel – erörterte die Herausgeberin der Zeitschrift „Positionen“ Ansätze von Schnebel, Cardew, Cage, Jakob Ullmann und den in den sechziger Jahren aufgekommenen Improvisationsensembles Nuova Consonanza, MEV und anderen. Die mitwirkenden Musiker oder Laien würden hier durch die Art und Weise des Miteinander-Musizierens in so­ziale Handlungsmodelle eingeübt, in Mit­bestimmung, Rücksichtnahme, Gleich­berechtigung und anti-hierarchische Kom­munikationsformen. Statt direkte Friedensbotschaften zu vermitteln, würden auch die Künstler des Berliner Labels „Wandelweiser“ um Antoine Beuger, Radu Malfatti, Jürg Frey und andere, Stille als bewussten Anstoß zu Selbstreflexion und Nachdenklichkeit komponieren. Ob und wie diese oft äußerst reduzierten Projekte indes auf Hörer wirken, die nicht aktiv daran teilnehmen, wurde im Anschluss an Naucks Referat kontrovers diskutiert. Tatsächlich lässt das Bremer Symposion viele Fragen unbeantwortet. Entscheidend indes ist, dass der Diskurs über die musikalische Gestaltbarkeit von Frieden als dem in vielen Teilen der Welt am bittersten entbehrten Gut wieder neu eröffnet ist.