MusikTexte 121 – Mai 2009, 88–89

Das „eigene“ Lateinamerika

Das zehnte „Forum neuer Musik“ am Deutschlandfunk Köln

von Rainer Nonnenmann

Das europäische Bild von Lateinamerika, diesem paradigmatischen Ort der Verschmelzung verschiedener Kulturen, ist so widersprüchlich wie die Globalisierung selbst: Unberührte Regenwälder finden sich hier neben unkontrollierbaren Mega­städten; karibische Leichtigkeit neben täglichem Elend und Überlebenskampf in auswuchernden Favelas; hier karnevalistische Freizügigkeit und Prachtentfaltung, dort katholischer Rigorismus, Korruption, übermächtige Drogenkartelle und Großgrundbesitzer, welche die Zivilgesellschaften ebenso zerreißen wie Revolten, Guerillabewegungen und sozialistische Utopien im blutigen Kampf mit brutalen Militärdiktaturen und dem kapitalistischen Norden. Was indes bereits seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa und Nordamerika allgemeine Wertschätzung erfährt, sind die lateiname­rikanischen Tänze in zumeist europäisierten Adaptionen. Tango, Mambo, Rumba, Cha-Cha-Cha, Samba, Paso doble, Lambada und Salsa werden weltweit vermarktet. Trotzdem sind die Länder südlich des Rio Grande, dem Grenzfluss zwischen den USA und Mexiko, aus europäischer Warte nach wie vor nahezu unbekanntes Terrain – zumal in Sachen neue Musik. „Lateinamerika und neue Musik“, so brachte es David Smeyers von der Kölner Hochschule für Musik und Tanz auf den Punkt, „das ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich“.

Im zehnten Jahr seines Bestehens widmete sich das Festival „Forum neuer Musik“ des Deutschlandfunk Köln diesem „anderen Amerika“. Unter demselben Motto „La otra América“ fand an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz ein Symposion zu lateinamerikanischer Musik im Spannungsfeld von europäischer Kunstmusik, Globalisierung und lokaler Identität statt, veranstaltet in Kooperation mit der Musikethnologischen Abteilung des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln von Katrin Losleben und Julio Mendívil. Dass mehrere in den Forums-Konzerten aufgeführte Komponisten zugleich als Referenten auftraten, dokumentierte anschaulich die außerhalb des deutschsprachigen Raums vielerorts selbstverständlich gepflegte Einheit von künstlerischer und musikwissenschaftlicher Tätigkeit. Im Eröffnungsvortrag skizzierte Graciela Paraskevaídis einen historischen Überblick der neuen Musik in Lateinamerika (abgedruckt in diesem Heft). Die 1940 in Bue­nos Aires geborene und in Montevideo lebende Komponistin stellte dabei gleich zu Anfang klar, dass das im Festival- und Symposionstitel beschworene „La otra América“ natürlich nur aus europäischer Perspektive „Das andere Amerika“ darstellt, während es den Lateinamerikanern selbstverständlich gerade umgekehrt „ihr eigenes Amerika“ ist. Nachdem sich bereits in den dreißiger Jahren einzelne Komponisten sowohl im Rahmen paläo­ethnologischer Forschungen als auch künstlerisch für die ursprünglichen Kulturen ihrer Länder zu interessieren begannen, wurde die Mestizierung – wie die Besinnung auf die indigenen Wurzeln des Kontinents genannt wird – seit den siebziger Jahren zu einem bestimmenden Trend. Entscheidende Schritte auf dem Weg zur Emanzipation der mestizischen Bevölkerung und ihrer Kultur waren laut Paraskevaídis der Sieg der kolumbianischen Revolution 1959, das Istituto di Tella in Buenos Aires und die international ausstrahlenden „Cursos latinoaméricanos de música contemporanea“ seit den sechziger Jahren – sozusagen die Darmstädter Ferienkurse Mittel- und Süd­amerikas. Wie prägend die sozialen und politischen Konflikte des Kontinents auf die Komponisten wirkten und nach wie vor wirken, unterstrich auch der chileni­sche Komponist Federico Schumacher mit dem Hinweis, dass während der siebziger Jahre fast alle lateinamerikanischen Komponisten elektronischer Musik der Kommunistischen Partei angehört hätten und dieser Einfluss nach wie vor stark sei.

In den insgesamt fünf Forums-Konzerten im Kammermusiksaal des Deutsch­landfunks konnte Redakteur Frank Kämpfer dank sachkundiger Unterstützung durch Ramón Gorigoitía, Thomas Beimel und Wolfgang Rüdiger Werke von fast dreißig hierzulande bislang nicht oder kaum bekannten mittel- und süd­amerikanischen Komponisten der mittleren und jungen Generation vorstellen. Bei allen Unterschieden verband sämtliche Werke der Bezug auf dasselbe historisch-kulturelle Spannungsverhältnis, das sich schon in der Benennung des Kontinents nach einer toten europäischen Sprache zeigt. Tatsächlich ist der supranationale Sprach- und Kulturraum Latein­amerikas das Resultat einer zweifachen Conquista: der Unterwerfung der iberischen Halbinsel vor über zweitausend Jahren durch das römische Imperium, und der von dort aus vor fünfhundert Jahren erfolgten spanischen Eroberung des Doppelkontinents, die sich als gleichbedeutend mit dem physischen, religiö­sen und kulturellen Genozid an der Urbevölkerung erwies. Seither bewegt sich der gesamte Weltteil – und mit ihm seine Musik – zwischen traditioneller europäischer Prägung, internationaler Moderne und dem Wunsch nach eigener kultureller Identität und Rückbesinnung auf die ausgelöschten mestizischen Wurzeln der einzelnen Länder, die erst ab 1810 nach und nach ihre Unabhängigkeit von der spanischen Krone erhielten.

Gleich im Eröffnungskonzert des „Ensamble Antara“ aus Santiago de Chile wurde der Konflikt zwischen Erster und Dritter Welt unmittelbar greifbar in der Gegenüberstellung von rekonstruierten präkolumbianischen Panflöten aus Bambusrohr, sogenannten Zampoñas, mit modernen europäischen Quer- und Pikkoloflöten. Für die Instrumenten-Nachbauten endete das Treffen mit einer klaren 0 : 2 Niederlage durch Eigentore. Entgegen der bis heute üblichen Mensurierung und Stimmung hatte man die In­strumente – wie Graciela Paraskevaídis bemerkte – mit europäischer chromatischer Skala und gleichschwebender Temperatur gebaut. Zum anderen erwiesen sich die sperrigen, teils bodenlangen Bündel mit vierzig und mehr Bambusrohren als äußerst schwerfällig und klanglich limitiert. Die Musiker müssen diese kleinen Orgelprospekte mühselig vor sich hin und her stemmen, um verschiedene Töne zu erzeugen. Schnellere Tonfolgen und größere Intervalle sind damit nahezu unmöglich oder nur durch konsequente Hoquetus-Technik von zwei und mehr Spielern holprig zu bewältigen. Auf dem einzigen Rohr einer Querflöte dagegen lässt sich mit bloßem Fingerspiel ein Vielfaches an Ambitus, Volumen, Tempo und rhythmischer Flexibilität erzeugen. So war erschütternd festzustellen, wie sich in den an sich harmlosen europäischen Instrumenten dieselbe technologische Überlegenheit des Westens manifestierte, mit welcher einst schon die Hellebarden und Feuerwaffen der Conquistadores Pfeil und Bogen niedergezwungen hatten.

Während der Kampf der Kulturen in Leonardo Garcías „Ceremonial II“ durch die ostentative Virtuosität eines Pikkolo-Solos eigens reflektiert schien, machten die übrigen Werke nicht den Eindruck, als wären sie sich der historischen Dimension des verwendeten Instrumentariums bewusst. Wie in Ramón Gorigoitías „Antesala al rito“ überwogen Klangflächen aus flirrenden Hauch- und Blasgeräu­schen mit zumeist unterentwickelter Rhythmik und häufig pentatonischer Harmonik. Alle Komponisten waren peinlich darauf bedacht, die mit Panflöten gemeinhin verbundenen Klischees, wie sie von Ponchos tragenden peruanischen Folkloregruppen in deutschen Fußgängerzonen genährt werden, möglichst rigoros zu durchkreuzen. Neben elektronischen Transformationen wurden die rekonstruierten Instrumente auch mit erweiterten Spieltechniken konfrontiert, bei Rafael Díaz etwa mit gleichzeitigem Blasen und Singen. Den umgekehrten Ansatz verfolgte Aliocha Solovera Roje, dessen „Resonandes“ ein westliches Flötenquartett gleichsam als indiogenes In­strumentarium behandelte. Drei Stunden und ein Dutzend Stücke später hatte man sich an der chilenischen Blaskapelle und ihren immer gleichen mikrotonal schwan­kenden Tonhöhen und geräuschintensiven, spuckig-pelzigen Flötenklängen bis zum Überdruss satt gehört.

Andere Aspekte zeigte der zweite Festivalabend mit dem Ensemble Aventure aus Freiburg, das sich seit seiner Gründung 1986 immer wieder mit Komponisten vom Río de la Plata beschäftigt hat, der Region um die Meeresbucht, an der die argentinische Hauptstadt Buenos Aires und die uruguayische Kapitale Montevideo liegen. Die meisten Werke der sieben argentinischen Komponisten, die alle in Deutschland oder Westeuropa studierten, folgten einem impulsiven, teils motorischen, teils rhythmisch akzentuierten Grundduktus. Während Andrés Levell der Vorstellung eines ekstatischen Tanzes folgte, zielten Osvaldo Budón und Jorge Horst auf perkussive Klavierbehandlung, repetitive Muster und scharfkantige Rhythmen in der Art von Bartóks „Allegro barbaro“. Plastischere Allusio­nen an die sonst nur aus großer Distanz beschworene Tanztradition Lateinamerikas fanden sich in der Musik des Schnebel-Schülers Chico Mello, der typische Rhythmus- und Begleitfloskeln zu einer Art hinkenden Minimal Music verfremdete. Das Stück der Spahlinger-Schülerin Natalia Gaviola fiel dagegen durch sehr reduziertes, betont geräuschhaftes Material auf. Zu minimalistischen Chill-out-Sounds neigte Tato Tabordas einstündige Performance auf dem Musikinstrumente-Apparat „Geralda“, einem selbstgebauten Ein-Mann-Orchester aus verschiedensten Klangerzeugern, Blechdosen, Schlag-, Zupf-, Blas- und Streichinstrumenten. Statt den Eigencharakter der montierten Fundstücke jedoch zur Geltung kommen zu lassen, wurden diese mit durchlaufenden Beats unterlegt, in endlose Loops geschickt und über Lautsprecher verstärkt in den Saal projiziert. Das mechanisch handfeste Low Tech wurde so durch digitales Allerwelts-High-Tech aus dem Laptop nivelliert.

Das Abschlusskonzert mit dem Ensemble Intégrales aus Hamburg bot zeitgenössische Musik aus der Dreißig-Millio­nen-Einwohner-Megalopole Mexiko-City. Trotz treibender Motorik in der Art von Hindemiths frühen Kammermusiken blieben die furiose Cellosonate von Javier Alvarez und das ebenso zupackende Klaviertrio von Gabriela Ortiz – beide ausgezeichnet gespielt – letztlich brave Konservatoriums-Kompositionen auf der Basis erweiterter Tonalität, neoklassizistischer motivisch-thematischer Arbeit und gelegentlichem Driften zu Jazz, Ragtime und Salonmusik. Derlei Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen scheint am plausibelsten erklärbar mit der offenbar allzu konservativen Ausbildung, die beide Mexikaner in den USA und England erhielten. Mögliche Ursachen könnten aber auch das kolonialistische Erbe und der historische Umstand sein, dass gerade in den dreißiger Jahren während der neoklassizistischen Hochphase in Europa viele Musiker auf der Flucht vor den faschistischen Diktaturen nach Mittel- und Südamerika emigrierten.

Wieder andere Bezugspunkte zeigten die aggressiven Stücke von Alejandro Castaños und Juan José Bárcenas für Elektronik, E-Geige, Saxophon und Schlagzeug, die an exaltierten Free-Jazz erinnerten. Im Gegensatz zu Arturo Fuentes, der eine Solovioline per Elektronik in klirrende Hallräume hüllte, erwies sich Castaños Kombination von konstanten Elektronikschichten mit stets leicht schwankenden, unsauberen Instrumental­klängen insofern als hintergründig, als auch die scheinbar aseptische Lautsprechermusik aus elektronischen Stör-, Brumm-, Knack- und Knistergeräuschen bestand. Die „Night Music“ des 1982 geborenen Aleyda Moreno zeigte schließlich, dass die jungen lateinamerikani­schen Komponisten längst fremde Idealisierungen des eigenen Kontinents verinnerlicht haben. Euphorisierende Klangwolken und kristalline Echoräume gerannen hier zu einer sirrenden Dschungelkulisse, deren Besinnung auf die mestizischen Traditionen der Region nicht mehr von global austauschbarem Ethno-Pop zu unterscheiden war.