MusikTexte 123 – Dezember 2009, 95–96

Versatzstückchenwerkeleien

Jörg Widmanns Musik in der Kölner Philharmonie

von Rainer Nonnenmann

Im Gegensatz zu Pop und Klassik kennt die neue Musik keinen wirklichen Starkult. Dennoch gelingt auch hier herausragenden Persönlichkeiten zuweilen ein kometenhafter Aufstieg. Gleich zwei Weltkarrieren in einer vereint der Münchner Jörg Widmann. Als Komponist wird der Sechsunddreißigjährige mit Aufträgen, Preisen, Residenzen überschüttet und vielerorts von Spitzeninterpreten aufgeführt. Als Soloklarinettist tourt er mit klassisch-romantischem Repertoire um die Welt und spielt auch Werke, die er entweder für sich selbst geschrieben hat oder die ihm namhafte Komponisten wie Holliger, Rihm und Reimann komponiert haben. Darüber hinaus ist Widmann Mitglied mehrerer Akademien und sowohl Klarinetten- als auch seit Anfang 2009 Kompositionsprofessor an der Musikhochschule Freiburg.

Von Mitte Oktober bis Mitte November waren in der Kölner Philharmonie insgesamt sechs Konzerte zu erleben, deren kammermusikalische Programmteile Wid­­mann nach eigenen Ideen gestaltete. So viel Raum bekam an dieser Stelle vordem noch kein Komponist seiner Generation.

Mit der „Fantasie“ von 1993 des damals gerade Neunzehnjährigen legte Widmann gleich zu Beginn eine Liebeserklärung an sein Instrument und eine Visitenkarte von extremer Launigkeit ab. Mit tänzerischer Leichtigkeit springt das Bravourstückchen zwischen den Temperamenten. Es ist virtuos, schlicht, verträumt, traurig und ausgelassen bis zur Trunkenboldigkeit mit wild wuchernden Ausgriffen auf verschiedene Stilrichtungen, auf Mozartschen Schmelz, handfesten Polka-Ton, klagende Klezmer-Jauchzer und urplötzlich aufblitzende Jazz-Einlagen.

Mit derselben Sprunghaftigkeit brillierten Widmann und Pianistin Silke Avenhaus in Carl Maria von Webers „Grand Duo concertant“. Widmann gab dazu eine ebenso anregende wie humorvolle und am Klavier eindrücklich veranschaulichte Einführung, vor allem in die seinerzeit innovative Harmonik und Instrumentationskunst des Stücks. Der von dieser Musik begeisterte Kenner verstand es dank seines einnehmenden Wesens, das Publikum ausgezeichnet in ebensolche Kenntnis und Begeisterung zu versetzen: „Ich will die Stücke dem Publikum nicht einfach kommentarlos vorsetzen, was vielleicht nicht funktioniert. Sondern ich möchte die Aufmerksamkeit schärfen, damit man über diese Stücke mehr weiß und beispielsweise die ganz außerordentliche Harmonik hören kann.“

Bei allem lustvoll-exzessiven Machen und Erfinden von Musik bekennt selbst Widmann, gelegentlich Zweifel und Krisen zu haben, die er jedoch bisher noch stets produktiv zu wenden wusste: „Mein Erstes Streichquartett habe ich 1997 sehr zögerlich geschrieben, wegen der befruchtenden, aber auch belastenden Tradition dieser Königsgattung, die gerade für einen jungen Komponisten auch als erdrückender Ballast erscheint. Diesen Druck und die Schwierigkeit des Anfangs habe ich im Ersten Quartett ganz wörtlich Klang werden lassen, indem die Streicher hier zu Beginn mit übermäßigem Bogendruck nur Kratzgeräusche erzeugen.“ Das Kölner Minguet Quartett spielte Widmanns fünf Streichquartette direkt hintereinander. Jedes Stück setzt sich mit einer exemplarischen historischen Satztechnik auseinander: „Mir ist wichtig, dass die Quartette tatsächlich zyklisch erklingen. Denn die Grundidee ist, dass jedes einer archetypischen Satzform der Klassik entspricht: Das erste ist eine Introduktion, das zweite ein extrem langsamer Satz bis an die Grenzen der Statik, als drittes folgt ein jagendes und zunehmend selbst gejagtes Sechsachtel-Scherzo bis zum ,Tod‘ des gehetzten Cellisten, dann kommt ein Andante und schließlich ein Versuch über die Fuge.“

Trotz konzentriert agierender Musiker blieb die über zweistündige Aufführung der Quartette enttäuschend. Der Zweifel, den der Komponist am Anfang seines Ersten Quartetts zu erstickten Pressgeräuschen gerinnen lässt, scheint ihm eher als Vorwand gedient zu haben, sich anschließend umso freier aus dem Schatzkästchen der Gattung zu bedienen. Technisch, klanglich, gestisch und formal sind Widmanns Quartette Versatzstückwerke, mit Anleihen bei Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Rihm und Lachenmann. Von allem nur das Beste. Das Dritte Quartett reitet ein Thema aus Schumanns „Papillons“ in lustigem Schweinsgalopp zu Tode, und das fünfte beschwört mit dem Einsatz einer Sopranstimme (Claudia Barainsky) die beiden letzten Sätze von Schönbergs Zweitem Streichquartett. Der Eloquenz, mit der Widmann seine Skrupel angesichts der Last der Tradition schildert, entspricht in Wirklichkeit die Leichtigkeit eines Komponierens, das – wie bei seinem Lehrer Rihm – in seinem stattlichen Œuvre keine Scheu vor Übergriffen auf eben die­se Tradition kennt. Alles andere ist pathetische Schaffenskrisen-Rhetorik.

Tatsächlich ist die Produktivität und Vielfalt von Widmanns Schaffen erstaunlich. Schon in jungen Jahren hat der 1973 Geborene ein Werkverzeichnis vorzuweisen, das andere erst in höherem Alter erreichen: über fünfzig Werke für Solisten, Kammer-, Ensemble-, Gesangs- und große Orchesterbesetzungen bis hin zu Musiktheaterstücken. Auch das erinnert an seine Lehrer Henze und Rihm. Der Schaffenswütige arbeitet wie ein Schwamm, der aufsaugt und verwandelt wiedergibt womit er in Berührung kommt. In seiner jüngst in Paris uraufgeführten Oper beziehungsweise szenischen Konzertinstallation „Am Anfang“ bediente er sich auch bei eigenen früheren Werken: „Ich glaube, dass die Komponisten, die die Musikgeschichte wirklich am meisten revolutioniert und vorangebracht haben – wie etwa Schönberg oder Lachenmann –, auch diejenigen sind, die die Vergangenheit am besten kennen und am meisten geliebt haben. Wirkliches Weitergehen nach vorne hat für mich immer mit der Kenntnis der Tradition zu tun. Als Musiker gehe ich damit ja täglich um, nicht arglos, sondern vielleicht gerade deswegen umso respekt- und liebevoller. Keine Avantgarde findet im geschichtslosen Raum statt, im Gegenteil.“

In seinem „Oktett“ von 2004 – gespielt vom Berliner Scharoun Ensemble – drängt sich Widmanns Liebe zur Tradition so in den Vordergrund, dass vom eigenen „Weitergehen nach vorne“ nicht mehr viel zu hören ist. Stattdessen werden romantische Topoi beschworen: Hornfanfare, Lied ohne Worte, Religioso, Choral, Volkstümelei und Naturidyll. Dieselben Tonfälle begegnen bei Mendelssohn und Weber, deren Sonate für Klarinette und Klavier beziehungsweise Klarinettenquintett Widmann im selben Konzert spielte. Was aber dort und in Schuberts großem „F-Dur-Oktett“ authentisch und ehrlich ist, wirkt bei Widmann trotz ironischer Brechungsversuche nur als Aufguss der Neo-Romantik der siebziger Jahre. Vielleicht ist dieses Arrangieren von Altbewährtem ein Grund für den großen Erfolg des Komponisten?

Schlecht verdauter Romantizismus liegt auch Widmanns „Konzert für Violine und Orchester“ von 2007 zugrunde. Das Stück beruht auf konventionell verteilten Solo- und Tuttirollen, mit reichlich melodieseligem Legatospiel „Schönheitstrunken, schwärmerisch“ und viel Vibrato auf großem, vollem Geigenton als billiger Variante von Sentiment. Die Sub­stanz an Einfällen ist dünn, abgesehen vom schönen Schluss, bei dem sich der Solist – der brillante Christian Tetzlaff – in höchste Höhen bis unmittelbar vor den Steg spielt, so dass sein Ton zu rauschen und pfeifen anfängt und mit Crotales in sirrende Schwebungen gerät. Ansonsten herrscht gemäßigte Moderne in der Art von Hindemiths Werken der vierziger Jahre, gefällig und hundertprozentig kompatibel zum Abonnement-Konzertpublikum. Reinster Avantgardismus dagegen sind Gustav Mahlers Adagio der Zehnten Symphonie, deren Vervollständigung durch Deryck Cooke das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Daniel Harding im selben Konzert spielte, oder – um einen Widmann gerechter werdenden Vergleich mit dem zwei Jahre älteren und kaum weniger erfolgreichen Matthias Pintscher zu strapazieren – dessen „Fünf Orchesterstücke“ von 1997.

Als Höhepunkt der Kölner Widmann-Kon­­zerte war – passend zum Schiller-Jahr – die Uraufführung seines neuen Orchesterwerks „Teufel Amor – Sinfonischer Hymnos nach Schiller“ angekündigt. Die hochfliegenden Erwartungen indes endeten bei Beethovens „Egmont-Ouvertüre“ als dem Ersatz für die nicht fertig gewordene Novität. Der viel beschäftigte Klarinettist, Musikvermittler, Komponist und Lehrer hatte es offenbar nicht verstanden, die nötigen Prioritäten zu setzen. Dass das bei einem Künstler dieses Formats einmal vorkommen kann, ist verständlich. Aber was für eine Chance wurde hier vertan, nicht nur für Widmann, sondern für alle Beteiligten, das Publikum und die Interpreten. Vielleicht ist die Hoffnung auf die Botschafterfunktion der berühmten Interpreten in Sachen neuer Musik illusionär, weil die Wiener Auftraggeber mit ihrem Stardirigenten ohnehin bei Widmann etwas bestellt haben und vom Komponisten auch bekommen hätten, was ihren limitierten Vorstellungen von neuer Musik entspricht?

So stellt sich am Ende die Frage, ob jemand noch gegen herrschende Konventionen ankomponieren kann, der längst selbst Teil des musikalischen Establishments ist? Gehen großer Erfolg und neue Musik zusammen? „Mir geht es darum, was bei den Konzerten in den Kölner Programmen auch sehr klar zum Tragen kommt, Musik zu vermitteln, auch Menschen, die neue Musik sonst vielleicht eher nicht hören würden, ohne dass ich mich nach dem Geschmack anderer richte. Da halte ich es mit Schönbergs Ausspruch ,Kunst kommt von Müssen‘. Ich kann nicht anders komponieren, als ich es tue. Und vielleicht spüren das die Menschen, dass da jemand muss und nicht anders kann.“