MusikTexte 125 – Mai 2010, 89–92

Blumen, Frucht und Dornenstücke

Selberhörensbeschreibungen neun neuer Compact Discs

von Rainer Nonnenmann

Avantgardist als Märchenonkel

Auf Anregung seiner zweiten Frau Gertrud nahm Arnold Schönberg Ende der vierziger Jahre zwei kurze Geschichten „Die Prinzessin“ und „Afrika“ mit einem Diktiergerät auf, damit seine drei Kinder noch später daran denken sollten, welch schöne Geschichten er ihnen einst erzählt hatte. Die Erinnerungen der zwischen 1932 und 1941 geborenen Schönberg-Kinder selbst wurden 2007 zu einem Zeitpunkt aufgezeichnet, als sie selbst um die siebzig Jahre alt waren, wie einst Schönberg, als er ihnen die Geschichten erzählte. Vielleicht nicht trotz, sondern gerade wegen dieser harmlosen G’schich-terln entfaltet Schönbergs Originalstimme große Eindrücklichkeit, durch Sprachwitz, lebendige Tonfallwechsel und dialektales Spiel zwischen Wiener Schmäh und Berliner Schnauze. Die wienerische Färbung der ältesten Tochter und die amerikanisierte Aussprache der jüngeren Brüder künden zugleich vom Emigranten-Schicksal der jüdischen Familie.

Die Originalbeiträge und Ausschnitte aus historischen sowie neueren Aufnahmen von Schönbergs Musik werden von Mirjam Wiesemann knapp kommentiert. Dabei erfährt man über das Werk des Meisters kaum mehr, als dass es „groß und eigenwillig“ sei und nur von denen verstanden werden könne, die neugierig seien und sich genug Zeit nähmen, es anzuhören. Hinzu kommen problematische Aussagen. So wird ohne jede Begründung Schönbergs vermessener Anspruch für bare Münze genommen, er habe mit seiner Erfindung der „Methode der Komposition mit nur zwölf aufeinander bezogenen Tönen“ der deutschen Musik eine hundertjährige Vorherrschaft gesichert. Schließlich wirken am Schluss verlesene Zitate von und über Schönberg im Mund von zehnjährigen Kindern seltsam fremd, unverständlich, fast grotesk. Nur weil hier Kinder sprechen, können Gleichaltrige mit solchen Gedanken noch lange nichts anfangen. Diese allzu simple Rechnung der neu aufgelegten Jugendreihe des Düsseldorfer Labels Cybele geht nicht auf.

Arnold Schönbergs Geschichten für seine Kinder: „Die Prinzessin“, Düsseldorf: Cybele Records, 2008


Künstler im Gespräch

Es wirkt etwas verlegen, dass nur Familienangehörige interviewt werden, nicht aber der schon 1963 verstorbene Komponist selbst. Dadurch verschieben sich die thematischen Schwerpunkte. Statt um ästhetische und kompositionstechnische Fragen geht es mehr um private Erlebnisse und Erinnerungen an den Gatten beziehungsweise Vater und die bedrückenden Zeitumstände während des Dritten Reichs und Weltkriegs sowie die Aufbauphase nach 1945. Genau dieser persönliche Zugang zum Menschen hinter den Kunstwerken ist Ziel der neuen Editions-Reihe „Künstler im Gespräch“ des Düsseldorfer Labels Cybele Records. Dessen erstes Album mit gleich drei CDs ist dem Komponisten und Gründer der Konzertreihe „Musica viva“ des Bayerischen Rundfunks Karl Amadeus Hartmann (1905 bis 1963) gewidmet.

Die Neuerscheinung umfasst vier frühe Kammermusikwerke, die vom Doelen Kwartet und der Sinfonia Rotterdam neu eingespielt wurden und allesamt die künstlerisch-politische Haltung des vorwiegend als Symphoniker bekannt gewordenen Münchner Meisters zum Ausdruck bringen. So ist der Anfang des Ersten Streichquartetts aus dem Jahr von Hitlers Machtergreifung ein klares Bekenntnis des Widerstands und der selbst gewählten inneren Emigration. Die Zerbrechlichkeit der erschöpft niedersinkenden Glissandi dieser von jüdischer Volksmusik geprägten Solomelodie bilden ein Gegenmodell zur damals gewaltsam herbei-geschrienen Größe und Stärke Nazi-Deutschlands. Unbeschwerte Spielfreude und agile Motorik prägen dagegen die „Tanz-Variationen“ aus dem „Kammerkonzert“ von 1930/35 sowie das 1932 entstandene „Kleine Konzert“, dessen ungewöhnliche Kombination von Streichquartett mit Schlagzeug Hartmann erstaunlich stimmig auszugestalten verstand.

Im Gespräch mit dem 2008 verstorbenen Musikpublizisten Ulrich Dibelius schilderte 1994 die damals einundachtzigjährige Witwe Elisabeth Hartmann, wie ihr Mann ab 1933 nur noch Aufführungen im Ausland hatte, ansonsten für die Schublade arbeitete, sich durch das Verschicken von Lebensmittelmarken an den Physiker und kommunistischen Widerstandskämpfer Robert Havemann in Lebensgefahr brachte und seine Partituren zum Schutz vor Gestapo-Terror und Bombenkrieg in Weißblech verlötet im Gemüsegarten vergrub. Hartmann selbst sprach kurz vor seinem Tod fünf kleinere Texte auf Band, in denen er einige zentrale ästhetische und politische Überzeugungen zum Ausdruck brachte. So habe er 1933 erkannt, dass es nötig sei, ein Bekenntnis abzulegen in Reaktion auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Da Hartmann seine Texte jedoch ablas, verraten die Aufnahmen kaum etwas von seinem Temperament. Lebendig bis zur Hitzigkeit verläuft dagegen teilweise das Gespräch mit seinem einzigen Sohn Richard, dessen Kindheits- und Jugenderinnerungen den Charakter seines früh verstorbenen Vaters wiedererstehen lassen.

Karl-Amadeus-Hartmann-Porträt: „Karl Amadeus Hartmann und das Streichquartett“, Düsseldorf: Cybele Records, 2009


Epochale Totenmesse

Was der Kommentartext zur CD etwas marktschreierisch ankündet – „Wenn man das Werk noch nicht kennt, wird man etwas erleben, was man noch nie erlebt hat“ –, löst Bernd Alois Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“ prompt schon in den ersten Takten ein. Kaum je hat man düstere, kältere und unheilvollere Klänge vernommen. Mit ihnen öffnet Zimmermann die Büchse der Pandora: Texte und Originalaufnahmen in zwanzig Sprachen überlagern sich mit Orchester, Chor, Orgel, Beatles-Songs, einer Jazz-Combo sowie Zuspielungen von elektronischen Klängen und dokumentarischem Tonmaterial von Politikerreden, Kriegslärm, Massendemonstrationen.

Nicht umsonst bezeichnete Zimmermann sein Werk als „Lingual“, als Sprachstück, dessen vielstimmiges Beziehungsgeflecht sich während einer Stunde wie ein überreizter Bewusstseinsstrom entfaltet, bei dem sich Erinnerungen mit gegenwärtigem Erleben und künftig Erwartetem durchdringen.

Das 1969 vollendete Collagewerk ist typisch für die Ästhetik der sechziger Jahre, wie sie auch in Werken von Stockhausen, Nono, Berio, Schnittke, Fritsch und anderen durchschlägt. Die Zitate sind indes immer sprechend, weil ihre spannungsvolle Kombination bestimmte Aspekte freilegt und neue Perspektiven öffnet. Hier prallt Meeresrauschen auf das „Ertrinken, versinken“ von Isoldes „Liebestod“ und Texten über die Unterdrückung des Ungarn-Aufstands 1956. Dort kollidiert Artikel 2 des 1949 verabschiedeten Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland über die Unverletzlichkeit der „Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ mit der im März 1939 vom nationalsozialistischen Deutschen Reich erklärten Annexion des „Protektorats Böhmen und Mähren“. Die von drei Chören gesungene Liturgie des lateinischen Requiems gipfelt im vielmals wiederholten und zum Schrei gesteigerten „Dona nobis pacem“, dessen erschütternder Katastrophencluster den Frieden nur noch als abwesenden kennt. Damit ist Zimmermanns Werk nicht nur ein Requiem für die „jungen Dichter“ Jessenin, Majakowskij, Jahnn und Bayer, deren Texte er verwendete und die – wie er selbst 1970 – Selbstmord begingen. Es ist darüber hinaus eine epochale Totenmesse für das Zeitalter einer hoffnungslos kriegsverfallenen Menschheit.

Die CD basiert auf einem Surround-Konzertmitschnitt von 2005 aus dem Concertgebouw im niederländischen Haarlem. Als Live-Sprecher agieren Michael Rotschopf und Lutz Lansemann, die den einzelnen Textpartien trotz extrem polyphoner Durchdringung zu großer Präsenz und Intensität verhelfen. Dasselbe gilt für die überragende Sopranistin Claudia Barainsky und den amerikanischen Bariton David Pittman-Jen-nings. Unter der Gesamtleitung von Bernhard Kontarsky musizieren ferner das Eric Vloeimans Jazz-Quintett, die Holland Symfonia, die EuropaChorAka-demie sowie die Philharmonischen Chöre aus Brno und Bratislava. Erstmals eingesetzt wurden die 2000 im Studio für Elektronische Musik des WDR Köln digitalisierten, dann restaurierten und zu einer Achtkanalversion verbundenen alten Vierkanaltonbänder, so dass sämtliche Ereignisse wieder ihre ursprüngliche Klarheit erhalten. Eine gute Verstehenshilfe bietet das hervorragend edierte siebzigseitige Beiheft mit einer Synopse der teilweise auf bis zu fünf Schichten gleichzeitig ablaufenden Texte.

Bernd Alois Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“, Düsseldorf: Cybele Records, 2008


Erdenschwere Himmelsluft

Die körper- und schwerelos schwebenden Singstimmen entfalten einen jenseits-vollen Klangraum, der sich durchaus als Verheißung auf das ewige Licht erleben lässt, das Gott den Verstorbenen scheinen lassen wird. György Ligetis „Lux aeterna“ aus dem Jahr 1966 fächert den letzten Textteil der lateinischen Totenmesse in einen sechzehnstimmigen Chorsatz auf, vom Einklang in immer neue Harmonien und wieder verengt zu neuen Liegetönen. Die quasi instrumentale Behandlung der Singstimmen innerhalb des fixpunktlosen Tonsatzes stellt immense Anforderungen an die Interpreten. Denen ist die Cappella Amsterdam unter Leitung von Daniel Reuss bestens gewachsen. Geschmälert wird die Qualität der Aufnahme jedoch durch Rauschen in Folge unzulänglicher Abschirmung gegen Alltagslärm, der dem reinen Gesang unnötige Erdenschwere anhaftet.

Aus einem Einklang erhebt sich auch Robert Heppeners sechsteiliger Chorzyklus „Im Gestein“ auf Gedichte von Paul Celan. Der niederländische Komponist – zwei Jahre jünger als der 1923 geborene und 2006 verstorbene Ligeti – zieht einen Zentralton durch den gesamten ersten, dritten und letzten Satz, zu dem sich der Chor und die sieben Instrumentalisten des Kölner Ensembles musikFabrik in verschiedenen Spannungs- und Dich-tegraden verhalten. Trotz klarer und oft reduzierter Faktur bewegt sich das 1992 entstandene Werk für Chor, Streichquintett und Schlagzeug in einer vieldeutigen Nähe zu den hermetischen Texten, auch mit handfesten, forcierten Klängen, wie sie die Stichworte „Kreide“, „Kalk“, „Kies“, Geröll“ fordern. Nach den niederländischen Komponisten Koolmees, Schat, de Vries und de Leeuw hat die 1970 gegründete, seit 1990 von Daniel Reuss professionalisierte Chorvereinigung mit Heppener eine weitere Entdeckung vorzuweisen.

Ergänzt werden diese beiden Chorwerke durch Ligetis sehr bewegte „Drei Phantasien nach Friedrich Hölderin“, deren Expressivität die Choristen teils bis an die Grenze des Schreiens steigern. Als Kontrapunkt dazu dienen drei Sätze aus Ligetis eigentlich sechssätziger Solosonate für Viola. In deren erstem Satz von 1994 schleichen sich nach und nach mi-krotonale Eintrübungen in eine weite Kantilene, die Susanne von Els seelenvoll im dunklen Mattgold der Bratsche wie im schönsten Abendlicht erblühen lässt.

Chorwerke von György Ligeti und Robert Heppener, Arles: Harmonia Mundi, 2008


Ozeanischer Erinnerungsraum

Valentin Silvestrovs Sechste Symphonie hört man weniger, als dass man ihre Farben und Temperaturen empfindet. Ein pulsierendes Aufleuchten und Verglühen von Klängen versetzt eine dunkle Bassgrundierung in sanfte Wellenbewegungen, die mal warme Geigenkantilenen, mal Klavier und Glocken mit schimmernden Schaumkronen zieren. Die hallige Akustik des Aufnahmeorts, der Heilig-Kreuz-Kirche in Bad Godesberg, sowie die intensive Einspielung durch das Beethoven Orchester Bonn unter Leitung seines Generalmusikdirektors Roman Kof-man tun ihr übriges, um das 1995 entstandene Werk zu einem kosmisch-ozeanischen Erinnerungsraum zu machen. Durch allzu viele Wiederholungen derselben Elemente verliert sich das Geschehen jedoch des Öfteren in rein atmosphärischem Hintergrundrauschen.

Die fünfsätzige Symphonie folgt Traumlogiken und provoziert ein nichtprozessuales Hörerlebnis: Impulse verzit-tern, werden obsessiv wiederholt, weiten sich zu Klangflächen, schlagen plötzlich in Neues um, werden vergessen und sind ebenso schlagartig wieder präsent. Wie aus dem Unterbewusstsein dämmern historische Reminiszenzen. Die melancholisch weltvergessenen Gesten des Niedersinkens im uferlos langen Mittelsatz klingen kaum anders denn im Schlusssatz von Mahlers „Lied von der Erde“. Tatsächlich sind es vor allem Bruckner, Wagner, Mahler, Schönberg, Messiaen, nicht aber der 1937 in Kiew geborene Komponist, die aus diesem – so Silvestrovs eigene Charakterisierung – „metaphorischen Stil“ zum Hörer sprechen.

Valentin Silvestrovs Sechste Symphonie, Detmold: Dabringhaus und Grimm, 2007


Historische Tiefenschärfe

Georg Krölls „Wie Gebirg, das hochaufwogend“ ist keine Alpensinfonie mit Riesenorchester, Alphörnern, Windmaschi-nen und äußerlicher Abschilderung sich auftürmender Gesteinsmassen. Sein Streichtrio registriert eher seismographisch die inneren Regungen, die Friedrich Hölderlin – Dichter der gleichnamigen Titelzeile – beim Betrachten der Berge empfunden haben mag. Vom fahlen Anfang steigert sich der Bogen ekstatisch, um wieder matt dem Ende entgegen zu sinken. Die CD versammelt Streich-, Bläser- und Klaviertrios des 1934 in Linz am Rhein geborenen Komponisten, der bis 1997 an der Rheinischen Musikschule lehrte. Allen Stücken gemeinsam sind impulsive Gestik, Musikantik und klangliche Differenzierung, sowohl in feinsten Nuancen als auch schärfsten Kontrasten: Weicher Gesang und kosende Glissandolinien stoßen auf wildes Fauchen und Kratzen mit übermäßigem Bogendruck.

Darüber hinaus verfügen Krölls Werke über Anklänge an Musik von Spätmittelalter, Renaissance und Barock, die in Bearbeitungen altfranzösischer Chansons von Gilles Binchois ohrenfällig werden.

Zugleich wird diese historische Tiefendimension gebrochen. In den elegischen Anfang des auf Frescobaldi rekurrierenden „Capriccio sopra mi“ fährt plötzlich mit voller Wucht ein Kontrabass. Das kammermusikalische Meublement bleibt fortan gestört. Nicht zuletzt Dank der ausgezeichneten Interpreten des Ensemble Recherche und Ravinia Trios liefert „Omaggio“ – besonders im fulminant virtuosen Finale – ein anschauliches Beispiel für die Klarheit, mit der sich Krölls Kompositionen als variative Abwandlungen prägnanter Elemente entfalten.

Triowerke von Georg Kröll: „à trois“, Mechernich: Telos music records, 2007


Früh- und Spätwerke

Pauken und Trompeten sind Inbegriff von Fest- und Marschmusik. Stücke für Trompete und Schlagzeug gibt es jedoch kaum. Die Besetzung ist dem traditionellen Gattungskanon fremd und wurde nach 1945 wegen ihrer militärischen Konnotationen bis auf wenige Ausnahmen gemieden. Es bedurfte erst des Trompeters Reinhold Friedrich und der Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky, um älterer Werke wiederzuentdecken und neue Werke in Auftrag zu geben. Schulkowsky kam 1980 an die Kölner Musikhochschule zum Schlagzeugstudium bei Christoph Caskel, um schon bald in Uraufführungen von Stockhausen, Kagel und Walter Zimmermann aufzutreten. Im Duo mit dem Karlsruher Professor Reinhold Friedrich brachte sie beim Berliner Festival Ultraschall 2005 drei Werke zur Uraufführung, die sie jetzt neben älteren Werken auf CD veröffentlichten.

Einem neoklassizistisch gefärbten Frühwerk des einundzwanzigjährigen John Cage, der „Sonata“ von 1933, stellen sie das Spätwerk „One 4“ aus Cages Todesjahr 1990 gegenüber. Desgleichen kombinieren sie das 1951 entstandene „Trio“ des sechzehnjährigen Cage- und Feld-man-Schülers Christian Wolff, basierend auf lediglich drei stets neu gruppierten Tonhöhen, mit Wolffs spätem „Pulse“, dessen reduzierte und ständig aus dem Takt stolpernde Trompeten- und Trommel-Signalrhythmen an Eislers „Kampfmusiken“ der zwanziger Jahre erinnern. Neue Duo und Trio-Kompositionen der jüngeren Komponisten Achim Christian Bornhoeft und Caspar Johannes Walter umrahmen schließlich Nicolaus A. Hubers großes Trompeten-Solo „doux et scintillant“ von 2004.

Reinhold Friedrich und Robyn Schulkowsky: „Trumpet & Percussion“, Frechen: Capriccio, 2006


Kalligraphie und Monumentalität

Schon als Jugendlicher begeisterte sich Robert HP Platz für Zen-Buddhismus, japanische Kunst, traditionelle und neue japanische Musik. Als Dirigent besonders verbunden fühlt er sich der Musik des vier Jahre jüngeren Toshio Hosokawa, der sich erst während seines Kompositionsstudiums bei Isang Yun in Berlin und Klaus Huber in Freiburg für die alte Gagaku-Hofmusik des eigenen Landes zu interessieren begann. Platz’ Einspielungen von dessen Solokonzerten für Violine „Landscape III“ , für Klavier „Ans Meer“ und für Flöte „Per Sonare“ mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin sowie den Rundfunkorchestern des NDR Hamburg und des SWR Freiburg und Baden-Baden wurden mit dem angesehenen Schallplattenpreis „Clef d’or“ für die beste CD des Jahres 2009 ausgezeichnet.

Hosokawas Werke folgen dem Ideal einer naturhaften Musik, deren Spannungsverläufe sich wie Klanglandschaften vor den Augen eines Reisenden entfalten. Zugleich führt er instrumentale Linien wie bei der Kalligraphie mit mal festerem, mal leichterem, dünnerem oder dickerem Pinselstrich. Die Stärke der neuen Einspielungen zeigt sich darin, dass Platz die Partituren nicht als naturalistische Tableaus, shintoistische Hörschreine oder meditative Klangklöster inszeniert. Bei aller Liebe bewahrt er stets professionelle Distanz im Dienste der Ar-tifizialität und präzisen Wiedergabe der Werke, die so nie Gefahr laufen, überdehnt oder verzärtelt zu wirken. Die zupackende Prägnanz der Aufnahmen verdankt sich auch den hervorragenden Solisten, dem Geiger Irvine Arditti, dem Pianisten Bernhard Wambach und der Flötistin Gunhild Ott.

Hosokawas Flötenkonzert entstand 1988 als erstes Solokonzert des Japaners und zeigt eine große Nähe zur Spielweise und teils geräuschhaften Klanglichkeit der Bambusflöte Shakuhachi. So entlockt die Solistin mit gleichzeitigem Singen und Blasen ihrem Instrument einen geradezu orchestralen Reichtum an Klangfarben, Schwebungs- und Mehrklängen. Das Violinkonzert von 1993 entfaltet sich in Wellen, die zuweilen orkanartig aufbrausen, um sich plötzlich wieder zu spiegelnden Flächen zu beruhigen. Das Klangspektrum der Solovioline enthält mit dem Extrem von leeren Liegetönen und hoch energetischen Tremoli den Gesamtprozess des Stücks im Keim.

Robert HP Platz dirigiert Solokonzerte von Toshio Hosokawa, München: NEOS, 2009


Kongeniale Interpretation

Dass Robert HP Platz erst im dreißigsten Lebensjahr sein erstes Klavierstück komponierte, dem bis heute nur vier weitere folgten, zeugt von großem Respekt vor dieser Gattung. Zugleich nutzte der Fort-ner- und Stockhausen-Schüler sein „Klavierstück 1“ von 1981 als Auffangbecken für unterschiedlichste Einfälle. Streng genommen enthält „Trail“ – so der Obertitel – gleich sieben Stücke in einem, deren Pfade der 1952 in Baden-Baden geborene Komponist später zur Idee von „Formpolyphonie“ weiterentwickelte, die bis heute sein Schaffen bestimmt. Es ist ein typisches Erstlingswerk, voll Ehrgeiz und blendender Virtuosität, gepaart mit unausgereiftem Gespür für Proportionen und Relationen von Form und Faktur.

Am Anfang steht ein empfindsamer Sextsprung, der trotz sofortiger Wendung ins Atonale im weiteren Verlauf immer wieder als charakteristisches Element durchklingt. Der kontrastive Beginn ist charakteristisch für die Kleinteiligkeit des fünfunddreißigminütigen Riesenstücks. In harten Schnitten und schnellem Wechsel folgen extrem unterschiedliche Gesten: weiches Legatospiel einzelner Anschläge, lange Pausen des Nachhörens, dann plötzlich hyperagile Klangkaskaden, bei denen sich die Einzeltöne zu kaum durchhörbaren Gesamtereignissen verdichten. Vermutlich sind es diese Gegensätze von heterogener Detailfülle und extensiver Großform, flüchtigem Augenblick und ambitionierter Monumentalität, die das Stück inkonsistent und unfasslich wirken lassen.

Klarer gefasst sind kompositorisches Thema und Material in den folgenden Klavierstücken. Nummer 2 ertastet systematisch die Register des Instruments und erweitert sie zusätzlich durch virtuelle Hall- und Echoräume von Tonband-zuspielungen transformierter Klavier-und elektronischer Klänge. „Klavierstück 3“ zeigt regelrecht musikantisch beschwingte Gesten, die sich verschiedenen Repetitionen verdanken, Tremoli, Trillern und unterschiedlich dichten Ton- und Akkordwiederholungen, über denen kurze Einwürfe, weite Kantilenen oder choralhafte Akkorde zu liegen kommen.

Die 1998 und 2007 entstandenen Klavierstücke 4 und 5 prägen funkelnde Ar-peggien und wild über alle Lagen springende, impulsive Akkordfolgen à la Boulez. Interessant ist der Formverlauf von Nummer 4. Der virtuose Grundduktus wird hier vorübergehend zurückgenommen, um sich gegen Schluss durch Überlagern mehrerer Klangschichten wieder aufzubauen und das Konstruktionsprinzip des Stücks offenzulegen.

Die Aufnahmen der CD entstanden 2007 im Kammermusiksaal des Deutschlandfunk Köln. Es sind allesamt Ersteinspielungen. Sie verdanken sich dem Londoner Pianisten Rolf Hind, der bisher vor allem im englischen Sprachraum als Interpret neuer Musik reüssierte. Technische Brillanz und große Musikalität machen ihn zum kongenialen Interpreten.

Das Klaviergesamtwerk von Robert HP Platz, München: NEOS, 2009