MusikTexte 125 – Mai 2010, 75–76

Trotzen mit Qualität und Zuversicht

Das Stuttgarter Festival Eclat behauptet sich seit dreißig Jahren

von Rainer Nonnenmann

Als „Tage für Neue Musik Stuttgart“ 1980 in der damals weithin als konservativ verschrienen Schwabenmetropole gegründet, feierte das „Eclat Festival Neue Musik Stuttgart“ Mitte Februar sein dreißigjähriges Bestehen, und das unter bestem Publikumszuspruch. Die Aufführung von Beat Furrers Musiktheater „Begehren“ war ausverkauft und das Kammerkonzert mit Helmut Lachenmanns „Got lost“ konnte wegen reger Nachfrage in den größten Saal des Stuttgarter Theaterhauses verlegt werden. Von ihren Fanclubs gefeiert wurden auch die ausgezeichneten Stuttgarter Ensembles: Neue Vocalsolisten, Ensemble ascolta, SWR Vokalensemble und SWR Sinfonieorchester. Der Beifall für die teils einmaligen Klangkörper wirkte nachdrücklicher als sonst, vielleicht aus Protest gegen die verhängten Sparmaßnahmen von Stadt und Sender. Dank breiter Unterstützung und entschiedener Abwehrkämpfe der Intendantin Christine Fischer konnte zwar Schlimmeres verhindert werden, dennoch muss das Festival eine zehnprozentige und die Trägerorganisation „Musik der Jahrhunderte“ eine fünfprozentige Kürzung verkraften. Die Klangkörper des SWR hatten sich schon 2009 zurückgezogen und beteiligen sich seitdem nur noch mit einem Konzert der Reihe „attacca“. Dass das Jubiläumsfestival dennoch keine Spur von Krisenstimmung verriet, verdankte sich neben der Qualität der Aufführungen und der Treue des Publikums auch dem unermüdlichen Multifunktionalisten Hans-Peter Jahn, seines Zeichens seit siebenundzwanzig Jahren künstlerischer Leiter des Festivals und alleiniger Autor des Programmbuchs sowie verantwortlicher Redakteur für Neue Musik am SWR Stuttgart, Laudator der Stuttgarter Kompositionspreise und einer besonderen Leidenschaft frönend Dramaturg des diesjährigen gemeinschaftlichen Theater-Musik-Licht-Projekts.

Furrers „Begehren“ von 2001 war als konzertante Aufführung in der vom Librettisten Wolfgang Hofer um Stellen aus Briefen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan neu ergänzten Textfassung und einer Lichtinstallation der Stuttgarter Bühnenbildnerin rosalie zu erleben. Entgegen dem thematischen Bedürfnis nach Teilhabe, Einheit und Verschmelzung liefen Musik, Rezitation und Gesang sowie die in verschiedenen Farben, Rhythmen und Mustern bespielte Lichtinstallation aus gestapelten Leuchtquadern fast berührungslos als autonome Ebenen nebeneinander her. Zugleich beschrieb das erste verständlich wiederholte Wort „flüchtig“ treffend das Wesen des blitzartig aufflackernden Begehrens.

Als ebenso montageartigen Kommentar zu diesem typisch „postdramatischen Theater“ bot die Gemeinschaftsproduktion „danach“ sogenannte „SplitterSzenen aus der Literaturgeschichte“ für zwei Schauspieler im Wechsel mit collagierten fünfhundert Bruchstücken aus der Musikgeschichte. Unter dem Autorenpseudonym Frieder Nahowski-Marienthal beteiligten sich Ideengeber Wolfgang Hofer, Regisseur Thierry Bruehl, Musikmonteur Matthias Schneider-Hollek, Lichtkünstlerin rosalie und Dramaturg Hans-Peter Jahn. In Sprechtheater-Dramuletten monologisierten Mann und Frau mit locker-flockigen Tiefsinnssprüchen aneinander vorbei („Verzweiflung kriegst du nicht im Discount, da musst du schon in die Feinkostabteilung“), gefolgt von massigen Simultanmontagen übereinander gelegter Streichquartette und Schlussakkorde aus symphonischen Werken von Wagner bis Schönberg, die das spürbare Transzendenz-Bedürfnis der Werke zu irdisch wütendem Toben zusammenballten.

Zu einem Ereignis wurde die deutsche Erstaufführung der revidierten Fassung von Lachenmanns 2008 entstandenem „Got lost“ in der eindringlichen Wiedergabe durch die hellwach agierende Pianistin Yukiko Sugawara und die ausgezeichnete amerikanische Sopranistin Elisabeth Keusch, die bereits 2002 eine der beiden tragenden Partien von „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Staatsoper Stuttgart gesungen hatte. Mit jener „Musik mit Bildern“ hat das neue Stück durchaus Ähnlichkeiten. Einerseits folgt es dem Konzept der Musique concrète instrumentale, indem es die mechanisch-energetischen Bedingungen der Hervorbringung von Klang freilegt und Analogien zwischen der disparaten Besetzung von Klavier und Singstimme herstellt, etwa durch Kombination von stimmlosem Hauchen mit aufgehobener Klavierdämpfung ohne Anschlag oder Flatterzungensingen mit schnarrenden Bassaiten und Gueroeffekten über Saitenumwicklung. Indem sich die Pianistin ihrerseits vereinzelt an Vokalaktionen beteiligt, entstehen auch rein stimmliche Parallelen zwischen den Partien. Andererseits entfaltet das über zwanzigminütige Werk auch regelrecht ariose Qualitäten und opernhafte Dramatik. Dass Gesangstöne im Flügelinneren mitschwingen wie weithin nachrollende Echorufe im Gebirge, mag auf Nietzsches Gedicht „Der Wanderer“ anspielen. Dem zur Seite gestellt sind ein Gedicht von Fernando Pessoa und ein zufällig im Fahrstuhl aufgeschnappter englischer Zettel. Die Unterschiedlichkeit von Sprache, Stilistik und Aussage der Texte – letzterer die Bitte, einen entwendeten Wäschekorb wieder zurückzugeben – bewirkt jeweils andere An- und Entspannungen der vielen Generalpausen, die das Werk durchziehen. Einmal wird das im Werktitel versteckte Wort „gott – los“ ehrfürchtig über die nihilistische Leere gestreckt. Ein anderes Mal findet die gespannte Stille ihre profane Auflösung im Wäschetrockner „dryer“.

Im Rahmen eines „Pasolini Projekts“ brachten die Neuen Vocalsolisten Stuttgart ein „Love Requiem“ von Saed Had-dad sowie drei Vokalsextette auf Gedichte von Pier Paolo Pasolini zur Uraufführung. Evdokija Danajloskas „Canto civile“ folgte mit übertriebenem Vibrato dem Idiom von Klageweibern und Claus-Stef-fen Mahnkopf porträtierte im Epitaph „void – un delitto italiano“ den vielseitigen italienischen Filmregisseur einseitig von dessen Ermordung 1975 her durch erweiterte Madrigalismen aus Röcheln, Stöhnen, Schreien und Schlagbewegungen, deren übertrieben tragisches „mo-rire“ das Publikum jedoch humoristisch auffasste. Die „Madrigali a Dio“ von Johannes Schöllhorn begannen mit einer wunderschönen, gesummten Melodie, vielleicht als Huldigung an die Heimat des Bel Canto, die man ausgerechnet von einem ehemaligen Schüler Mathias Spah-lingers nicht erwartet hätte, der Melodien bekanntlich für den Inbegriff musikalischer Regression hält. Indes schlossen sich an die einstimmige Monodie fünf klanglich-gestisch klar profilierte Charakterstücke an: weite Legato-Kantilenen, rhythmisches Sprechen, in kurze Klangpunkte aufgelöste Wortsilben, eine Kombination aus rhythmisch-kantablen und punktuellen Elementen sowie plötzliche appellative „tu“-Rufe in einer Pianissimo-Fläche aus Sprechen und Singen.

Das Konzert im Vortragssaal des Mercedes-Benz Museums in Untertürkheim wurde zur Tortur. Zu Gast beim Weltkonzern hatte man sich einen repräsentativen Rahmen für die Verleihung des mit zwölftausend Euro dotierten vierundfünfzigsten Kompositionspreises der Landeshauptstadt Stuttgart mit anschließendem Sektempfang erhofft. Doch der Ort erwies sich akustisch, optisch und belüftungstechnisch als Katastrophe. Mit dem ältesten deutschen Preis für zeitgenössische Musik ausgezeichnet wurden zu gleichen Teilen Annesley Black und Daniel Smutny, deren Werke sich unter hundertfünfundsiebzig Einreichungen durchgesetzt hatten. Smutnys Streichquartett „So zaghaft diese Worte der Nacht“ begann dort, wo Lachenmanns berühmtes Quartett „Gran Torso“ von 1972 hinführte: bei nahezu Nichts, leisestem Rauschen und Zirpen an und unter der Hörschwelle. Augenscheinlich rhythmisch intrikate Passagen waren nur anhand der Spielbewegungen des Salzburger Stadler Quartetts zu verfolgen. Erst auf der Zielgeraden verließ das Stück die Lachenmannoide Klangwelt und gewann mit tickenden Flageolett-Ostinati eine gewisse Eigenständigkeit. Blacks „Humans in Motion“ für das Ensemble ascolta spielte mit instrumentalen Verwandlungen. Gleich zu Beginn wurden Gitarre und Klavier durch Zupf- und Dämpftechniken zu nahtlosen Fortsetzungen einer Kalimba. Andere Mutationen führten zu Kinder- oder Karnevalstrompeten. Problematisch an dieser trickfilmhaften Klangästhetik waren die geringe Unterschiedlichkeit und simple Reihung der Episoden, die keinen auf Dauer tragenden Formprozess erkennen ließen.

Überzeugender wirkte Wieland Hobans „Scheinzeit“. Ein solistischer Kontrabass schiebt sich hier knarrend wie ein wuchtiger Massiveichenschrank in die ziselierte Rokoko-Sitzgruppe des Streichquartetts. Das vordergründig traditionelle „Streichquartett Nr. 1“ von Jörg Mainka fesselte durch ein spannendes Formexperiment, indem es sich bewusst in die Gattungsgeschichte stellte und deren Verlauf gleichsam nachzeichnete. Die polyphone Anlage von drei verschiedenen Materialebenen (Pizzikati, Läufe, Liegetöne) verzichtete konsequent auf erweiterte Spieltechniken und wurde schrittweise höher sequenziert. Durch wiederholte Gesten des Abbrechens und Neuansetzens versprengter Tonumspielungsfloskeln, die aus diversen Quartetten zwischen Haydn und Schönberg hätten stammen können, entstand die Form einer nach oben offenen Spirale, die auf verändertem Niveau wieder in den Anfang hätte zurückleiten können, würde das Stück hier nicht einfach abbrechen.

Querständig zum sonstigen Eclat-Programm verhielt sich das Porträtkonzert des zweiundachtzigjährigen Wilhelm Killmayer. Der Münchner Altmeister versteht es, mit wenigen Tönen die längst versunkene Tonalität wie ein auf Rosenquarz gespiegeltes Alpenglühen umso roter erstrahlen zu lassen. Dabei erscheinen die vertrauten Tongefilde durch übersteigerte Ausschließlichkeit geradezu unwirklich, unnatürlich, künstlich. Die „Douze Etudes transcendentales“ von 1991/92 etwa beruhen auf einer Art Meta-Diatonik aus jeweils nur sieben Tönen ohne jede Chromatisierung, deren bewusst antivirtuose, spielerisch-musikantische und oft ländlerartige Sätze mit unerwartet ironischen Wendungen schließen. Im 1991 vollendeten dritten Teil von Killmayers „Hölderlin-Liedern“ und den „Acht Liedern nach Gedichten von Georg Trakl“ von 1993 stellte Tenor Markus Schäfer – von Siegfried Mauser am Klavier luzide begleitet – seine stimmliche Flexibilität zwischen lyrischer und hymnisch-opernhafter Geste bei hervorragender Textartikulation und Intonationssicherheit bis hinauf in Falsettlage stilsicher in den Dienst der Texte und ihrer Vertonung.

Das Abschlusskonzert mit dem Radio-Sinfonieorchester des SWR Stuttgart unter Leitung des jungen französischen Dirigenten Jean Deroyer konfrontierte im zweiten Teil zwei nationaltypische Werke mit französisch-virtuoser Klangsinnlichkeit beziehungsweise deutsch-gründlicher Geschichtsbefragung. Philippe Manourys Violinkonzert „Synapse“ begann scheinbar klar konzeptionell mit der solistischen Exposition dreier Grundelemente (Liegeton, crescendierender Auf- und decrescendierender Abstrich), die das hinzutretende Orchester in lichten Klangfirnis hüllt. Doch verliert sich das Geschehen schnell in geistlosem Virtuosengeklingel der immerhin brillant aufspielenden Geigerin Hae-Sun Kang. Demgegenüber ist Markus Hechtles „Szene mit Dunkel“ eine selbstreflexive Musik über Musik aus „herunterkopiertem Material“ mit Anklängen an Wagner, Bruckner, Rachmaninow bis Kurtág und Wolfgang Rihm. Da ausschließlich tiefe Streicher und Bläser zum Einsatz kommen, sind statt der Violinen auf der linken Bühnenhälfte nur solistische Harfe und Gitarre plaziert, die ihrerseits instrumententypische Klischees wie Arpeggio und Bisbigliando spielen. Das düstere Endzeitkolorit aus verhuschtem Gewisper, bedrohlich anrollenden Mollakkorden sowie apokalyptischen Blechbläserattacken und Wirbeln auf Pauken und Großer Trommel führte den Hörer auf eine Gratwanderung zwischen ironisch distanzierter Demontage bekannter stilistischer Versatzstücke und deren unmittelbar affektiver Wirkung.