MusikTexte 125 – Mai 2010, 83–84

Dissertation als Kampfplatz

Eine neue Monographie zu Helmut Lachenmann

von Rainer Nonnenmann

Die Auseinandersetzung mit dem Schaffen von Helmut Lachenmann scheint in eine neue Phase zu treten. Lange von der konservativen Presse als „Darmstadt-Komponist“ geschmäht, dann zunehmend anerkannt, gewürdigt, gefeiert, gepriesen und schließlich zum Gegenstand eingehender musikwissenschaftlicher Abhandlungen gemacht, wächst nun mit der Schar der Hörer, Schüler und Exegeten auch wieder die seiner Kritiker. Wer groß wurde, muss nun kleingeredet werden. Der zunehmende internationale Erfolg des „Verweigerungs-Komponisten“ reizt zum Widerspruch. Solcher ist immer willkommen, wenn er produktiv zu neuen Erkenntnissen führt. Doch die neueste Monographie von Marcos Mesquita laviert an der Grenze zum Pamphlet. Der aus Brasilien stammende Lachenmann-Schüler, der zwischen 1985 und 1988 bei ihm in Stuttgart studierte, hat sich vorgenommen, das Denken seines einstigen Lehrers als „teu-tozentrisch und oberflächlich“ (120), als „egozentrisch, ja infantil“ (158) und von „rührender Naivität“ (132) zu entlarven.

Dabei vermag ein erster Blick in das Inhaltsverzeichnis dieser an der Universität Karlsruhe angenommenen Dissertationsschrift „Klangprojektion in die Zeit – Ein Weg zum Orchesterwerk ,Staub‘ von Helmut Lachenmann“ (Hofheim: Wolke, 2010, 285 Seiten) zunächst durchaus Interesse zu wecken. Mit Hilfe eines historischen Überblicks über einschlägige Bei-spielwerke der neuen Musik des zwanzigsten Jahrhunderts möchte Mesquita „fünf Grundstrategien zur Klangprojektion in die Zeit“ herausarbeiten: „Kontinuum“, „Juxtaposition“, „Superposition“, „Pointillistische Streuung“ und „Sublimi-nale Vernetzung“. Die Termini bleiben jedoch unbegründet, so dass schnell der Verdacht aufkommt, der gespreizte Buchtitel meine letztlich nichts anderes als das gute alte Komponieren mit verschiedenen musikalischen Strukturvorstellungen. So wenig deutlich wird, was an den ausgewählten Werken zwischen Bach und Xena-kis exemplarisch sein soll, so wenig werden die postulierten „Grundstrategien“ aus den Werken selbst herausgearbeitet, sondern unter Ausblendung anderer und oft wichtigerer Phänomene den Werken deduktiv übergestülpt. Zweifelhaft an solchem Vorgehen ist auch die Unklarheit, wie das propädeutische Unterfangen als methodische Voraussetzung für die Analyse von Lachenmanns Orchesterwerk „Staub“ dienen soll. Ähnliches gilt von den zahllosen Zitaten verschiedenster Komponisten über Zeitartikulation, deren polyglotte Fülle auf Italienisch, Französisch, Englisch und Deutsch beeindrucken mag, aber weder die argumentative Stringenz noch Lesbarkeit fördert.

Tatsächlich ist der im Buchtitel genannte Weg zu Lachenmann lang, sehr lang. Er beträgt nicht weniger als hundertzehn Seiten. Bis zum eigentlichen Zielpunkt „Staub“ kommen weitere fünfzig Seiten hinzu. Und dieser Weg ist dornig und voller Gestrüpp. Der Autor verheddert sich in Detailanalysen von Besetzungen, Ton- und Intervallfolgen verschiedener Werke, unter denen mehr zufällig auch zwei von Lachenmann gestreift werden. Statt die Themenstellung im Blick zu behalten, wird musikhistorisches Allgemeinwissen ausgebreitet, zwar quellenreich – wie die insgesamt fast sechshundert Fußnoten und fast einhundert Abbildungen, Tabellen, Graphiken und Notenbeispiele bezeugen –, aber ohne absehbare Relevanz für die Beschäftigung mit Lachenmanns Musik. Das Kapitel über „Staub“ rekonstruiert in philologischer Kleinarbeit anhand von Partitur, Skizzen und Entwürfen aus der Sammlung Helmut Lachenmann der Paul Sacher Stiftung Basel die kompositorische Genese des Werks. Neben Motivelementen aus Beethovens Neunter Symphonie, zu der Lachenmann sein Werk als „Prolog“ konzipierte, werden minuziös Ton-und Intervallkonstellationen, Dauernwerte, Tempoangaben und Formteile analysiert. Dabei führen seitenlange tabellarische Auflistungen oft zu wenig aussagekräftigen Ergebnissen. So entspricht etwa die Anzahl der Sechzehntel des ersten Werkteils 70,76 Prozent derjenigen des zweiten, was trotz Biegens und Brechens keine Deutung als Goldener Schnitt erlaubt. Dann wieder lässt sich Mesquita auf kaum plausibel zu machende Spekulationen ein, wenn er etwa zwei übereinander pfeilartig zulaufende Tonfolgen als „B“ wie Beethoven oder – gemäß Schillers „Ode an die Freude“ – als Flügel oder Kontur von Bergen deutet. Von den anfänglich exponierten „fünf Grundstrategien zur Klangprojektion in die Zeit“ ist dabei die ganze Zeit keine Rede. Sie werden erst in einem Schlusskapitel nachträglich in das Werk hineingelesen als Belege für die Widersprüchlichkeit, Unoriginalität, Angepasstheit und Karrieregeilheit von Lachenmanns Musik.

Hauptkampfplatz der Publikation (Band 13 der von Claus-Steffen Mahnkopf und Johannes Menke herausgegeben Reihe „sinefonia“) ist das dritte Kapitel „Dialog mit den Ideen Helmut Lachenmanns“. Vorgeblich eine kritische Aufarbeitung zentraler Ideen und Termini von Lachenmanns Denken über Musik, handelt es sich in Wirklichkeit um eine von selektiven Deutungen, mutwilligen Missverständnissen und Falschaussagen durchsetzte Polemik. Dass der historische Rekurs auf die Nachkriegsavantgarde von nicht belegten Falscheinschätzungen wimmelt, ist ärgerlich genug. Wirklich problematisch aber sind die argumentativen Brüche und Unstimmigkeiten, die kaum anders denn mit aus Ressentiment gespeisten Vorverurteilungen zu erklären sind.

Wenn Lachenmann den Innovationsdrang der abendländischen Musik durch einen Vergleich mit kultisch gebundener Musik anderer Kulturen verdeutlicht, die ihre magische Rolle beibehalten habe, so wirft ihm Mesquita vor, aus eurozentrischer Sicht die eigene Herkunft verherrlichen und andere Kulturen abwertend bagatellisieren zu wollen (158). Abgesehen davon, dass Lachenmann diesen Vergleich wertfrei anstellt, wird darüber hinaus verkannt, dass „Magie“ bei La-chenmann nicht einseitig negativ konnotiert ist und also auch nicht eindeutig abwertend gemeint sein kann, sondern im Gegenteil jeder Komponist in der abendländischen Tradition danach strebt, seine Musik aus den Strukturen heraus ihre eigene Magie entfalten zu lassen, ohne diese aus schon bestehender Musik nur zu entlehnen. Die unterstellte Entgegensetzung geht bei Lachenmann nicht auf, gerade bei ihm nicht, der sich seit den achtziger Jahren zunehmend mit ostasiatischem und vor allem japanischem Denken befasst.

Lachenmanns Begriff des „ästhetischen Apparats“ bezeichnet Mesquita als „grauenhaften Käfig, in dem die Gesamtheit der menschlichen, und nicht nur musikalischen, Kreativität eingesperrt wird“ (121). Er hält diesen Begriff wegen seiner universalistischen Bedeutung für untauglich, wirft aber Lachenmanns strukturalistischen Musikanalysen drei Seiten später vor, die Werke aus Vergangenheit und Gegenwart in einen „hortus conclusus“ einzusperren. Dabei übersieht er, dass gerade die kompositorische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen „ästhetischen Apparat“ der Zeit die Musik mit der Gesellschaft vermittelt. Für Lachenmann ist die Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Apparat eine mit der Gesellschaft. Zu Recht problematisiert Mesquita, das Lachenmanns Musik mit steigender Akzeptanz im Musikleben selbst zu einem Teil des ästhetischen Apparats werde, den sie zu kritisieren vorgibt. Indem er Lachenmanns Werk aber auf eine „schnell veraltende deutschlandgebundene Klang- und Gesellschaftskritik“ (137) reduziert, verkennt er den Grad von dessen inzwischen internationaler Verbreitung. Als Beispiel dafür, dass der Hörer in Lachenmanns Musik statt der Verweigerung des Apparats nur „physiologische Geräusche, die etwa von Meteorismen herrühren“ (135), wahrnehme, nennt Mesquita „Accanto“. Dabei hat Lachenmann ausgerechnet hier den „ästhetischen Apparat“ in Gestalt von Mozarts Klarinettenkonzert als Referenz-punkt in seine Musik einbezogen und klanglich konkretisiert wie in keinem anderen Werk. Schließlich widerspricht sich der Autor selbst, wenn er Lachenmanns angeblich rein selbstbezogene Geräuschmusik pauschal zur Metamusik deklariert, die ihren Referenzpunkt in der „austrodeutschen Konzerttradition“ (139) habe, also letztlich doch auf etwas außerhalb ihrer selbst bezogen ist, was Lachen-mann „ästhetischen Apparat“ nennt.

Lachenmanns Konzepte der Musique concrète instrumentale und des dialektischen Strukturalismus entwertet Mes-quita beiläufig als „Rettungsanker für viele seiner Anhänger und Rezensenten“ (133), wo doch gerade diese Ansätze über Lachenmanns eigenes Schaffen hinaus längst in sehr verschiedener Weise wirkungsmächtig geworden sind. Kaum einer Begründung für nötig hält Mesquita auch Aussagen wie diese: „Es ist offensichtlich, dass sich die Musik Lachenmanns durchaus durch eine gewisse Beliebigkeit auszeichnet.“ (129) Abgesehen davon, dass die hier ins Visier genommene Musik Lachenmanns vom Ende der sechziger Jahre wegen des – vom Autor ignorierten – Konzepts der Musique concrète instrumentale ein überaus profiliertes Material erweiterter Spiel- und Klangpraktiken aufweist, fängt in solchen Sätzen der kühne Kritiker an zu schwächeln, indem er es für nötig hält, „Offensichtliches“ „durchaus“ durch eine „gewisse“ Vorsicht abzumildern.

Die unerquickliche Melange aus Ignoranz und Ranküne hat mit einer „Katego-rienlehre des Phänomens der ,Musik als Zeitkunst‘“ vom „Rang eines musikphilosophischen Textes“ – wie auf dem Buchumschlag der Karlsruher Doktorvater Siegfried Schmalzriedt tönt – nichts zu tun. Manche Textpassage des – warum auch immer – enttäuschten ehemaligen Lachenmann-Apostels taugt mehr als Studienobjekt für Psychiater denn für eine Dissertationsschrift. Wer wiederholt beteuern zu müssen meint, er sei „Kein Adept, kein Möchtegern“ und es gehe ihm nicht um „ungerechtfertigte Admo-nition“ (159) – sprich: um ungerechtfertigte Ermahnung oder Verwarnung –, scheint eben damit sein ureigenstes Motiv zu bekennen.

Die umfangreiche Sekundärliteratur zu Lachenmanns Musikdenken und Werk hält Mesquita keinerlei Auseinandersetzung für würdig. Er verdammt sie ohne Unterschied als wertlos, weil in den „flachen Abhandlungen“ angeblich nur „lachenmannisch“ gedacht und geschrieben werde. Um dies zu demonstrieren, reißt er Textbeispiele aus ihrem Kontext und stellt sie isoliert an den Pranger, ohne bereits formulierte Erkenntnisse aufzugreifen, differenziert zu diskutieren, zu kritisieren oder weiterzudenken. Folglich bleibt manches seiner Dissertationsschrift gegenüber einschlägiger Sekundärliteratur redundant. Statt auf Aufbau und fundierte Kritik bedacht zu sein, betreibt Mesquita ein heilloses Abrissunternehmen. Er verwirft damit nicht zuletzt eben jene Disziplin, deren Doktorgrad er zugleich zu erwerben trachtet und der sein als Dissertationsschrift angenommenes Buch in der Tat kein gutes Zeugnis ausstellt.