MusikTexte 125 – Mai 2010, 72–73

Mister Feedback ist tot

Abschied auf Raten: Ein Nachruf auf Johannes Fritsch

von Rainer Nonnenmann

Im Zentrum seines Schaffens stand der Wunsch nach „Feedback“, nach gesellschaftlicher Resonanz, Teilhabe und Interaktion. Er wollte mit Musik etwas bewirken, egal ob er als Bratschist im Ensemble von Übervater Karlheinz Stock-hausen spielte oder eigene Musik aufführte und erdachte. Johannes Fritsch zielte stets auf kommunikative Rückwirkung, sei es als Komponist, Improvisator, Studiobetreiber, Verleger, Veranstalter, Zeitschriftenherausgeber, Autor, Lehrer, Pädagoge. Schon seit Langem von einer schweren Krebserkrankung gezeichnet, ist er nun am 29. April im Alter von achtundsechzig Jahren gestorben.

In Bensheim-Auerbach an der Hessischen Bergstraße am 27. Juli 1941 geboren, kam Fritsch 1961 nach Köln, um an der Universität Musikwissenschaft, Soziologie, Philosophie sowie an der Musikhochschule Bratsche und bei Bernd Alois Zimmermann Komposition zu studieren. Ab 1963 besuchte er Stockhausens Kölner Kurse für Neue Musik, in dessen Ensemble er noch vor Ablegen seiner künstlerischen Reifeprüfung als Bratschist ab 1964 als festes Mitglied bei zahlreichen Konzertreisen, Rundfunk- und Schallplattenaufnahmen mitzuwirken begann. Seinen Wechsel von Zimmermann zu Stock-hausen, zwischen den verfeindeten Kölner Antipoden, kommentierte er gern mit dem lakonischen Wortspiel „Der Stock im Haus ersetzt den Zimmermann“.

Im Anschluss an die Weltausstellung in Osaka 1970, bei der Fritsch zusammen mit Rolf Gehlhaar und David Johnson monatelang im deutschen Kugelpavillon Stockhausens Kurzwellen- und Prozesskompositionen vor einem Millionenpublikum aufgeführt hatte, sagten sich die drei Komponisten-Interpreten vom Meister los, um mit dem in Japan erspielten Honorar in einem Hinterhaus des Kölner Belgischen Viertels das „Feedback Studio“ aufzubauen. Dessen Lowtech-Einrichtung charakterisierte Fritsch selbstironisch als „merkwürdige Verschränkung von Avantgarde einerseits und Flickschusterbetrieb andererseits“. Ab 1975 führte Fritsch das Studio bis zur Auflösung 2009 ganz allein weiter. Hier veranstaltete er „Hinterhausmusiken“ mit Konzerten, Vorträgen oder Werkstätten von Komponisten, Interpreten, Jazzern und Gruppen aus Indien und Japan. 1971 folgte die Gründung des „Feedback Studio Verlags“. Neben rund dreihundert Partituren erschienen in diesem ersten deutschen Komponistenverlag auch die Zeitschrift „Feedback Papers“ sowie einige Bücher, darunter 1972 die Dokumentation „Straßenmusik in Köln“, deren zweite Auflage 2008 zwei Compact Discs mit Aufnahmen von Musik und Erzählungen Kölner Straßenmusiker erhielt, deren schwer gebeutelte Biographien, direkte Ausdrucksweise und große Liebe zur Musik dem Hörer zu Herzen gehen.

Fritschs Selbsthilfeinitiativen wurden zum Vorbild für andere Musiker, sich von großen Veranstaltern, insbesondere dem Kölner WDR, unabhängig zu machen und eigene Freiräume zum Produzieren und Präsentieren zu schaffen. Fritsch gehörte zum Urgestein der Kölner Szene der neuen Musik. Neben Unternehmungen in eigener Sache war er Gründungsvorstand der – nach den Vorgängervereinen der zwanziger und fünfziger Jahre – 1981 bereits zum dritten Mal ins Leben gerufenen Kölner Gesellschaft für Neue Musik sowie jahrelang tätig als Beirat der Kölner Kunst-Station Sankt Peter für das dortige Musikprogramm.

Fritsch war ein passionierter Lehrer. Bereits ab 1965 unterrichtete er Musiktheorie an der Rheinischen Musikschule. Von 1971 bis 1984 leitete er eine Kompositionsklasse und ein Seminar für Neue Musik an der Akademie für Tonkunst in Darmstadt. Gleichzeitig war er Lehrbeauftragter für Allgemeine Harmonik und Medienästhetik an der Musikhochschule Köln, wo er schließlich von 1984 bis 2006 als Kompositionsprofessor wirkte. Zu seinen Schülern gehörten unter vielen anderen Volker Staub, Harald Muenz, hans w. koch, Winrich Hopp, Andreas Wagner, Siegfried Koepf und als jüngste Oxana Omelchuk. Allgemein geschätzt wurde seine Improvisations- und Experimentierlust, Diskussionsbereitschaft, stilistische Offenheit bis hin zu Rockmusik und Happening sowie seine vielfachen Interessen nach fast allen Seiten hin.

Als Musiktheoretiker referierte Fritsch regelmäßig bei den Frühjahrstagungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt, als dessen Vorstand er vierunddreißig Jahre lang von 1974 bis 1998 die Auswahl der Tagungsthemen und Dozenten mitbestimmte. Als Vortragender trat er auch dreimal bei den Darmstädter Ferienkursen in Erscheinung, 1974, 1984 und 1986. Und zusammen mit Peter Ausländer von der Landesarbeitsgemeinschaft Musik in Ostwestfalen-Lippe und dem WDR veranstaltete er zwischen 1979 und 1986 vier „Weltmusik-Kongresse“ im Jugendhof Vlotho, dem er auch später durch Performances und verschiedene Projekte der Musikvermittlung verbunden blieb.

Schon stark von Krankheit und Therapieversuchen geschwächt, faszinierte Fritsch noch im Januar 2010 als Zeitzeuge die Studierenden im Hochschulseminar des Autors „Musik- und Institutionengeschichte im Köln der 1950er bis 1970er Jahre“. Eindruck machten neben seiner markanten Persönlichkeit vor allem seine detailreichen Ausführungen über Material, Form und den gesellschaftspolitischen Subtext seiner elektronischen Collage-Komposition „Modulation IV“. Im Jahr des studentischen Protests 1968 hatte er hier vielstimmig gegen den Vietnamkrieg ankomponiert und dabei auch den damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke spielerisch verulkt. Und nachdem die „MusikTexte“ im letzten August-Heft 122 einen Fritsch-Schwerpunkt gebracht hatten, erschien dieses Frühjahr gerade noch zu Fritschs Lebzeiten ein Auswahlsammelband seiner Schriften, Vorträge, Interviews und Werkkommentare (Mainz 2010, herausgegeben von Robert von Zahn und dem Autor) mit dem für sein Musikdenken bezeichnenden Titel:„Über den Inhalt von Musik“.

Der „Inhalt von Musik“ benennt die entscheidende Schnittstelle von Fritschs Denken über und in Musik. Als Musiktheoretiker wie als Komponist richtete sich sein Interesse von Anfang an auf den dunklen Bereich, in dem sich Wahrnehmungen in Gefühlsregungen verwandeln, so dass Musik nicht nur leeres Tönen bleibt, sondern sich zur entzifferbaren Botschaft verdichtet. Geprägt wurde er hierin zweifellos durch Bernd Alois Zimmermann, der Musik durch Zitate, Texte und medial vermittelte Sprach- und Klangdokumente mit Bedeutung auflud. Schon in den Frühwerken „Ikonen“ und „Akroasis“ suchte Fritsch ikonographische Aspekte auf Musik zu übertragen. Es folgten zahlreiche angewandte Musiken für Theater, Film und Ballett sowie eigenständige intermediale Arbeiten und Werke, die jenseits des puristischen Strukturgebastels der seriellen Lehrergeneration auf Wirkung und umfassendes ästhetisches Erleben drängen. Spirituelle Sphären berühren seine unter Einflüssen der japanischen Kultur und Musik entstandenen Stücke, als eines der ersten „Kyo mu“ für Flöte und Zuspielband von 1982. Andere Stücke betonen hör- und sichtbar den performativen Charakter von Musik. Die „live-elektronische Improvisa-tionskomposition“ für Viola d’amore und Synthesizer „Violectra“ führte Fritsch viele dutzend Mal selber auf, bis in die USA, UdSSR und nach Japan. Auch als Folge seiner schwindenden Gesundheit wurde sein Aktionsradius später immer enger, bis Fritsch während der letzten Jahre über Köln hinaus kaum mehr im Musikleben präsent war.

Schon früh begegnet in seinem Œuvre die Auseinandersetzung mit dem Tod. Seit den „Fragmenten über den Tod“ und „De Profundis“ aus den achtziger Jahren war der Tod Inhalt vieler seiner Werke, im „Trio vom Ende“ ebenso wie in der 2001 uraufgeführten „Osteophonie“, bei der ein Schlagzeugquartett auf einer säuberlich nach Größe und Klang geordneten Kollektion von Knochen spielt. Als eines seiner letzten Werke komponierte Fritsch „Einschübe/Abgesang“ posthum zum achtzigsten Geburtstag Stockhau-sens 2008 (die Partitur ist in MusikTexte 122, Seite 56–58 abgedruckt). Diese zwischen Melodik und Akkordik schwebende Abschiedsmusik konnte vielleicht nur ein selbst schon Todgeweihter ersinnen.