MusikTexte 127 – Dezember 2010, 89–90

Durch die Mangel flacher Bühneneffekte gedreht

Samir Odeh-Tamimis und Albert Ostermaiers „Leila und Madschnun“ bei der Ruhrtriennale 2010

von Rainer Nonnenmann

Die Missverständnisse beginnen bereits auf dem Parkplatz. Die Frage des Platzanweisers „Zum Event?“ sticht seltsam ab vom zeitgenössischen Musiktheater-Schaffen, dessentwegen man anreist. Und so sehr die schroffe Industriebrache mit ihren wüsten Schotterflächen, wuchtigen Rampen, massigen Betonsockeln und archaisch-antik sich auftürmenden Ziegelmauern im Bochumer Norden fasziniert, so befremdlich glatt wirkt der gesichtslose Schick, mit dem sich das neue Glas-Stahl-Sichtbeton-Foyer vor die dadurch fast völlig verstellte Jahrhunderthalle schiebt. Einstmals dampfende Stahlschmiede und Schauplatz härtester Schufterei flaniert im nunmehr rundumsanierten Maloche-Ambiente gediegene Premierenprominenz aus Politik, Wirtschaft und Kulturadministration um den zur „Kathedrale der Industriekultur“ umgeweihten Zweckbau der vorvorigen Jahrhundertwende. Doch dem heiteren Beisammenseins bei Sekt und Wein folgt drinnen eine Ausnahmesituation: eine in Zeiten des Krieges bedingungslos bis zur totalen Selbst-, Menschen- und Weltverachtung gehenden Liebe.

Die riesige Halle ist gefüllt mit hellem, fast weißem Sand. Im warmen Bühnenlicht gäbe dies leicht einen makellosen Traumstrand ab, lägen darin nicht versprengte Schrottteile und ein ausgebrannter Armee-Tanklastzug, wie sie der letzte Golfkrieg in der irakischen Wüste zurückgelassen haben könnte. Zudem jagen Kampftruppen umher und tost aus Lautsprechern und Stroboskop-Blitzen ein Feuergefecht im Dolby-Surround-Sound wie bei einem Hollywood-Streifen. Der adrette Bühnenrealismus, der dem schaudernden Theaterpublikum die Brutalität des Kriegs vor Augen und Ohren zu führen beabsichtigt, bleibt indes billiger Sinnenkitzel und hilflos banal angesichts des realen Schmutzes und Schreckens des Kriegs. Doch plötzlich wendet sich die Szenerie ins Poetisch-Irreale. Die Truppen ziehen ab und zurück bleibt ein verwundeter Soldat, der sich in die Liebesgeschichte von „Leila und Madschnun“ aus dem gleichnamigen Buch des persischen Dichters Nizami des zwölften Jahrhunderts hineinphantasiert. Als Sinnbild seiner literarischen Weltflucht entschwebt das gestrandete Autowrack schwerelos in den Bühnenhimmel, wo es mit fein herabrieselndem Sand noch die letzte Erdenschwere hinter sich lässt.

Wie zu Beginn laviert „Leila und Madschnun“ in der Regie des Triennale-Intendanten Willy Decker und dem Bühnenbild von Wolfgang Gussmann auch im weiteren Verlauf zwischen sprechenden Bildern und vordergründig aufgedonnertem Bühneneffekt. Schuld daran hat zweifellos auch das mit zu viel Existentialismus überfrachtete und vordem schon an prominenten Stellen von anderen tragischen Paaren wie Romeo und Julia oder Tristan und Isolde et cetera verhandelte, wenngleich sehr operngerechte Thema Liebe. Tatsächlich dreht sich Albert Ostermaiers Text um nicht weniger als die ganz großen Dinge und Fragen des Lebens, um Liebe und Hass, um den Konflikt zwischen Einzelnem und Gesellschaft, Vater und Sohn, Mann und Frau, Leben und Tod. Das mag zum dunkel raunenden Motto „Urmomente“ der von Decker zwischen 2009 und 2011 verantworteten drei Ausgaben der Ruhrtriennale passen. Es lässt auch manches assoziieren, noch mehr aber im Unbestimmten.

Samir Odeh-Tamimi bezeichnet sein Werk als „Theatralische Erzählung“. Statt Oper oder durchkomponiertes Musiktheater hat der 1970 in Tel Aviv geborene israelische Palästinenser eher eine Folge von Theatermusiken komponiert, die die Erzählung immer wieder unterbrechen, wirkungsvoll Atmosphären schaffen, das Schauspiel kommentieren oder die Expressionen der Protagonisten verstärken. Manches bleibt dagegen rein illustrativ, wenn etwa zur Aufforderung „Heul nicht wie ein Weib!“ die Streicher mit wilden Katzenmusik-Glissandi aufjammern oder zum heulenden Wüstenwind das Akkordeon faucht und die Schlagzeuger mit Bambusrasseln klappern. Über weite Strecken sind nur Soloinstrumente zu hören, Posaune, Trompete, Akkordeon und eine arabische Handrahmentrommel als spezifisch orientalische Farbe, allesamt hervorragend gespielt von Mitgliedern und Gästen des Kölner Ensembles musikFabrik unter der Leitung von Peter Rundel. Als Alter Ego der liebenden Hauptfigur Madschnun dient die Blockflöte, geblasen von Jeremias Schwarzer, der erst jüngst ein Stück von Odeh-Tamimi mit ähnlich sich verausgabendem Solopart bei der MusikTriennale Köln uraufgeführt hatte. Die mangelnde Akustik in der raumgreifenden Eisenträger-Architektur, die in der Vergangenheit immer wieder zu spektakulären Inszenierungen verlockte, erfordert die Verstärkung aller Stimmen und Instrumente. Das hat zuweilen bizarre Folgen, wenn etwa rechts auf der Bühne Gesungenes links aus Lautsprechern zu hören ist.

Die Rolle des Madschnun ist – neben dem vokal und szenisch packend agierenden Chorwerk Ruhr – die einzige Gesangspartie. Dank des brillanten Countertenors Hagen Matzeit erhebt sich diese Stimme als ekstatischer Liebeston über die biedersinnige Umwelt, die in Gestalt von Madschnuns Vater lediglich ihren Profit im Blick hat: „Die Liebe ist eine verderbliche Ware, man muss sie handeln, solange sie frisch ist.“ Der Vater, die anderweitig zwangsverheiratete Leila sowie der sich in die beiden Liebenden des altpersischen Versepos hineinsteigernde Soldat sind mit Ensemblemitgliedern des Deutschen Schauspielhauses Hamburg bestens besetzt. Alle agieren mit großem Einsatz, werden von der Regie aber zu einseitig ins Hysterisch-Exaltierte getrieben. Statt Erschütterungen wirkungsvoll auch mal durch leisere Zwischentöne zum Ausdruck zu bringen, verbrauchen sich die permanenten Verzweiflungen schnell. Eindrücklicher geriet die finale Begegnung der beiden Liebenden, wenn sich diese nach allen Wirrnissen wieder finden, dabei aber nicht einmal ansehen, sondern nur starr und mit verbundenen Augen gegenseitig als bloße Projektionen, Phantasien oder Phantome entlarven.

Eine Schwierigkeit des gesamten künstlerischen Konzepts liegt darin, dass sich die Musik und das vom Text getragene Geschehen mehr abwechseln als wirklich verbinden. Während lange Monologe kaum dramatische Kraft entfalten und die Musik über weite Strecken zum Schweigen bringen, verweisen umgekehrt ausgedehnte Instrumentalpassagen die Schauspieler auf die Wartebank. Zwischen beidem gerät die Regie nicht selten in Verlegenheit. Zwar vermag die Musik von Odeh-Tamimi auch ohne Bilder für sich selbst zu sprechen. Doch damit die Szene unterdessen nicht zum lebenden Bild erstarrt, hält Decker die Akteure ständig auf Trapp, auch mit unsinnigem Hin und Her. Wenn am Ende gar nichts mehr geht, wird die Drehbühne angeworfen, damit das Publikum den wieder im Sand gelandeten Tanklastzug – nun Sinnbild der Ernüchterung – auch ja mehrmals von allen Seiten bewundern kann. Oder wurde so Sinnlosigkeit kongenial in Szene gesetzt? Im letzten Bild schließlich bringen Text und Regie die ohnehin schon gegenwärtigen Metaphern von sengender Leidenschaft und flammender Liebe leibhaftig auf die Bühne. Der Soldat verbrennt sich selbst und verschwindet ruhigen Schrittes – von Kopf bis Fuß lichterloh in Feuer – in der Tiefe des Raums. Statt wie beabsichtigt das Publikum auf diese Weise zur Reflexion des komplexen Verhältnisses von Opfer, Täter und Selbstmordattentäter anzuregen, wirft dieser zirkustaugliche Effekt nur Fragen nach den Tricks der Bühnentechnik auf. So vollzieht der auf unreflektierte Illusion zielende Bühnenrealismus am Ende unfreiwillige seine eigene Selbstdemontage.

Der seit 1992 in Deutschland lebende Odeh-Tamimi, der bei Günter Steinke und Younghi Pagh-Paan in Bremen studierte, war schlecht beraten, als er sich auf die Idee des Triennale-Intendanten einließ, das im arabischen Raum – wie hierzulande „Romeo und Julia“ – allgemein bekannte Liebesdrama durch den deutschen Dichter adaptieren zu lassen, um daraus eine „Theatralische Erzählung“ mit Musik zu machen. Dem Verständnis seiner Musik ist auch nicht förderlich, dass Textbuch, Inszenierung und Bühnenbild zu ausdrücklich auf den Irakkrieg anspielen. Denn die historische Ver­eindeutigung – zufällig verstärkt durch den beginnenden Abzug der US-Truppen aus dem Golfstaat während der Tage um die Premiere am 20. August – läuft Gefahr, die verschiedenen Ausdrucks- und Realitätsebenen von Musik und Handlung zu überfahren. Die konkrete Verortung an einem realen Schauplatz der Weltgeschichte nimmt der Utopie, sich inmitten allgemeinen Schlachtens aus einem Hassenden rückhaltlos in einen Liebenden zu verwandeln, ihre überzeitliche Kraft. Man gibt sich aktuell, kommt dem Kern der Aussage aber nicht näher. Ärgerlich ist die Naivität, mit der sich Ostermaiers Text in Gestalt des Soldaten „Wir bringen diesem Land die Freiheit“ die längst entlarvte Kriegspropaganda der damaligen britischen und US-Regierung zu eigen macht. Indem Dichtung und Regie die nötige historische und mediale Kritik am Gegenstand vermissen lassen, verkommt das Bühnengeschehen passagenweise zum bloßen Surrogat: zum Abbild von Ideologie und Fernsehbildern. Am Ende bleibt der Eindruck einer ambitionierten und überangestrengten, letztlich aber unausgegorenen und wenig berührenden Vorstellung.