MusikTexte 128 – Februar 2011, 91–92

Heliotrophe Klanggewächse

Thomas Bruttger auf Compact Disc porträtiert

von Rainer Nonnenmann

Perlende Tonketten unterbrechen vereinzelt einen langsam decrescendierenden Liegeton, als würden beim Öffnen einer Flasche mit nachlassendem Innendruck fein dosierte Kohlensäurebläschen aufsprudeln. Tatsächlich meint der französische Titel „Effervescence“ dieses Akkordeon-Solos aus dem Jahr 1991 soviel wie „Aufwallen“ oder „Aufschäumen“ einer brodelnden Materie. Am Anfang von „Light, Reflection (Prisma II)“ steht dagegen ein veritabler Urknall. Die tönend bewegte Materie wird hier in je eigener Geschwindigkeit und Richtung durch Raum und Zeit geschleudert, bis sie sich verliert, erneut verdichtet und endlich zu regelmäßigen Klangaggregaten kristallisiert. Auch im weiteren Verlauf dieses 2002 entstandenen Ensemblewerks, das die Doppel-CD eröffnet und ihr den Namen gab, oszilliert das Geschehen zwischen Kontrastpolen: hier extrem polyphone Heterophonie, dort weiche homophone Klangflächen. Doch die Gegensätze bleiben nicht starr. Stattdessen fangen sie an, sich zu befragen und wechselseitig zu befruchten, bis sie sich als gleichsam meteorologische Energiezustände desselben fünfzehnköpfigen Klang­körpers wie Sonne und Regen von selbst auseinander ergeben. Mit einer Initialzündung beginnt auch das zweite groß besetzte Ensemblewerk „Twilight“ von 2001/02. Ein schroffer polyrhythmischer Klangkomplex pflanzt sich hier in wechselnden Varianten fort, bis die rhythmischen Werte der Stimmen so sehr zunehmen, dass das Geschehen bis zum Einzelton ausdünnt. Die Anfangs­energie geht dabei jedoch nicht verloren, sondern bricht sich als veränderte Gestalt in Trommelkaskaden und wilden Repeti­tionsattacken prompt wieder Bahn.

Wer über die Musik von Thomas Bruttger zu sprechen versucht, kommt kaum umhin, Naturmetaphern zu verwenden. Bei allen formalen, proportionalen und materialen Dispositionen, die seiner Musik auf einer konstruktiven Schicht zugrunde liegen, eignet ihr etwas Naturhaftes, Eruptives, Elementares, das sich unmittelbar mitteilt. Nicht umsonst hat der 1954 geborene Komponist viele seiner Werke nach Naturphänomenen betitelt und in seinen Werkkommentaren selbst auf Parallelen zu Naturerscheinungen hingewiesen. Auf der neuen Doppel-CD mit insgesamt neun Werken aus den Jahren von 1989 bis 2002 wären etwa zu nennen: „Effervescence“, „Monolith“ und „Zerklüftete Landschaft – Mit ,Zwielicht‘“. Analogien zu optischen Phänomenen, vor allem zu Licht, thematisieren „Prisma“, „Twilight“ und „Light, Reflection“. Letzteres beschrieb Bruttger als Versuch, „die ästhetisch-sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung von Licht in all seinem Facettenreichtum in eine adäquate musikalische Konzeption umzusetzen“. Grundlegender als derlei Analogien, die leicht zu vorschnellen programmatischen Deutungen verleiten, ist für viele seiner Stücke, dass sie auf bipolaren Material- und Formkonstellationen basieren, deren Kollision und Vermittlung – sei sie noch so dialektisch – naturhaft wirkende Prozesse hervorrufen.

Bruttgers Komponieren gründet in antipodischen Anlagen von Farbe, Dynamik, Tempo, Rhythmik, Harmonik. Gegensatzpaare wie Anspannung und Entspannung, Dichte und Leere, Ruhe und Bewegung, Punkt und Fläche führt er kompositorisch so durch, dass sich die Oppositionen formbildend auswirken. Irgendeine Art von Dualismus zieht sich durch alle seine Werke. Wenn überhaupt, dann mag hierin eine ferne Verwandtschaft zum Themendualismus der alten Sontenhauptsatzform durchschimmern. Das Energetische und Zupackende seiner Musik erinnert zuweilen an die seines Lehrers Iannis Xenakis, bei dem er als DAAD-Stipendiat in Paris sein zuvor bei Nicolaus A. Huber an der Folkwang-Hochschule begonnenes Kompositionsstudium fortsetzte. Immerhin wählte Bruttger für „Light, Reflection“ – wenn auch auf Wunsch des Auftraggebers – dieselbe Besetzung wie Xenakis’ „Jalons“. Indes öffnen sich in diesem Stück unvermutet lyrische, solistische und ganz auf die Schönheit des Einzelklangs fokussierte Passagen, welche die vermeintlich typisch Xenakis-artigen Ausbrüche in Kontexte stellen, die sie zu etwas ganz eigenem machen, was keines Vergleiches mit anderen Komponisten bedarf. Auf der charakteristischen Besetzung von Ed­gard Varèses „Octandre“ basiert – dem Wunsch des Ensembles Aventure folgend – „Monolith“ von 1991 für sieben Bläser und Kontrabass. Wie ein riesiger Gesteinsbrocken steht hier zu Beginn eine massive Repetitionsstruktur, die dann nach einem dem Spektralismus verwandten Kompositionsprinzip sukzessive in ihre Einzelteile zerlegt wird.

In „Zyma“ für zwei Schlagzeuger und Klavier von 1992 kollidieren motorische Raserei und spieluhrwerkartige Mechanik mit frei schwebenden Linien und Flächen, die sich – gemäß dem altgriechischen Werktitel, der soviel wie Sauerteig, Hefe oder allgemein Gärstoff bedeutet – schlagartig in wilde Tonkaskaden verwandeln, als schösse aus stillem Wasser plötzlich ein fauchender Geysir. Darüber hinaus entfaltet dieses zwanzigminütige Trio eine nachgerade orchestrale Vielfalt an Klangfarben. Eine bipolare Anlage zeigt auch „Twilight“. Sie verdankt sich den konträren Aussagen von Parmenides „Das Sein ist unbewegt! Die Bewegung ist Täuschung“ und Heraklit „Das Sein ist bewegt! Die Statik ist Täuschung“, die Bruttger bei einer Wanderung durch die Vulkanlandschaft des Ätna-Massivs auf Sizilien in den Sinn kamen. Wichtiger als die strikte Dichotomie von Statik und Dynamik, wie sie die antiken Philosophen behaupteten, ist dem Komponisten das Gemeinsame dieser Pole, nämlich der zwielichtige, gleichwohl hörend leicht zu erfassende Bereich, wo bewegte Passagen äußerlich erstarrt wirken, während stehende Passage innerlich sehr mobil sein können.

Unter der Leitung von James Avery – 2009 verstorben – spielt das fünfzehnköpfige Ensemble Aventure mit großer Konzentration, Präzision und Präsenz. Dasselbe gilt für die Auftritte der Musiker in solistischen und kammermusikalischen Formationen sowie für die Gastmusikerin Anne-Maria Hölscher am Akkordeon. Mit Ausnahme von „Monolith“ wurden alle Stücke 2007 im Freiburger Paulussaal eingespielt. 1986 in Freiburg gegründet und nach wie vor hier ansässig, gehört das Ensemble Aventure heute zu den ältesten Spezialensembles für neue Musik in Deutschland und Europa. Es wird durch die Stadt Freiburg und das Land Baden-Württemberg gefördert, unterhält in seiner Heimatstadt eine eigene Konzertreihe, hat bisher zwanzig CDs veröffentlicht und setzt sich verstärkt mit „nichteuropäischen Kompositionswelten“ auseinander, so mit Musik aus Lateinamerika, Israel oder Palästina.

Auffallend an der Doppel-CD ist die Reihenfolge der Werke, die sich nicht an Besetzung, Chronologie oder dem zentralen Thema Licht orientiert, sondern an der formalen Anlage der Werke. Die Stücke des ersten Teils beruhen allesamt auf gleichsam naturhaft sich entfaltenden einsätzigen Verläufen, während die des zweiten Teils mehrsätzige Anlagen aufweisen, mit Ausnahme des Bassklarinettenduos „Zerklüftete Landschaft – Mit ,Zwielicht‘“, das jedoch eine klare innere Dreiteiligkeit zeigt. Das Streichtrio „Recherche“ von 1989 besteht aus fünf Sätzen mit jeweils charakteristischer Klanglichkeit und Spielweise: verzitternden Impulsen, knappen Melodiefragmenten mit Terzpendelfiguren, rasenden Tremolo-Ketten, kurzen Gesten mit versprengten Pizzikati, und einem feinen Klanggespinst aus klirrenden Flageoletts und leeren Quinten. So wie im zweiten Satz wenige prägnante Elemente immer wieder neu gruppiert und beleuchtet werden, gibt es auch übergreifende Korrespondenzen zwischen den fünf Sätzen. Der Kombinatorik im Detail entspricht folglich eine der Großform.

Diesem ältesten Werk der Neuerscheinung, das als eines der ersten von vielen weiteren in Bruttgers Werkverzeichnis einen französischen Werktitel trägt, steht mit „Identity and Difference“ 2000 ein Geschwisterwerk zur Seite. Bruttgers ursprünglicher Plan, das ältere Streichtrio für Bläsertrio zu bearbeiten, hatte sich offenbar zu etwas Neuem entwickelt, vor allem wegen des großen Zeitabstands und der verschiedenen Besetzung, bei der auch Pikkolo, Englisch Horn und Bass­klarinette als Zweitinstrumente verwendet werden. Wer beide Trios hintereinander hört, wird manche Verbindungen finden. So stammt die stark augmentierte Oboen-Terzpendelfigur des ersten Satzes des Bläsertrios aus dem zweiten Satz des Streichtrios und entsprechen sich in den beiden dritten Sätzen die Stakkato- beziehungsweise Tremolo-Ketten. Aus vier eigenständigen Sätzen besteht auch das Streichquartett „Prisma“ von 2001/02, das Bruttgers Versuche zur Umsetzung von Musik-Licht-Analogien fortsetzt. So wie ein Prisma das Licht in Spektralfarben spaltet, brechen hier variable Spieltechniken, Flageoletts und Striche am Steg den Quartettklang in Obertöne, Mikrotöne und geräuschhafte Teilspektren. Angesichts der für Bruttgers Schaffen sonst so plausiblen Formverläufe bleibt hier unmotiviert, warum dieses Quartett der „klassischen“ Viersätzigkeit folgt, wo doch die Frequenzen des Lichts vom Infrarot- zum Ultraviolett ein kontinuierliches Spektrum bilden.

Thomas Bruttger, „Light, Reflection“, Ensemble Aventure, Hamburg: Membran Music 2009.