MusikTexte 129 – Mai 2011, 73–76

Mysterienspiel im Hightech-Gewand

Zur szenischen Uraufführung von Karlheinz Stockhausens „Sonntag“ aus „Licht“ in Köln

von Rainer Nonnenmann

Gott erschuf die Welt in sechs Tagen. Am siebenten Tage ruhte er und sah, dass es gut war. Karlheinz Stockhausen arbeitete an seinem Zyklus „Licht“ über die sieben Schöpfungs- und Wochentage sechsundzwanzig Jahre lang. Doch auch er kreierte mit seinen sieben abendfüllenden Opern einen ganz eigenen musikalisch-weltanschaulichen Kosmos. Dessen krönender Schlussstein ist der „Sonntag“. Der Meister selbst plante eine Aufführung dieses von manchem für unaufführbar gehaltenen Riesenwerks an drei Tagen. Zu seinen Lebzeiten wurden die sechs Szenen desselben nur konzertant aufgeführt. Alle Pläne, die Oper in Dresden, Essen und dem Ruhrgebiet herauszubringen, scheiterten. Doch nun präsentierte die Kölner Oper im April die szenische Gesamturaufführung dieses tönenden Hochamts.

Köln feierte damit gleich eine doppelte Premiere, weil es zugleich die erste Inszenierung einer Oper Stockhausens in seiner Heimatstadt war, obwohl er sich immer gewünscht hatte, „Licht“ – oder wenigstens Teile daraus – möchten einmal szenisch in Köln aufgeführt werden. Nun konnte die Oper Köln – nach vielen Jahren der Belanglosigkeit hinsichtlich zeitgenössischen Musiktheaters – endlich wieder einmal Musikgeschichte schreiben. Sechsundvierzig Jahre nach der Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Totaltheater „Die Soldaten“ errichtete sie im Jahr 763 nach der Grundsteinlegung des Kölner Doms auf der gegenüberliegenden Rheinseite im Staatenhaus der Kölner Messe eine ganz eigene Art tönender „Licht“-Gotik: Eine Herkules-Aufgabe für alle Beteiligten und ein außerordentlicher finanzieller Kraftakt sowohl der hoch verschuldeten Stadt als auch des Landeskulturministeriums, des NRW-Kultursekretariats, der Kunststiftung NRW und der Ernst von Siemens Musikstiftung.

Bespielt wurden zwei Säle: der eine kreisrund und weiß getüncht mit flexi­bler beziehungsweise gar keiner Bestuhlung; der andere schwarz ausgeschlagen und mit traditioneller Guckkastenbühne vor aufsteigenden Zuschauerreihen. Beide Räumlichkeiten boten zwar nur eingeschränkt taugliche Akustik, dafür aber fast grenzenlos Platz und die einmalige Möglichkeit, einen ganzen Monat lang mit komplett installierter Tontechnik zu proben und nach Belieben szenisch zu experimentieren. In einem Opernhaus wäre dies bei laufendem Spielbetrieb völlig unmöglich gewesen. Als Solisten agierten langjährige Mitglieder des Stockhausen-Ensembles und brillante ehemalige Teilnehmer der Stockhausen-Kurse in Kürten, die eine Kontinuität von dessen hohen Interpreta­tions­idea­len garantierten. Unter der Leitung von Peter Rundel spielte das auf Orchesterstärke erweiterte Ensemble musikFabrik. Die Klangregie übernahmen Kathinka Pasveer und Paul Jeukendrup. Ein guter Teil des Premierenpublikums war dem Ereignis entsprechend in Weiß erschienen. Für den zweiten Premierenabend – ein Sonntag! – legten manche sogar goldene Blusen, Schuhe, Tücher, Schmuck und Krawatten an, darunter auch Vertreter des Kölner Kulturlebens, die zu Stockhausens Lebzeiten einen weiten Bogen um Aufführungen von dessen Werken gemacht hatten, sich jetzt aber gerne als euphorisiert Anteilnehmende des denkwürdigen Ereignisses gerierten. Insgesamt gab es vier Gesamtaufführungen des Werks an jeweils zwei Abenden sowie zwei Gesamtaufführungen an einem Tag.

Am Ende des ersten Abends stand mit der dritten Szene „Licht-Bilder“ – 2003 als letztes Stück des gigantomanischen Opernzyklus vollendet – ein gesungener Rosenkranz. Das dreiviertelstündige Stück ist eine endlos wirkende Litanei und besteht einzig aus der Nennung hunderter Namen von Planeten, Steinen, Bäumen, Kräutern, Blumen, Düften, Tieren, Heiligen … Alles was Odem hat, lobe den Herrn! In gleicher Weise ist der gesamte „Sonntag“ ein vielstimmiger Hymnus auf den Allmächtigen und eine Feier der mystischen Vereinigung von Himmel und Erde. Immerhin ist das Werk keinem Geringeren als Gott selbst gewidmet. Die Szene offenbarte die enormen Schwierigkeiten, vor welche die durchweg undramatische Musik die Regie stellt. Zum phantastisch präzise und auswendig aufspielenden Solistenquintett von Tenor (Hubert Mayer), Trompete (Marco Blaauw), Flöte (Chloé L’Abbé), Bassetthorn (Fie Schouten) und Synthesizer (Benjamin Kobler) sah man durch 3-D-Brillen Videoprojektionen all derjenigen Kreaturen aus Astronomie, Geologie, Flora und Fauna, die hier besungen werden. So wurde optisch nur verdoppelt, was ohnehin zu hören und im Textbuch zu lesen war, statt durch eine eigenständige Bildsprache die Aufmerksamkeit neu auf die Musik zurück zu lenken. Die Regie folgte sklavisch dem Text, blieb redundant und mutlos. Willkommene mediale Wechsel boten kurze Momente, in denen die Filmleinwand beiseite geschoben wurde, so dass im Wasser ekstatisch sich gebärdende Gruppen sichtbar wurden. Doch reichte dies nicht aus, um aus dem Stummfilmkino mit Live-Musik lebendiges Musiktheater zu machen.

Die zweite Schwierigkeit des „Sonntag“ besteht darin, dass Stockhausen – wie in den anderen „Licht“-Opern – alle Szenen so konzipiert hat, dass sie auch einzeln aufführbar sind. Bei der Gesamtaufführung machte dies den Eindruck einer bloßen Reihung ohne erkennbaren Zusammenhang, als hätten die Szenen ebenso gut in völlig anderer Reihenfolge erfolgen können. Das Gesamtgeschehen wirkte richtungslos in sich selbst verharrend, wie ein fest in sich ruhender Glauben. Zwar gibt es erkennbare Wechsel von instrumentalen und vokalen Partien. Auch hinsichtlich Instrumentation und Polyphonie verdichten sich die Szenen von der ersten bis zur letzten. Doch was diese Teile wirklich verbindet, sind nicht Handlung und Szene, sondern nur die allen zugrunde liegende „Superformel“. Diese ist in ihren Bestandteilen zwar allgegenwärtig, doch lassen sich ihre Auswirkungen auf Musik und Bühnengeschehen kaum nachvollziehen. Die komplexe kom­positorische Ausformung dieser Urzelle lässt sich einerseits nur durch Regie fasslich machen. Andererseits bleibt in dieser eigenwilligen Konzeption von Musiktheater alles Außermusikalische nur ein entbehrliches Anhängsel des Formelkomponierens. Hierin liegt ein zentraler Widerspruch des Konzepts und der entscheidende dritte Grund für die szenischen Probleme dieses Opernschaffens.

Wie antike Philosophen sah Stockhausen in der Zeitkunst Musik ein Abbild von Gottes herrlicher Schöpfung mit all den Kreisbahnen der Himmelskörper und deren Zeitproportionen zueinander. Wie im großen Kosmos hängt auch in seinem „Licht“ alles mit allem zusammen. Die fast neunundzwanzig Stunden Musik werden aus der kaum ein­minütigen Melodie entfaltet, deren drei Stimmen den drei Hauptfiguren des Werks zugeordnet sind: Michael ist Erzengel und christologische Erlösergestalt in einem und primär vom Trompeter verkörpert, dann erst auch von einem Tenor und Tänzer. Ebenso tritt Urmutter Eva in erster Linie als Bassetthorn-Spielerin auf und dann erst als Sopranistin und Tänzerin. Widersacher Luzifer schließlich ist vor allem Posaunist und dann erst Bassist. Im „Sonntag“ kommt er jedoch fast nicht vor. Als Konsequenz davon gibt es letztlich keine „wirklichen“ Bühnenfiguren, die leiden, hassen, lieben. Die eigentlichen Protagonisten sind die musikalischen Strukturen, während Personen und Szenen nur der sichtbaren Verdeutlichung der rein musikalischen Abläufe dienen. Indem das Instrumentale das Vokale dominiert, entsteht an Stelle gesungener Operndramatik letztlich ein symbolistisches Klang-, Gesten- und Gedankenspiel. Text, Handlung, Tanz und Bühnenszene sind lediglich Fortsetzungen der Musik mit anderen Mitteln. Als Musiktheater mit klarer Prädominanz der Musik über das nachrangige Theater ist der „Sonntag“ ein Extremfall unter den „Licht“-Opern. Nirgends sonst werden Erwartungen an herkömmliche Musikdramatik so konsequent enttäuscht und ist die besondere Eigenart dieses Werks weniger mit althergebrachten Kategorien zu messen. Aber gerade das macht seine Aufführung – allen Einwänden zum Trotz – zu einem ganz besonderen Erlebnis.

Wie bei der Produktion von „Michaels Reise um die Erde“, dem zweiten Akt der Oper „Donnerstag“, der als einer der ersten Teile von „Licht“ bereits 1978 entstand und zuletzt 2008 szenisch bei den Wiener Festwochen und halbszenisch in der Kölner Philharmonie zu erleben war, stammte die Inszenierung des „Sonntag“ von der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus um Regisseur Carlus Padrissa. Dem Team war damals im Jahr nach Stockhausens plötzlichem Tod 2007 ein doppeltes Kunststück gelungen. Denn man hatte sich ein Stückchen weit von den rigiden und zuweilen altbacken wirkenden Vorstellungen des Meisters befreit, wie Kostüme, Requisiten und Bühne auszusehen und sich die Musiker zu bewegen hätten. Stattdessen entwickelte Padrissa mit dem Videokünstler Franc Aleu und dem Bühnenbildner Roland Olbeter eigene suggestive Bilder, Farben, Atmosphären und Räume, die dennoch dem teils katholischen, teils anthroposophischen, eklektizistischen Gehalt des Werks gerecht wurden. So wie die Truppe in den achtziger Jahren mit Straßentheater begann und das Publikum ins Geschehen einbezog, arbeitete ihr Regieteam auch jetzt. Obwohl manches zu vorsichtig und unselbständig wirkte, geriet der „Sonntag“ nicht zum steifen zeremoniösen Gottesdienst, wie es Partitur und Textbuch befürchten ließen. Vielmehr bot man aktionsreiches Theater, mit spektakulären Effekten, riesigen Feuerzeichen, großen Wasserbecken, Regenwänden, Nebelschwaden und Visionen von Schwerelosigkeit und vom Fliegen mittels Videos, Beamern, 3-D-Animationen, Dreh-, Hebe- und Schwenk­apparaturen: Mittelalterliches Mysterienspiel im Hightech-Gewand.

Bei aller Technik ging es im Detail aber auch ganz handfest mechanisch zu, wenn von umhereilenden Bühnenarbeitern und Statisten Fahrgestelle von Hand in Bewegung gesetzt oder große Flammenzeichen auf- und abgetragen wurden. Die erste Szene „Lichter-Wasser“ verwandelte den kreisrunden weißen Raum zum Planetarium. An der Decke schwebten Tragflächen und räkelten sich vier quasi nackte Leiber aus Hängematten wie allegorische Figuren der vier Himmelsrichtungen oder zum Zeichen der Menschwerdung inmitten eines noch leblosen, entvölkerten Kosmos. Das Publikum nahm dazu in Liegestühlen Platz, um die auf Deckenteile und Wände projizierten Rotationen der Sonne und der sie umkreisenden Planeten zu betrachten, die hier alle besungen und den sieben Wochentagen zugeordnet werden. Als neuer Trabant und zu Gestein verfestigtes Liebesband von Michael und Eva fand sich auch ein klobig-herzförmiger Asteroid mit dem Schriftzug „Micheva“ in unser Sonnensystem geschmuggelt. Das Regieteam bewies damit einerseits exakte Buch­stabentreue zum Libretto, das mit solchen Namensverschmelzungen spielt. Andererseits schienen die Katalanen mit solch kitschigen Überspitzungen die hehre Kunstwelt Stockhausens unterlaufen und sanft ironisch brechen zu wollen. Spannungsvollen Kontrast zu den anbetungswürdigen Heiligenbildern und Lichtgestalten boten auch die prallen Körper der kraftvoll im Wasser sich wälzenden Tänzer vorwiegend dunkelbrauner und schwarzer Hautfarbe sowie die lemurenhaft fleißigen Bühnenarbeiter. Zugleich dürfte aber auch dieser saftige Kontrapunkt ganz im Sinne der intendierten feiertäglichen Vereinigung von Geist und Materie gewesen sein. So war sich Kathinka Pasveer im Vorfeld der Premiere sicher, dass die Inszenierung Stockhausen gefallen hätte: „Die Gruppe arbeitet sehr experimentell, zum Teil auch chaotisch. Aber sie haben großen Respekt vor der Partitur. Sie wollen auf keinen Fall etwas gegen die Musik inszenieren, sondern die Visionen von Stockhausen realisieren, aber total futuristisch, sehr eigen und auf ganz verrückte Art. Sie wollen ein großes Ritual inszenieren. Und ich glaube, Stockhausen wäre dar­über sehr glücklich gewesen.“ Schon 2008 hatte Peter Rundel bei der Produktion von „Michaels Reise“ das Ensemble musikFabrik dirigiert. Jetzt erinnerte er daran, dass die Theatergruppe schon damals wild entschlossen gewesen sei, nach und nach alle „Licht“-Opern szenisch her­auszubringen: „Schon bei ,Michaels Reise‘ war den Akteuren klar, dass das der Startschuss für die Inszenierung einer ganzen Stockhausen-Oper ist. Carlus Padrissa hat schon damals gesagt: ,Wenn ich das mache, dann möchte ich irgendwann den ganzen Zyklus machen.‘ Und da fangen wir jetzt Mal beim ,Sonntag‘ an und sehen und hoffen, dass es Veranstalter gibt, die diese Idee dann weiter unterstützen.“ Für die Produktion einer weiteren Stockhausen-Oper und insbesondere für den „Mittwoch“, dessen szenische Gesamtaufführung als letztes noch aussteht, hat sich indes bis jetzt noch kein Veranstalter gefunden.

Jedem Tag seines Zyklus hat Stockhausen entweder eine der drei Hauptfiguren oder eine von deren vier möglichen Paarungen bis hin zur Kombination aller zugeordnet. Zudem verband er alle Tage gemäß verschiedenen mythologischen und religiösen Überlieferungen mit bestimmten Planeten, Düften, Stoffen, Farben und Sinneswahrnehmungen. Dabei bediente er sich vor allem Motiven aus dem von einer adventistischen Splittergruppe aus den USA herausgegebenen „Buch Urantia“. Diese angeblich von höheren Geisteswesen offenbarte Kosmogonie beschreibt ein ebenso bürokratisches wie streng hierarchisch und obrigkeitshörig verwaltetes Universum, das sich in Stockhausens Schaffen seit Mitte der siebziger Jahre als Zug ins Esoterisch-Sektiererische auswirkte. Als Tag der Sonne und des Lichts ist der „Sonntag“ der utopische Zielpunkt seiner Heptalogie. Es ist der weiße, goldene Tag der Vollkommenheit, des Gotteslobs und der mystischen Vereinigung aller Gegensätze. Im „Sonntag“ sind all die Spannungen und Konflikte aufgelöst, die sonst den Zyklus durchziehen: Leben und Tod, Liebe und Hass, Gut und Böse, Krieg und Frieden, Himmel und Hölle, Licht und Schatten … Stattdessen herrscht nur noch eitel Frieden, Liebe, Seligkeit, Freude und Harmonie beziehungsweise uralte Licht-, Wasser-, Oster- und Pfingstmystik in neuer Einkleidung. Die Musik dazu ist hymnisch, konsonant, teils flächig, teils sehr polyphon. Bei aller Vielstimmigkeit und Differenzierung in Tempo und Farbe handelt es sich insgesamt jedoch um eine statische und moderate Musik. Das gefühlte Dauer-Mezzoforte kennt kaum Ausschläge ins Extrem.

Die erste Szene „Lichter-Wasser“ spielten die Instrumentalisten weit im Saal verteilt fast durchweg nur im Wechsel nacheinander. Vor dezentem elektronischem Klangteppich entstand so eine von Punkt zu Punkt durch den Raum zuckende Melodie, die sich aus den zwei Stimmen der beiden Hauptfiguren Eva und Michael zusammensetzt. Nur an wenigen Stellen verdichtet sie sich zum kompletten Orchester mit kraftvollen Blechbläser-Akkorden. Wie die Melodien necken, fassen und umschmeicheln sich auch die beiden Sänger. Sie gurren und turteln mit herzerfrischender Naivität. Zum Schluss legen die liebliche Mondfrau und der Sonnensohn ihre Hände aneinander, um gemeinsam in einem weichen Unisono zu verschmelzen. Anna Palimina und Hubert Mayer sangen – in Raumfahrer-Kluft mit integrierten Kühlschläuchen auf dem Rücken – fabelhaft sicher, lyrisch, hell, fast körperlos, außerirdisch, astral, sternenhaft. Dass auch die musikFabrik in weißen und sichtbar schweißtreibenden Latex-Kosmonautenanzügen auftreten musste, erfüllte einmal mehr die in Bezug auf Stockhausen altbekannten und längst abgegriffenen Astronauten-Klischees.

Die musikalische Idee dieser ersten Szene erschließt sich dem Publikum relativ einfach und spontan. Die ausführenden Musiker stellt sie indes vor extreme Anforderungen. Peter Rundel hält sie für eines der am schwierigsten zu spielenden und zu dirigierenden Stücke überhaupt: „Zwar ist die Musik über weite Strecken nur zweistimmig, doch werden beide Stimmen auf ein im Raum sehr weit verstreutes Orchester verteilt, bei dem die Musiker alle abwechselnd jeder nur einen einzigen Ton spielen. Erschwerend kommt hinzu, dass kaum zwei oder drei Schläge im selben Tempo erfolgen und all die verschiedenen Artikulationen und Farben der Instrumente zu einer Einheit zu bringen sind.“ Zu Stockhausens Lebzeiten gehörte Rundel zwar nicht zum innersten Kreis von dessen Interpreten. Aber noch als Geiger im Ensemble Modern hatte er wochenlang mit Stockhausen intensiv zusammengearbeitet, als dieser mit dem Ensemble sein gesamtes Frühwerk und einige Stücke seiner mittleren Schaffensperiode zu Aufführungen brachte: „Das war eine unglaublich inspirierende Arbeit und sehr beeindruckend. Als ich dann die Dirigentenlaufbahn einschlug, habe ich zweimal ,Carré‘ gemacht. Das hat sich Stockhausen angehört. Dass sich unser Kontakt wegen seines unerwarteten Todes nicht fortgesetzt hat, bedauere ich sehr.“ Gerade an der ersten Szene des „Sonntag“ spürt Rundel auch etwas von Stockhausens enormem Anspruch an Musik als Exerzitium zur Ausbildung eines neuen Menschen. Tatsächlich verlangt sein Gesamtkunstwerk interpretatorische Höchstleistungen: „Es gibt einem sehr zu denken, dass diese Musik vom einzelnen Spieler eine Haltung erfordert, die in einer extremen Weise emanzipiert ist und dem Spieler zugleich eine unglaubliche Bescheidenheit abverlangt, weil er nur als winziges Rädchen im Gesamtgefüge in Solidarität und Kommunikation mit den anderen die allgemeine Idee des Stücks umsetzen muss.“ In eben diesem Verhältnis von den Teilen zum Ganzen spiegelte Stockhausen die kosmische Weltordnung, deren Gegensätze er am feierlichen Sonnen- und Gottestag zu freudig-utopischer Vereinigung bringt.

Der zweiten Szene „Engel-Prozessio­nen“ folgt man wie der Ethnologe einer fremden Zeremonie, deren Sinn und Zweck er nicht begreift. Aus weich schwebenden Sphärenklängen eines um das Auditorium herum postierten Tuttichors (Kölner Opernchor) steigen vir­tuose Solostimmen und sieben weitere Kammerchöre, die in sieben verschiedenen Sprachen (Hindi, Chinesisch, Spanisch, Englisch, Arabisch, Kiswahili, Deutsch) Gott loben und sich nach kryptischen Mustern Wege durch das Publikum bahnen. Gehüllt sind die Sänger in Gewänder mit vergrößerten Strichcodes und gezackten Leuchtstacheln auf dem Rücken. Endlich treten auch mit weiten Schwingen geflügelte Avatare auf Stelzen hervor. Dazu wird Dutzende Male die Textformel „Sonntag aus Licht“ in allen Sprachen gesungen. So wird die Aufführung, die man gerade erlebt, ständig immer wieder neu betitelt. Dazu sind auch auf jedem Fetzen Stoff der Kostüme Name und Werk des Komponisten abgedruckt als handle es sich um Etiketten oder Fanartikel. Das Ganze wirkte wie der plumpe Versuch einer epischen Brechung der Marke Stockhausen durch deren ostentative Ausstellung. Unter der Leitung von James Wood machten die Cappella Amsterdam und der Estonian Philharmonic Chamber Choir den Saal zum spirituellen Sakralraum. Zugleich ging es bei diesem celesten Festakt nicht nur seraphisch ernst zu. Auch Heiterkeit und Clowneskes fanden Platz, wenn launige Gaukler aus dem Psalter der himmlischen Heerscharen ausbrachen, um glucksend, kichernd und lachend die ganze Welt mit Salven schmatzender Küsschen zu bedenken.

Der zweite Abend begann mit der vierten Szene „Düfte-Zeichen“. In einer groß­angelegten Rekapitulation werden hier alle Düfte und Zeichen der sieben Wo­chen­tage sicht- und riechbar gemacht. Während in Schalen Duftessenzen abbrennen, erscheinen die Zeichen von Luzifer, Michael, Eva und ihre Kombina­tionsmöglichkeiten auf den Gesichtern der Sänger sowie als riesige Feuersymbole oder projizierte Leuchtschriften auf wabernden Nebel- und Regenwänden. Das ist eindrucksvolles, exoterisches Effekttheater für alle Sinne. Zugleich ist es hochgradig esoterisches Sektierertum. Denn alle Worte, Symbole und Handlungen verweisen hermetisch nur auf sich selbst, wodurch sie letztlich bedeutungslos werden. Das Libretto besteht überwiegend aus Beschreibungen der Zeichen: „Dienstags-Zeichen Mi-cha-ehell drei blau-haue Kreise mit Kreuz Irisspitzen/ Diens­tags-Zeichen Luzifer roter Kreis schwar­zer Punkt / Luzifers roter Kreis greift in Michaels zweiten Kreis klammert ihn …“ Der Sinn der Zeichen erschließt sich dem Zuschauer ebenso wenig wie die Bedeutungen der Hand-, Arm- und Körpergesten der Solisten, die Stockhausen der Eurythmie Rudolf Steiners entlehnte und die nichts anderes visualisieren als den Tonhöhen- und Dynamikverlauf der Musik. So beziehen sich Musik, Text, Bewegung und Bild jeweils nur aufeinander, ohne irgend etwas anderes als sich selbst zu meinen. Allerdings werden die salbungsvollen Anbetungsworte immer wieder von schnoddrigem Umgangston durchkreuzt: „Leute, heut’ gibt’s was zu schnüffeln“. Am Ende der Szene kommt mit dem Auftritt der Soloaltistin eine völlig neue Farbe und Aura in die Musik. In den Armen der Ur- und Himmelsmutter Eva-Maria liegt der strahlende Held Michael als junger Knabe. Zusammen singen sie ein bezaubernd schönes Duett. Ende und Anfang des großen Welttheaters und Wochenzyklus fallen hier in der Jungengestalt des intergalaktischen Heils­bringers zusammen. Der Kreis hat sich geschlossen – und zugleich für den nächsten Zyklus geöffnet.

Die fünfte Szene „Hoch-Zeiten“ teilt sich ihrerseits in zwei Simultanszenen, die sowohl gleichzeitig als auch zweimal hintereinander gespielt werden. Das Publikum besucht dabei abwechselnd erst die eine und dann die andere Szene. Im ersten Saal spielen fünf Ensembles gleichzeitig in fünf verschiedenen Tempi, koordiniert von fünf Dirigenten, denen per Kopfhörer eine Klickspur mit Stockhausens Stimme das Tempo vorzählt. Parallel dazu singen im zweiten Saal fünf Chorgruppen ebenfalls in je eigenem Tempo in fünf verschiedenen Sprachen. An sieben Stellen gibt es Überblendungen von Musik und Video aus dem einen Saal in den anderen, und umgekehrt. So bewegen sich alle Ensembles eigenständig und doch gleichzeitig als füreinander durchlässige Bausteine eines großen Gan­zen, bei dem wie in einer Kathedrale sämtliche Streben und Pfeiler miteinander verbunden sind. In dieser Poly-Polyphonie gipfelt Stockhausens Utopie einer versöhnten Menschheit. Die von Rundel bestens einstudierten Musiker der musikFabrik spielten, in fünf Farben gekleidet und mit Gummistiefeln auf Stühlen im Wasser sitzend, wie die fünf Kontinente inmitten der Weltmeere. Leider erschöpften sich auch hier die Videos in Selbstbezüglichkeit, da sie nur die ohnehin gera­de spielenden Soloinstrumente als dreidimensional rotierende Animationen zeigen. Treten Violoncello und Bratsche als liebevolles Duo hervor, so zeigt auch das Video computer­animierte Bilder derselben Instrumente. Diese Verdopplung ist nicht nur völlig überflüssig, sondern regel­recht störend, da die Projektionen unnötig die Aufmerksamkeit von den live-theatralisch agierenden Musikern abziehen.

Dagegen wurde der kreisrunde zweite Saal mit der Chorfassung zur Manege für ein buntes Simultantheater. Der WDR-Rundfunkchor stimmte hier nur per Lautsprecher-Wiedergabe einer früheren Einspielung sein wohltönendes Hohelied auf Liebe, Engel, Gottheiten und alle Wunder der Welt an. Dazu agieren Tänzer und Pantomimen (Choreographie Athol Farmer) wie in Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ in fünf Gruppen: Eine folkloristische Schlussrevue mit Liebesliedern in Indisch, Chinesisch, Arabisch, Europäisch und Afrikanisch. Das Publikum ist Teil dieses wilden Zirkustreibens im himmlischen Jerusalem. Es spaziert frei durch das bunte Freudenfest der Völker und Erdteile. Dreht man sich in Europa auf dem Absatz um, landet man staunend im Orient oder in Asien. Das ist eine schöne Manifestation der Vorstellung von der „Einen Welt“ – und zugleich ganz schön naiv.