MusikTexte 131 – November 2011, 77–78

Tönende Stille und Totenstille

Installationen von Christina Kubisch und Jens Brand bei den Donaueschinger Musiktagen

von Rainer Nonnenmann

Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.
Karl Kraus, „pro domo et mundo“ (1912)

Wo in katholischen Kirchen sonst Kruzifixe und Hochaltäre die Chorfluchten, Konchen oder Apsiden beschließen, thront an selber Stelle in der Donau­eschinger protestantischen Christuskirche in vier Meter Höhe die Kanzel, die für jeden Eintretenden sofort architektonisch sinnfällig macht, dass es an diesem Ort darum geht, die Frohe Botschaft des Evangeliums von Gottesdienst zu Gottesdienst jedes Mal erneut Kraft des gesprochenen Worts in Predigten neu zu verkünden und in die Wirklichkeit unseres Hier und Heute zu transportieren. Da die Klangkünstlerin Christina Kubisch in ihren Arbeiten zumeist auf die Funktion, Geschichte und Aura derjenigen Orte reagiert, an denen und für die sie ihre Projekte konzipiert, lag es für sie nahe, im Rahmen der Donaueschinger Musiktage diesen Kirchenraum mit Sprache zu füllen. Für ihre Klangrauminstallation „Silent Exercises“ wählte sie einzig das Wort „Stille“, das sie von Menschen unterschiedlicher Herkunft in zirka siebzig verschiedenen Sprachen sprechen und über einen Lautsprecherring von der umlaufenden Kirchenempore in den ovalen Kirchenraum hinab projizieren ließ.

In je eigener Geschwindigkeit, Häufigkeit und Dynamik wiederholen die Sprecher ihre jeweiligen Worte für Stille, so dass sich die verschiedenen Stimmen und Sprachen zu einer ständig sich wandelnden multilingualen Gesamttextur überlagern, die trotz aller Fokussierung auf primär kommunikationsorientierte Sprache durch die wechselnde Dichte, Rhythmik und Klanglichkeit der Wörter zugleich genuin musikalische Qualitäten entfaltet. Die Musikalität der Laute wird dadurch unterstrichen, dass neben wenigen europäischen Sprachen vor allem hierzulande kaum oder gar nicht bekannte Sprachen begegnen, deren fremdes Silbenmaterial sich nicht verstehen, sondern nur als Klang hören oder allenfalls onomatopoetisch auf „Stille“ beziehen lässt. Manche ruhig gesprochenen Silben erinnern an das konkrete Lautgedicht „Gebet“ von Gerhard Rühm, wo Phantasiesilben in quasi ritueller Folge psalmodierend wie eine Litanei gesprochen werden. Auch sonst passen sich die Stimmen mit einförmig leierndem Tonfall der religiösen Funktion des Orts an, dessen hallige Akustik und weihevolle Ausstrahlung sich umgekehrt den zuweilen wie magische Beschwörungsformeln wiederholten Lautfolgen einschreiben.

Das sprachliche Durcheinander erinnert an eine jüdische Schule, bei der alle die Thora auswendig lernen und eine andere Textstelle vor sich hin murmeln. Indem jeder seine eigene Sprache spricht und doch alle ständig das Gleiche sagen, nämlich „Silence“, fällt die nach alttestamentarischer Überlieferung von Gott als Strafe für die Hybris des Turmbaus zu Babel über die Menschheit verhängte Sprachverwirrung paradoxerweise zusammen mit dem Pfingstwunder der neutestamentarischen Apostelgeschichte, wo unter Ausschüttung des Heiligen Geistes die Jünger aus aller Herren Länder in ihren jeweiligen Zungen sprachen und trotzdem jeder den anderen in seiner ihm eigenen Sprache reden hörte und verstand. Darüber hinaus lieferte Christina Kubisch in Anlehnung an John ­Cages berühmtes stilles Stück „433“ sowie an dessen Buch „Silence“ und die dort abgedruckte „Lecture on Nothing“ eine eindrückliche Demonstration der Abwesenheit eben derjenigen Stille, die ihre Klangrauminstallation ebenso eindringlich wie widersprüchlich in siebzig verschiedenen Sprachen verkündigt.

Eine Fortsetzung findet die Klangin­stallation im Dachstuhl der Kirche. Über winklige Treppen erreicht man dort einen im Vergleich zum hellen und klar gegliederten Innenraum der Kirche völlig anders gearteten Ort, der von Mauerwerk, Trägern und Balken horizontal wie vertikal durchschnitten wird und in seiner Unübersichtlichkeit nicht komplett einsehbar ist. Hier herrschen Dunkelheit und – sofern nicht gerade andere Besucher anwesend sind – tatsächlich „Stille“. Die einzige Lichtquelle im fensterlosen Raum stammt von einem Video, in dem langsam von rechts nach links Sequenzen von Sonogrammen eben derjenigen gesprochenen Worte laufen, die unten in der Kirche zu hören waren. In die verschachtelte Balken-, Dach- und Turmkonstruktion projiziert überformen diese unterschiedlich dichten und starken vertikalen Graustufenlinien den ohnehin fremdartigen Ort zusätzlich mit perspektivischen Verzerrungen und Schattenwürfen. Die zuvor gehörten Sprachen lassen sich in diesem abstrakten Bildmaterial allerdings – wie Kubisch es suggeriert – unmöglich wiedererkennen. Ebensowenig stellt sich der von ihr erhoffte Effekt ein, im Anschluss an das Sehen oben im Dachboden nach der Rückkehr unten in der Kirche bei erneutem Hören die vielstimmige „Stille“ vielleicht anders wahrzunehmen. Abgesehen vom unmittelbar sinnlich fassbaren Gegensatz zwischen Hör- und Sichtbarem liegt die Beziehung beider Räume eher auf einer konzeptionellen Ebene, die sich letztlich nicht wirklich erleben lässt.

Nabel der Welt

Jens Brand plazierte seine Klanginstallation „Kleine Welt Maschine (Donau­eschingen)“ in den Festsaal des Mu­seums Biedermann. Den einzigen Einrichtungsgegenstand in diesem ansonsten leeren Raum – einen von der Decke hängenden riesigen goldenen Kronleuchter – deutete er zum Saphir eines Schallplattenspielers um. In ähnlicher Weise hatte er früher mit seinem „G-Player“ (2004) den gesamten Globus gleichsam als Schallplatte abgespielt, indem er die topographischen Höhendaten der Erde von Satelliten unterschiedlicher Umlaufbahnen in Kratzgeräusche und Amplituden umgesetzt hatte (vergleiche MusikTexte 129, 21). In seiner jüngsten Arbeit versetzte Brand nun den gewichtigen Kandelaber wie ein großes Pendel kontinuierlich in Schwung, um mittels eines davon ausgehenden Laserstrahls darunter langsam rotierende goldene Schallplatten abtasten zu lassen. Dabei liefert der Laser lediglich eine genaue Positionsbestimmung der jeweiligen Orte und Verlaufskurven auf den Scheiben, während die in den Rillen gespeicherten Klänge in Wirklichkeit von einer entsprechenden Sounddatenbank auf einem Computer abgerufen und zeitgleich über einen kleinen, unter der Platte schnell um die eigene Achse kreisenden Lautsprecher hörbar gemacht werden. Obwohl es sich also um ein digitales Wiedergabeverfahren handelt, entsteht infolge des eindrücklichen skulpturalen Aufbaus der Eindruck, als würden die Schallplatten tatsächlich durch den über ihnen schwankenden Lüster wie bei analoger Schallplattenwiedergabe abgespielt beziehungsweise gescratcht. Denn je nach Pendelschlag des Kronleuchters, dessen Verlauf sich ständig graduell oder abrupt durch den Antriebsmotor verändert, fährt der Laserstrahl mal quer zur Richtung der Schallplattenrillen, was die typischen Kratzgeräusche hervorruft, als würde tatsächlich der Saphir eines Plattenspielers unsanft über eine Platte gezogen. Verläuft die Pendelbewegung dagegen einmal eher elliptisch oder kreisförmig, so dass sich der Laser kurzzeitig parallel zu den Schallplattenrillen bewegt, so werden augenblicklich Fragmente der auf den Platten gespeicherten Musik-, Wort- und Geräuschaufnahmen hörbar. Indem Brand das Setting schließlich auf einem kreisrunden großen schwarzen Teppich plazierte, machte er den gesamten Fußboden des Saals gewissermaßen zu einem Plattenteller.

Die von ihm verwendeten drei goldenen Schallplatten wurden während der Musiktage in größeren Abständen gewechselt, um verschiedene Klangresultate hörbar zu machen. Eine Platte ent­hielt einen Song des Country-Sängers Gene Autry aus dem Jahr 1931, den dessen Plattenfirma American Record Cooperation damals wegen des großen Erfolgs auf eine vergoldete Platte presste und damit die seitdem bekannte Trophäe der Schallplattenindustrie begründete. Die zweite Platte enthielt eine Kopie der goldenen Schallplatte „Sounds of the Earth“ mit Vogelgezwitscher, Reden von Staatsmännern, Stücken von Johann Sebastian Bach, Pygmäengesängen und vielem mehr, die seinerzeit der US-amerikanischen Raumsonde Voyager mit auf den Weg durch das All gegeben wurde, um irgendwo da draußen eventuell lebenden intelligenten Wesen Nachrichten von der Menschheit und dem Planeten Erde zu schicken. In die Rillen der dritten Platte ist eine topographische Karte der Erde eingraviert, und zwar so, dass die Rille außen am Schallplattenrand mit der Topographie unserer Antipoden in Neuseeland beginnt, von wo aus die Oberfläche der kompletten Erdkugel scheibchenweise als Spirallinie durchlaufen wird, bis die Linie nach Querung aller Längen- und Breitengrade schließlich in der Mitte der Platte in Deutschland endet, und zwar exakt in Donaueschingen. Brand erweist damit seine besondere Referenz gegenüber dem Ort, an dem er seine Installation realisieren konnte und an dem sich aktuell auch gerade der Besucher befindet. Doch hinter der vordergründigen Wertschätzung für dieses Städtchen und sein Festival, das sich in Sachen neuer Musik für den Nabel der Welt hält, steckt zugleich eine hintergründige Perfidie. Denn während die gesamte übrige Welt zum Klingen kommt, klafft an der Stelle Donaueschingens im Mittelpunkt der Schallplatte nur das Loch, um das sich zwar alles dreht, an dem selbst jedoch nur Totenstille herrscht.