MusikTexte 133 – Mai 2012, 84

Unter anderem Cage

Das Kölner Festival „Acht Brücken“

von Rainer Nonnenmann

Die Philharmonie Essen wollte die Erste sein und feierte John Cages hundertsten Geburtstag am 5. September bereits im November letzten Jahres. Die Konzertreihe musica viva des Bayerischen Rundfunks und das Festival MaerzMusik Berlin schlossen sich an. Im Sommer folgen die RuhrTriennale, das Musikfest Berlin, das Beethovenfest Bonn und weitere Festivals Land auf und ab. Den Gratulantenreigen verlängerte nun auch die zweite Ausgabe des einwöchigen Festivals „Acht Brücken – Musik für Köln“. Unter dem Motto „John Cage – Amerika. Eine Vision“ standen vierzig Werke des Jubilars auf dem Programm, die in Köln teils lange nicht mehr aufgeführt wurden.

Programme, wie sie mit Werken von Samuel Barber, George Gershwin, Leonard Bernstein oder dem Schlagzeugstar Martin Grubinger gestaltet waren, hätten in der Kölner Philharmonie allerdings zu jedem anderen Zeitpunkt stattfinden können. Wenig zum Thema Cage beizutragen hatten darüber hinaus die überpräsenten Minimalisten Philip Glass, Steve Reich und John Adams. Statt Ausblicke auf noch nie Dagewesenes, wie sie das vollmundige Festivalmotto „Eine Vision“ verhieß, gab es zu viel bequeme Rückgriffe auf Altbewährtes. Schließlich krankte das Festival an Programmbrüchen zwischen Philharmonie und anderen Spielstätten.

Gab es am Anfang zu wenig Cage, war es am Ende fast zu viel. Die ersten Konzerte vermittelten den Eindruck, John Cage sei mehr pflichtschuldig mit Alibiwerken ins Philharmonie-Programm gestolpert. Doch im Laufe der Woche und vor allem gegen Ende des zweiten Jahrgangs dieses Nachfolgefestivals der einstigen MusikTriennale Köln konnte man sich vor Cages Musik kaum mehr retten. Zum Abschluss boten ein „Ensembletag“ und „Ein Tag rund um John Cage“ von Mittag bis Mitternacht inflationär viel Musik fast ausschließlich US-amerikanischer Herkunft, darunter auch Werke von Feldman, Lucier und allein dreißig von Cage. Die durchweg ausgezeichneten Interpreten waren das exzellente Klavierduo Grau-Schumacher, das International Contemporary Ensemble aus New York, das Kölner Ensemble musikFabrik, das Ensemble Modern und die Harfenklasse der Kölner Musikhochschule, die Cages „Postcard from Heaven“ ins Museum Ludwig schickte. Das SWR Sinfonieorchester spielte sowohl in Kammer- als auch großer Orchesterbesetzung Cages „Atlas Eclip­ticalis“. Das Klangforum Wien brachte „Ryoanji“ mit zwanzig Instrumenten zu einer Aufführung, bei der die eingeschränkte Verräumlichung der Musiker auch den Umschlag zeitlicher Differenzen in Raumbewegungen verhinderte.

Wenig überzeugen konnte zuvor Markus Hinterhäusers romantisierende Interpretation von Cages sämtlichen „Sonatas and Interludes“, deren kleinen schrägen Schlusschoral er zu einer pathetischen Musik des Verstummens überhöhte. Des Guten zu viel tat auch Martin Grubinger. Sein muskulöser Körpereinsatz ließ wenig Vertrauen in die musikalische Kraft von Cages Frühwerk „Amores“ erkennen. Statt die durchsichtigen Klänge und Rhythmen für sich wirken zu lassen, meinte er sie durch kommentierende Gesten und Grimassieren aufblasen zu müssen.

Faszinierende Hörererlebnisse bereitete dagegen Cages Raum-Klang-Konzert­installation „A Collection of Rocks“ mit dem Projektensemble der Kölner Gesellschaft für Neue Musik im Kunstmuseum Kolumba. Dank Verteilung der Musiker auf die Ausstellungsräume überlagerten sich lange Liegetöne aus nah und fern zu einem farblich-räumlich changierenden Klangband, das sich vom Publikum individuell erwandern ließ. Ähnlich funktionierte James Tenneys „In a large, open space“ in der Lagerstätte für Hochwasserschutzwände Rodenkirchen. Trotz wunderbarer Architektur erwies sich der Raum als wenig geeignet, da er von den Instrumenten gleichmäßig mit Schall gesättigt wurde und damit Umhergehen unnötig machte. Zudem ließ die heterogene Besetzung mehr instrumentale Farbwechsel hören als Timbres wechselnder Obertonspektren.

Die Aufführung von Cages „Europeras“ durch Mitglieder des Opernstudios Köln im Palladium geriet zum langweiligen Ratespiel „Erkennen Sie die Melodie?“ Nach Zufall, aber striktem Zeitplan werden hier Arien und Klavierparaphrasen europäischer Opern collagiert. Mal sing tElsa aus Wagners „Lohengrin“ in Brünhildes Walkürenkostüm, dann verführt Bizets „Carmen“ in grünem Loden mit doppelläufiger Flinte wie aus einer klamottigen „Freischütz“-Inszenierung. Derlei Schabernack war für den Moment lustig, auf Dauer aber so fade, dass selbst wenige Takte Mozart, Wagner, Verdi oder Puccini ungleich stärker wirkten als die gesamte dreistündige Lähmungserscheinung. Agierten in Teil 3 noch bis zu sechs Sänger gleichzeitig mit zwei Pianisten und vier Plattenspielern, so versiegten die als Altenheim für Opernsänger inszenierten Teile 4 und 5 zu letaler Schwundstufe.

Die buddhistisch inspirierte Idee eines zentrumslosen Zirkus, bei dem sich alles allein durch Gleichzeitigkeit oder Abfolge aufeinander bezieht, liegt auch Cages 1979 entstandenem Hörspiel „Roaratorio“ zugrunde. Dieser „Irish Circus on Finnegans Wake“ war nun unter Mitwirkung von vier irischen Musikern zu erleben. Inmitten der plastischen Lautsprecherprojektion von Cages Stimme samt bunter Mixtur aus Natur-, Menschen- und Zivilisationsklängen im Konzertsaal der Musikhochschule gingen Dudelsack, Fiedel, Flöte und Trommel jedoch fast unter.

Erfreulich waren die vielen Uraufführungen junger Komponisten. Das Netzwerk „ON – Neue Musik Köln“ steuerte im WDR einen langen Abend mit Kurzkonzerten junger Interpreten bei, und das Kölner Thürmchen Ensemble präsentierte anlässlich seines zwanzigjährigen Bestehens zehn hintersinnige Miniaturen für Ensemble und Video. Heraus ragte da­bei das Spiel von Sein und Schein des Stuttgarter Filmers Jürgen Palmer, der einen als Frau maskierten Schauspieler beim Abschminken im doppelten Wortsinne aus der Rolle fallen ließ. Umgekehrt hüllte dazu die Kölner Komponistin Brigitta Muntendorf ihre Musik stellenweise ins fremde Gewand einer Bach-Arie.

Insgesamt fehlte es jedoch an programmatischem Profil, Alleinstellungsmerkmalen und überregionaler Resonanz. Köln ist seit sechzig Jahren in der Welt ein Zentrum der neuen Musik, mit namhafter Tradition und wichtigen aktuellen Akteuren wie WDR, DLF, Kölner Philharmonie, musikFabrik und Freier Musikszene. Doch bringt man kein Festival zustande, das die nationale oder gar internationale Aufmerksamkeit in einer Weise auf sich und die Stadt lenkt, die die neue Musik hier verdient. Immerhin bestätigte der gute Besuch auch ambitionierter Programme an kleineren Spielstätten, woran über die Spielzeit verteilte Einzelkonzerte zuweilen zweifeln lassen: In Köln gibt es ein breites, interessiertes Publikum für neue Musik, das sich durch die Festival-Bündelung von Akteuren und Orten gern mobilisieren lässt.