MusikTexte 133 – Mai 2012, 87–88

Sensibel und drastisch

Neue Klavier-, Orchester- und Vokalwerke beim Festival Eclat

von Rainer Nonnenmann

Seit Jahren unternimmt das Festival „Eclat – Neue Musik Stuttgart“ unter der künstlerischen Leitung von Hans-Peter Jahn immer wieder Versuche, mit Besetzungs-, Stil- und Spartenwechseln die Sensorien des Publikums neu zu justieren und die Aufmerksamkeit so zu erneuern, dass sich die verschiedenen Werke und künstlerischen Ansätze wechselseitig in ihrer Eigenart beleuchten. Zentraler Bezugs- und Kontrastpunkt des viertägigen Uraufführungsfestivals war diesmal das Klavier als Solo-, Ensemble- und Orchesterinstrument mit und ohne Elektronik. Im Eröffnungskonzert erklangen Klavierstücke abwechselnd mit groß besetzen Orchesterwerken, im Abschlusskonzert alternierend mit Vokalwerken.

Die insgesamt sechs Solowerke, die im gut besuchten Stuttgarter Theaterhaus zu erleben waren, zeigten ein breites Spek­trum unterschiedlicher kompositorischer und pianistischer Zugriffe. Madeleine Rugglis „réfractions“ ließen zwischen zarten, teils impulsiven Arpeggien leuch­tende Farbakkorde in bester Messiaen-Manier aufblühen. In „dead wire“ von Iris ter Schiphorst bespielte der überdies lauthals schreiende Pianist (Christoph Grund) neben dem Flügel auch ein Keyboard, das elektronische Klänge steuerte und den Hörer auf eine bizarre Geisterbahnfahrt schickte. Sven-Ingo Koch verlieh dem arabesken Rankenwerk seines „Quel portone dimenticato“ durch Präparation einen dezent perkussiven Kontrapunkt, und die koreanische Wahl-Berlinerin So Jeong Ahn wählte für „LOL“ knallende Zuspielungen und ebenso schlagende Klavierbehandlung (Yukiko Sugawara) mit hämmernden Bassanschlägen, zuckenden Gesten und rasenden Läufen bis zur finalen Traktur des Saitenchors mit trommelnden Fäusten. Auf reine Pianistik setzte dagegen Altmeister Harrison Birtwistle. Seine „Gigue Machine“ beschleunigt binnen Sekunden von Null auf Hundert, indem sie versprengte Einzeltöne rasch zum typischen Sechsachtel- Duktus einer Gigue verdichtet. Durch rasende Fließband-Polyphonie aus der Manufaktur des sensationellen Nicolas Hodges wird das barocke Tanzidiom jedoch sofort mit einer Fülle an Störungen überlagert, so dass es fortan nur noch in kurzen Deformationsvarianten aufblitzt, während sich der Rest in hypervirtuosen Texturen verliert, wie sie typisch für die Musik des bald achtzigjährigen englischen Sir sind.

Besonders ambitioniert zeigte sich „Branenwelten 6“ von Robert HP Platz. Dieser wollte mit seinem Stück nichts weniger als ein neues Kapitel in der langen Geschichte des Klaviers aufschlagen und am besten auch gleich einen neuen „Industriestandard“ des Klavierbaus setzen. Statt Klavierklänge über Lautsprecher zu verstärken oder mit elektronischen Klängen zu umgeben, wollte er die elektronische Klangtransformation dem Instrument selbst implantieren. Mit Hilfe des Toningenieurs Robin Meier am Pariser Ircam entwickelte er einen Midi-Flügel, bei dem live gespielte sowie digital aufgezeichnete und manipulierte Klänge in Echtzeit oder zeitversetzt über den Resonanzboden des Instruments abgespielt wer­den, der also gleichsam wie die schwingende Membran eines Lautsprechers behandelt wird. Tatsächlich bewirkte diese bauliche Einheit eine erstaunliche räumlich-klangliche Identität von live-gespieltem Klavierklang und elektronischem Zuspiel. Bemerkenswert war auch, wie zwischen ansonsten klischeehaften Arpeggien und brillierenden Kaskaden immer wieder einzelne Töne und Akkorde auf Fermaten liegen blieben, die nicht – wie sonst beim Klavier unweigerlich der Fall – diminuierten, sondern infolge des elek­tronisch in Schwingung gehaltenen Resonanzbodens unvermutet andauerten und sich zu komplexen Obertonspektren auffächerten. Ansonsten aber ließ Platz den Klavierklang unangetastet. Wie bei Pierre Boulez wirkte die Elektronik in erster Linie verstärkend und filternd, ohne eigenständige kontrastierende Farben, Rhythmen, Dynamik- und Formverläufe auszubilden. Dass sie kaum ansatzweise etwas von den nahezu unbegrenzten Manipulationsmöglichkeiten aus­spielte, dürfte mit der konzeptionellen Limitierung zusammenhängen, elektronische Klänge ausschließlich über den Resonanzboden des Klaviers hörbar zu machen, dessen spezifische akustische Eigenschaften den Klängen zwangsläufig die charakteristische Farbe des Klaviers aufmodulieren. Damit stellt sich prinzipiell die Frage nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck dieser neuen Technologie. Denn warum sollte man aufwendige Elektronik ins Klavier schicken, wenn daraus dann doch nur wieder Klavierklänge hervorkommen, wie sie auch konventionelle Flageolett- und Resonanzeffekte auf dem Klavier bewirken?

Mediale und stilistische Wechsel inmitten des Pianoramas boten Aufführungen des Radio-Sinfonieorchesters unter Leitung von Matthias Pintscher und des SWR Vokalensembles Stuttgart unter Leitung von Marcus Creed. Stefan Polith wählte für sein Orchesterwerk „Taroq“ eine sechsteltönige Stimmung, welche die Intonation ebenso auseinanderfallen ließ wie die ohne Rücksicht aufeinander vor sich hin spielenden Instrumentalgruppen. Weit gespannte Choralsätze der Hörner überlagerten sich mit plötzlich aufquiekender Es-Klarinette, dröhnender Tuba, wildem Getrommel und flirrenden Streichern zu Spaltklängen und Heterophonien, um erst ganz am Schluss ihre individuelle Freiheit zugunsten eines final stampfenden Gleichschritts aller aufzugeben. Poliths Lehrer Sandeep Bhagwati sorgte sich in „Limits & Renewals“ um die Rettung der Welt vor der haltlosen Gier der Menschen. Wie Brandmeister Feuer mit Feuer versuchte er die Verschwendung der natürlichen Ressourcen mit ebensolcher Verschwendung zu bekämpfen. Tatsächlich war sein Einsatz eines Riesenorchesters mit durchweg vierfachen Bläsern auch nur durch dieses außermusikalische Anliegen zu rechtfertigen, nicht aber durch die kompositorische Dürftigkeit der fast einstündigen Prätention. Nach katastrophischer Zusammenballung folgte unvermutet ein gregorianischer Choral. Das längst Vergangene – „Kehret um!“ – sollte hier als prophetischer Fluchtpunkt eines besseren Lebens in Einfachheit und Einklang mit der Natur herhalten. An Naivität mangelte es auch nicht Magnus Lindbergs „Souvenir“ für zwanzig Instrumente. Hans-Peter Jahn hatte diese – für die New Yorker Philharmoniker komponierte und von diesen 2010 uraufgeführte – klangschöne Walt-Disney-Diatonik nachgerade mutwillig als brennenden Pfahl ins atonal ausgenüchterte Fleisch der neuen Musik gerammt, um die sonst auf Avantgardefestivals schnell aus den Ohren verlorene Relation zwischen der beschwerlichen Suche nach Neuem und der allzu leichten Verführung durch altbewährte Gefälligkeiten wieder schockhaft bewusst zu machen. Das dreisätzige Stück ist ein kunstfertig geführter Diebesgriff in die alte Effekt- und Affektkiste Hollywoodscher Filmmusiken, deren falsche Welt hier noch in vollkommener Ordnung scheint: Geigen säuseln, Celli seufzen, Flöten perlen, Klarinetten trillern, Fagotte singen, und Blechbläser trumpfen am Ende siegreich auf.

Neben den beiden Klangkörpern des SWR Stuttgart bildeten die Neuen Vocalsolisten Stuttgart als weitere heimische Interpreten einmal mehr die dritte tragende Säule des Festivals. Neben einem ausschließlich ihnen vorbehaltenen Konzert traten die sieben Sänger auch bei Bhagwati als psalmodierende Klosterbrüder sowie solistisch in zwei Monodramen auf. Hans-Jürgen Gerungs surrealistisch-übersteigertes „Non fare il minimo rumore“ für Countertenor und Streichquartett – mit Ähnlichkeiten zu Schönbergs „Pierrot lunaire“ – sang der kapriziöse Daniel Gloger trotz Intonationsproblemen fesselnd. Und in Chaya Czernowins „Algae“ verkörperte Bassist Andreas Fischer mit eher gesprochenen denn gesungenen deutsch-englischen Wortfetzen die kaum verständliche Geschichte eines Manns, der seine Familie verlässt und ins Wasser geht, wozu Pianist Ian Pace mit zupackend schnellen Akkordrepetitionen den größten Saal des Stuttgarter Theaterhauses bis zum Bersten mit aufbrausenden Klangwellen flutete. Ganz in ihrem Element waren die Sänger bei den eigens für sie geschriebenen latent oder offen theatralischen Werken. Altmeister Friedrich Cerha ließ in zwei Szenen „Wohlstandskonversation“ und „Hinrichtung“ weiche Kantilenen so lange selbstgenügsam kreisen, bis der Countertenor die dis­tinguierte Wohlstandsmusik mit kapaunenhaftem Anarchismus an die Wand sang, um dafür von den aufgebrachten Kollegen mit wilden Phantasie-Sprachlauten beschimpft und endlich zum Heulen gebracht zu werden.

Situativ angelegt – wie die meisten der für die Neuen Vocalsolisten komponierten Werke – waren auch Luca Francesconis zu lange, weil redundante Variationen über Heiner Müllers „Herzstück“. Nach dem Vorbild von „A Ronne“ seines Lehrers Luciano Berio ließ Francesconi die wenigen Textbausteine des kurzen Dialogs mehrmals in verschiedenen Intonatio­nen artikulieren, so dass mit den Sprachklängen auch die inhaltlichen Aussagen changierten. Auch Gordon Kampes „Falsche Lieder“ setzten auf charakterisierende Vortragsanweisungen – „stammtischig“, „leicht beknackt“, „almdudlerhaft“, „sakral“ oder „beinahe preußisch“ –, deren ironisierende Qualität sich mangels Verständlichkeit der vertonten Patente und Berichte über gescheiterte Luftfahrtunternehmungen jedoch nur ansatzweise erschloss. Für das Ensemblewerk „Gassenhauermaschinensuite“ erhielt Kampe den Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart 2011, zusammen mit Clara Maïda, die für ihr Ensemblewerk „She(l)-ter – seither …“ ausgezeichnet wurde. Vom spielerisch-surrealistischen Neomadrigalismus der Vokalwerke unterschied sich Christoph Ogiermanns „inner empire“. Das Stück verwendet ausschließlich vorsprachliches und vorgesangliches Geräuschmaterial, das jenem brodelnden „inneren Reich“ an Körper- und Seelenregungen zu entstammen scheint, die es zivilisierten Umgangsformen gemäß sonst tunlichst zu unterdrücken gilt, aber sich in diesem humanoiden Bestiariums als animalische Körpersprache Bahn brechen. Mit Schnüffeln, Hecheln, Jaulen, Bellen kommen die Sänger förmlich auf den Hund. Wie bei Dieter Schnebels „Rausdrucksmusik“ haben die Vokalakrobaten bei der Lautproduktion verschiedene Hemmungen zu überwinden, zusammengebissene Zähne, scheinbar gelähmte Zungen oder in den Mund zu mampfendes Papier als hör- und sichtbare Knebelung. Die damit verbundenen physischen Anstrengungen vermitteln sich dabei zugleich als psychische Zustände von Angst, Aggression, Qual oder Lust.

Das SWR Vokalensemble war mit drei Uraufführungen vertreten. Tomoko Fukui ließ das Ensemble auf einem imaginären Gang „To the forest“ mit Füßen marschartig trampeln, was sich in perkussiven Aktionen des trio accanto fortsetzte, in seiner Simplizität aber an einfallslose „Mach mit!“-Schülerprojekte zur Vermittlung neuer Musik erinnerte. Mark Andre widmete sein Memento mori „hij 2“ – der Titel steht für „Hilfe Jesu“ – erneut der für sein Schaffen zen­tralen Auferstehungsthematik. Diese setzt er in musikalische Übergänge um, zwischen Ton und Geräusch, Liveklängen und elektronischen Transformationen, so dass sich die Singstimmen zuweilen von den Körpern der Sänger lösen und schwerelos durch den Raum wie vom Diesseits ins Jenseits schweben. Das erinnerte stark an die späten Chorwerke von Luigi Nono, deren Live-Elek­tronik damals ebenso wie heute vom Experimentalstudio des SWR Freiburg stammte. Beteiligt war das SWR Vokalensemble auch bei Fabian Chyles Choreographie „Platzregen“, wenn auch nur per Lautsprecherzuspielung der zuvor aufgenommenen Chormusik „Unbemalte Bilder“ von Alvaro Carlevaro. Hans-Peter Jahn hatte sich für dieses Experiment eine strikt getrennte Produktion von Musik und Tanz überlegt. Beide medialen Ebenen waren lediglich verbunden durch Peter Handkes abstraktes Kompendium an Regieanweisungen „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ sowie eine daraus stammende Liste an Adjektiven und ein gemeinsames Zeitraster. Ansonsten sollte das Publikum beide Ebenen frei assoziativ verknüpfen. Die sieben ausgezeichneten Tänzer bewegten sich durch den Raum als trudelnde Solitäre mit je eigenen Mustern, spastisch zuckend, fallend, taumelnd, alle getrieben von Krampf, Lösung, Anziehung, Abstoßung, Begierde.

Mehrere Bilder legten es gewaltsam auf Tabubrüche an. Bei einer Vergewaltigungsszene rief die Frau so lange „mehr, mehr!“, bis der Mann schließlich ihr „Stopp!“ nicht mehr hörte. Ähnlich problematisch gerieten verzweifelte Fickversuche und fortwährende Penetrationen lebloser Plastiksäcke sowie die finale Vergasung der ganzen, offenbar perversen Mischpoke durch eine Gift versprühende Gestalt im Schutzanzug wie von einem apokalyptischen Entkontaminationskommando. In Kombination mit der drastischen Leiblichkeit auf der Bühne bildete Carlevaros Musik entweder klare Kongruenzen oder Divergenzen, ohne feinere Zwischentöne zuzulassen, bestand sie doch vor allem aus Kontrasten von geräuschhaften Aktionen und reinem Gesang. Wie oft im Tanztheater litt auch dieses Projekt unter der Dominanz des Auges über das Ohr. Während dem Bühnengeschehen die meiste Zeit über die Musik entbehrlich war, erhielten die Chorklänge – zur Verwandlungsmusik degradiert – erst während langwierigen Abladens von Plastiksäcken mit Komposterde – vieldeutiges Bild für Schlachtfeld, Friedhof und fruchtbaren Mutterschoß – die Aufmerksamkeit, die ihnen das hyperaktive Körper- und Schreitheater sonst raubte. Wie wird wohl die Begegnung von Musik und Sprache, Sicht- und Hörbarem in Markus Hechtles Parabel „Minotaurus“ nach Friedrich Dürrenmatt beim Eclat-Festival 2013 verlaufen, der dreißigsten und letzten Ausgabe des Festivals, die Jahn als scheidender Redakteur für neue Musik des SWR Stuttgart verantworten wird?