MusikTexte 133 – Mai 2012, 82–83

König Midas archipelagus

Die Europäischen Kulturtage Karlsruhe und Wolfgang Rihm

von Rainer Nonnenmann

Normalerweise ist in der fächerförmig angelegten ehemaligen Residenzstadt alles auf das barocke Schloss der Großherzöge von Baden zentriert. Doch ab dem 13. März drehte sich in Karlsruhe drei Wochen lang alles um den Fixstern Wolfgang Rihm. Der Komponist wurde auf den Tag vor sechzig Jahren in Karlsruhe geboren, wo er heute noch lebt und seit 1985 Komposition an der Musikhochschule lehrt. Aus Anlass seines sechzig­sten Geburtstags wurde er nun in einem Maße von seiner Heimatstadt gefeiert, wie es kaum je einem zeitgenössischen Komponisten zuteil geworden ist.

Die alle zwei Jahre ermöglichten Europäischen Kulturtage Karlsruhe sind sonst ein Mehrspartenfestival vor allem mit Theatervorstellungen und länder- oder städtebezogenen Themensetzungen. Dies­mal standen sie jedoch ganz im Zeichen von Wolfgang Rihm. Unter dem Motto „Musik baut Europa – Wolfgang Rihm“ wurde sein Œuvre vielfach beleuchtet, in Ausstellungen, Filmen, Gesprächsrunden und einem musikwissenschaftlichen Symposion „Zur Interpretation der Musik Wolfgang Rihms“. Hinzu kamen Lesungen, Workshops, Vermittlungsprojekte für Schüler, und natürlich sagenhaft viele Konzerte. Allein von Rihm gelangten vierundfünfzig Werke zur Aufführung, was angesichts seines riesenhaften Gesamtschaffens von inzwischen fast fünfhundert Titeln indes auch nur einen kleinen Bruchteil ausmachte.

Zur Eröffnung spielte das Percussion Ensemble des Karlsruher Schlagzeuglehrers Isao Nakamura „Tutuguri VI“ für sechs Schlagzeuger. Die furiosen Trommel-, Bongo- und Becken-Detonationen dieses 1981 entstandenen Rituals hätten nicht besser plaziert sein können als in einem der insgesamt zehn Lichthöfe der riesigen ehemaligen Munitions- und Sprengstofffabrik der Firma Dynamit-Nobel, die heute neben zwei städtischen Museen zwei international profilierte Einrichtungen beherbergt: das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) und die maßgeblich an der Durchführung des Festivals und als Spielstätte beteiligte Hochschule für Gestaltung.

Teil der Karlsruher Generalmobilmachung in Sachen Rihm waren auch Staatstheater, Konzerthaus, Hochschule für Musik und Kunstverein sowie Theater, Museen, Kulturzentren, Schlösser, Kirchen und Schulen. Die Ausstellung „Zeitgegenstände – Wolfgang Rihm“ in der Städtischen Galerie präsentierte hundertvierzig Gemälde von neun Malern, mit denen Rihm teils persönlich befreundet ist, deren Werke ihn beeindrucken, die er teils selbst besitzt und die ihn wie im Fall von Kurt Kocherscheidt zu eigener Musik anregten. Indes scheiterte die von Kuratorin Brigitte Baumstark intendierte Erhellung der Wechselwirkung von Kunst und Musik schon allein daran, dass zwar viele schöne Bilder von Baselitz, Kirkeby, Lüpertz, Arnulf Rainer, Artur Stoll und Adolf Wölfli gezeigt wurden, jedoch von Rihm selbst nichts zu sehen und zu hören war, weder Partituren noch Skizzen, Photos oder Klangbeispiele, die vielleicht eine Ahnung davon hätten vermitteln können, was Rihm meinte, als er von der Art und Weise seines Sehens dieser Kunstwerke sprach, „das sich nicht in die Fläche ausdehnt, sondern in die Zeitlichkeit und damit in die Musik“. Stattdessen zeigte die Badische Landesbibliothek Manuskripte von ihm in einer ganz anderen Ausstellung „Chiffren – Rihm im Kontext des musikalischen Schriftbilds Europas“.

Indem die Stadt an allen Ecken und Enden ihren großen Sohn plakatierte und feierte, feierte sie auch gehörig sich selbst, und das durchaus auch zu Recht. Denn die seit langem bewährte Kooperation zwischen den Institutionen ermöglichte eine Fülle an Veranstaltungen, die vom Publikum zumindest am Eröffnungswochenende begeistert aufgenommen wurden. Seit Jahren investieren Stadt und Land Baden-Württemberg in Karlsruhe massiv in Kunst und Kultur. Neubauten sind für die Karlsruher Hochschule für Musik mit neuen Konzertsälen geplant, die dereinst den Namen „Wolfgang Rihm-Forum“ tragen sollen. Dennoch ging es den Veranstaltern nicht ausschließlich um Rihm, wie Susanne Asche erläuterte, Leiterin des Festivals und des Kulturamts der Stadt Karlsruhe: „Das Werk von Wolfgang Rihm wird überall in Europa gespielt, und seine Musik baut Europa. Wir haben auch Wegbegleiter und Schüler von Wolfgang Rihm hier, die kommen aus ganz Europa. Deswegen wollen wir sagen, Musik baut Europa von Karlsruhe aus, Kunst und Kultur bauen Europa, gerade auch als Kontrapunkt zu dem, wie bisher Europa gebaut wird.“

Rihm selbst verstand das zu seinen Ehren veranstaltete Festival weniger als Mittel kommunaler Imagepflege. Er sah im Festivalmotto vor allem die Möglichkeit, sowohl das Regionaltypische als auch das Grenzüberschreitende von Kultur zu thematisieren, was er als vielseitig an Literatur, Malerei, Geschichte und der Musik anderer interessierter badischer Weltbürger selbst zu verkörpern scheint: „Es soll nicht so eine Art Europe-come-together-World-Music-et-cetera-pp kreiert werden. Man versucht, Europa als Kulturraum zu verstehen, und zugleich Erziehungsräume aufzuzeigen, in denen man aufwächst, die kulturell geprägt sind und die ihre natürliche Umgrenzung haben. Und da ich eben in diesem südwestdeutschen Raum sehr präsent bin, verbindet sich in meiner Arbeit das Französische, das Südwestdeutsche, das Rheinische bis hoch nach Holland und das Schweizerische.“ Zugleich sprach Rihm beim Roundtable der SWR2-Kulturnacht von einer durch die Stadt geschaffenen „ungeheuren Blase“, die ihn jetzt drei Wochen lang mit seiner eigenen Musik einhülle und aus der er anschließend auch mit aufrechtem Gang wieder hinausmüsse. Bei aller Freude über die Überfülle an Ehrungen und Konzerten beschlich offenbar auch den Meister selbst ein leichtes Unwohlsein angesichts all der Vereinnahmungen, Umarmungen, Lobeshymnen und Panegyrik.

Zur Eröffnung der Rihmania wurden er und das mit großer Festgesellschaft überfüllte Auditorium geschlagene eineinhalb Stunden lang mit opulenten Festreden bedacht: von Landesminister Peter Friedrich und Oberbürgermeister Heinz Fenrich, der die Gelegenheit nutzte, Karlsruhe das „Format zur Kulturmetropole“ zu bescheinigen. Nike Wagner bezeichnete die Stadt mit dreihunderttausend Einwohnern in ihrer Laudatio gar als „das Weimar unserer Tage“ mit Rihm als Wiedergänger des universal gelehrten Geheimrats Goethe. Erhellender geriet ihr Vergleich des sich alles anverwandelnden Komponisten mit König Midas, da alles, was Rihm anfasse, letztlich zu Rihm werde. Peter Sloterdijk schließlich pries die „naturkönigliche Erscheinung“ des mächtigen Komponisten mit lockenumkränztem Riesenschädel sowie dessen – zuletzt durch die Verleihung des „Großen Bundesverdienstkreuzes“ 2011 schwer geprüfte – „Lobfestigkeit“ und „Frühvollendung“, die der Komponist durch sein Bemühen um Nichtvollendung indes bisher glücklich abzuwenden verstanden habe. Zudem beschrieb der Philosoph und Rektor der Karlsruher Hochschule für Gestaltung seinen langjährigen Freund wegen dessen reich verzweigten Schaffens als „archipelagischen Menschen der vielen hundert und tausend Inseln“. Wie richtig er mit seiner Charakterisierung lag, erst im Auftritt vor Publikum gelange Rihm auf den „Höhepunkt seiner gebenden und schenkenden Tugend“, bestätigte der Gefeierte anschließend bei mehreren, sehr persönlichen Dankesreden. Das eine Mal gedachte Rihm vor versammelter Politik- und Kulturprominenz drei längst verstorbener Karlsruher Persönlichkeiten – dem Schriftsteller Adolf Grohlmann, dem Komponisten Eugen Werner Velte und dem Kunsthistoriker und Gründer des ZKM Heinrich Klotz –, die ihn als jungen Menschen am nachdrücklichsten geprägt hätten. Das andere Mal bekannte er sich leidenschaftlich zum SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg „das ist mein Orchester, hier wurde ich als Komponist geboren“, nachdem dieses unter der Leitung von Lothar Zagrosek mit sagenhafter Intensität das eruptive Frühwerk „Magma“ des gerade Einundzwanzigjährigen und seinen „Dritten Doppelgesang“ von 2004 aufgeführt hatte. Zugleich verband Rihm diesen Dank mit einem entrüsteten Protest gegen die aktuellen Spar- und Fusionspläne des Senders in Anwesenheit des eben dafür mit verantwortlichen SWR-Hörfunkdirektors Bernhard Hermann, der keine zwei Meter entfernt in den ersten Reihen des Publikums saß. Rihm traf mit seinen Worten, und bewies damit einmal mehr eben jene Größe, die ihm zuvor so huldreich angedichtet worden war.

Weitere Orchesterwerke von Brahms und Sibelius, die sich der Jubilar als Nachbarn gewünscht hatte, boten dem Publikum hörende Kontextualisierungsmöglichkeiten. Doch insgesamt fehlten dem Rihm-Panorama die ästhetischen Gegenpole und Widerparte wie etwa Cage, Lachenmann, Spahlinger, Konzeptkunst oder Elektronik, die besser geeignet gewesen wären, die Eigenart von Rihms überbordendem Schaffen hervortreten zu lassen. Nach drei Wochen dürfte sich für alle Beteiligten ein Gefühl der Übersättigung wie an einem Zuviel an Rihmoulade eingestellt haben. Immerhin lenkte die Popularität des Gefeierten die Aufmerksamkeit auch auf andere und jüngere Komponisten. Ein Konzert der Hochschule für Gestaltung mit dem Titel „Konzertante Plastiken“ bot fünf Uraufführungen von Weggefährten und ehemaligen Schülern. Dass diese „Fünf Geburtstagswerke für Wolfgang Rihm“ durch eben jene Ernst von Siemens Musikstiftung gefördert wurden, zu deren Kuratorium sowohl das Geburtstagskind als auch der mit einem Kompositionsauftrag bedachte Peter Ruzicka gehörten, dürfte nicht nur im Ländle ein „Gschmäckle“ hinterlassen. Neben Stücken von Olga Neuwirth, Rebecca Saunders, Pascal Du­sapin und Ruzicka stach „Kleines Licht“ von Markus Hechtle mit strenger Klarheit und ritueller Kargheit heraus. Stets von Neuem anhebende Arpeggien der Sologeige werden hier von lautstarken Beckenschlägen abgeschnitten, in deren Klangschatten die Violine kleine Melodiebögen mit viel Vibrato aufblühen lässt, zu denen sich – unter den Beckenschlag-Tarnkappen verdeckt eingeschleust – im Raum verteilte Instrumente colla parte gesellen, ohne dass sich genau identifizieren ließe, welcher Musiker von wo aus gerade spielt. Einen wohltuenden Gegenpol zum Rihmschen Übermaß bot anderntags auch „Eufóriák“ von Márton Illés für sechs wahlweise mit Holz- und Metallstäben, Schlägeln und bloßen Fingern bespielte Glockenspiele mit entsprechend verschiedenen Klangresultaten von lautstarkem Sirren bis schattenhaften Fisteltönchen.

Wie sehr sich Rihms Musik für Jugend- und Schulprojekte eignet, war in einer Serie von „Bauhütten“-Präsentationen zu erleben. Unter Bezug auf „Tutuguri“ und Rihms Faszination für den fran­zösischen Regisseur und Theatervisio­när Antonin Artaud und dessen Manifest „Das Theater der Grausamkeit“ boten Real­schüler eine ebenso surrealistische wie mit exzessiver Lust am Anarchischen auf der Bühne ausgelebte Total-Theater-Musik-Tanz-Film-Performance. Dass der äußerlich immer gravitätischer auftretende „Altmeister“ die Jugend derart zu frischer Experimentier- und Spielfreude anregte, spricht für die bleibende Lebendigkeit und Frische seines Geists und Werks.