MusikTexte 135 – November 2012, 87–88

Furie der Verschwendung

Musiktheaterwerke bei der ersten Ruhrtriennale unter Leitung von Heiner Goebbels

von Rainer Nonnenmann

Seinen Einstand als neuer Ruhrtriennale-Intendant hätte Heiner Goebbels nicht üppiger feiern können. Zur Eröffnung des Festivals hatte er mit John Cages „Europeras 1 & 2“ ein Werk gewählt, bei dem profilsüchtige Regisseure ihre Bildphantasien ohne Rücksicht auf die lästige Nebensache Musik frei austoben dürfen. Selten sah man einen schöneren Reigen aus leuchtenden Bühnenbildern und poetischen Kulissen. Eben noch im japani­schen Garten, fand man sich unversehens in Venedig vor dem Dogenpalast wieder. Hier schaukelte ein Schiff durch wogende See, dort thronten die Pyramiden Ägyptens majestätisch im Wüsten­sand. Weiter ging die polyglotte Reise zu tropischem Urwald, brennender Akropolis, barockem Park, prächtigem Opernsaal und gotischer Kathedrale: in neunzig Minuten rund um die Opernwelt.

Zusammen mit dem Bühnenbildner Klaus Grünberg zauberte Goebbels Szenen in Hülle und Fülle, wie sie manches Stadt- und Staatstheater in einer kompletten Spielzeit nicht auf die Bühne bringt. Grundlage des Ganzen sind – wie stets bei Cage seit 1950 – Zufallsoperationen, mit denen der Komponist einzelne Arien und Instrumentalstimmen aus vierundsechzig Opern der europäischen Tradition vom siebzehnten bis neunzehnten Jahrhundert auswählte, um sie mit ebenso zufällig ausgewählten Kostümen, Requisiten, Masken, Kulissen und Lichteinstellungen zu kombinieren. Alle Ereignisebenen und Details sind sekundengenau mit Stoppuhren zu koordinieren, was den Protagonisten und Technikern auf, hinter und über der Bühne eine ungeheure Logistik und Perfektion abverlangt.

Die zehn Gesangssolisten erscheinen nach Zufallsfolge in prächtigen historischen Gewändern der Kostümbildnerin Florence von Gerkan als Walküre, Prinzessin, Papageno, Legionär, Carmen, Madame Butterfly oder mit Flügeln und Tierköpfen, um unabhängig von ihrer jeweiligen Erscheinung ganz andere Arien zu singen und abweichende Rollen zu verkörpern. Wie die Kulissen werden auch sie von der allmächtigen Hand des Zufalls wie Schachfiguren über vierundsechzig Planquadrate auf dem Bühnenboden (entsprechend den vierundsechzig Schafgarbenstengeln des altchinesischen Orakelbuchs „I Ging“) verschoben. Schließlich sind auch Versatzstücke aus Opernführern zu einem dadaistischen Non­senstext collagiert, der in Übertiteln als vermeintlicher Inhalt der handlungslosen Szenen projiziert wird: „Da sie beschlossen haben, dass sie niemanden außerhalb heiraten wird, lässt er sich selbst zum Kaiser krönen. Sie, der gesagt wurde, er sei tot, fleht ihn an, sie anzublicken …“

Auf der Bildebene ist Cages anarchische Zirkus-Ästhetik wunderbar umgesetzt, alle Opernbestandteile autonom zu behandeln und die Gleichzeitigkeit von Verschiedenem wirken zu lassen. Zuweilen entfaltet die strikte Trennung von Aktion und Szene auch grotesken Witz. Etwa wenn ein Sänger in Sitzhaltung geht, während das passende Sofa ganz woanders auf die Bühne getragen wird. Seltsames Eigenleben führen auch Vorhänge, die sich plötzlich vor eben auftretenden Darstellern wieder schließen, oder Scheinwerferkegel, die selbständig über das Tableau wandern. Zudem übernimmt die riesige Jahrhunderthalle Bochum eine eigenständige Partie, durch deren Glasdach sich nach warmem Abendrot eine blaue Ruhrgebiets-Sommernacht über die perspektivisch in die Ferne fliehende Bühne von fast einhundert Meter Länge senkt.

Die Hauptrollen spielen indes die Bühnenarbeiter. Ihr ameisenhafter Fleiß gibt faszinierende Einblicke in das sonst hinter dem Theatervorhang verborgene Wirken. Insgesamt fünfzig Kulissenschieber und Beleuchter sind unentwegt am Auf- und Abbauen der sich abwechselnden und gleichzeitig überlagernden Szenen: Oper ist schön und macht viel Arbeit. Hier wird ein Walfisch hereingeschoben, dort ein großer Kristalllüster installiert, dann eine Lawine riesiger Pappmaschee-Gesteinsbrocken auf die Bühne gerollt. Indem die Maschinisten sichtbar auf der Bühne agieren und das Gemachtsein dieses Feuerwerks an Theatereffekten zeigen, betreibt die Illusionsfabrik zugleich ihre eigene Desillusionierung. Zuweilen sind die Verrichtungen der Bühnenarbeiter regelrecht als Corps de ballet choreographiert (Florian Bilbao). So werden von den Bühnenseiten exakt gleichzeitig lange Säulenreihen hereingeschoben oder Teppiche in fabelhaftem Zickzack entrollt.

Während sich auf der Bildebene Verschiedenes spielend ergänzt, stört es sich in der Musik nur gegenseitig. Eine Arie macht die andere kaputt. Hier und da mögen Opernkenner Bruchstücke bekannter Melodien herausfischen. Doch im bezugslosen Ganzen verkommen auch solche Angelhaken zu traurig-lächerlichen Fremdkörpern. Cages Demontage und Neuordnung der Reservatenkammer der europäischen Operngeschichte zielt auf Gleichwertigkeit aller Elemente. Doch resultiert daraus nur eine betriebsame Nivellierung der Ereignisse und ihrer unterschiedlichen Material- und Wahrnehmungsebenen. Monteverdi, Donizetti, Mozart, Wagner, Verdi und Bizet bis hin zu Bergs „Wozzeck“ versinken allesamt in der trüben Monotonie eines babylonischen Stimmengewirrs. Ohne erkennbare Unterschiede wirkt alles entwertet, beliebig, gleichgültig. Entgegen sonstigen Additionsgesetzen ist hier das Ganze weniger als die Summe seiner Teile. Das viel beschworene „Kraftwerk der Gefühle“ wird zum kraftlosen Gewühle im Fundus der Gattung. Entsprechend distanziert und unbeteiligt verfolgt man die wild gewordene Polyphonie dieses rücksichtslosen Ab- und Lobgesangs auf die Gattung.

Die Uraufführung von Cages zufallsgesteuertem Anti-Opern-Arrangement in Frankfurt 1987 wirkte improvisiert, anarchisch und heiter verspielt, nicht zuletzt, weil kurz zuvor bei einem Brand der Frankfurter Oper ein Teil der Bühnenbilder und Kostüme zerstört worden waren und die ganze Produktion kurzfristig ins Schauspielhaus hatte übersiedeln müssen (vergleiche MusikTexte 22, 59). Die insgesamt sechs ausverkauften Wiederaufführungen in Bochum boten dagegen barocke Opulenz und Prachtentfaltung. So faszinierend Heiner Goebbels einerseits die beträchtlichen Distanzen der Bochumer Jahrhunderthalle in Szene setzte, spielte sich andererseits vieles in zu großen Entfernungen ab, als dass der ganze liebevolle Detailreichtum noch richtig hätte gesehen werden könnte. Was auf der normalen Theaterbühne in Frankfurt kompakt erschien, wirkte nun im überdimensionierten Industriedenkmal verloren. Einen willkommenen Kontrast dazu bot der mit fünfundvierzig Minuten nur halb so lange zweite Teil „Europeras II“. Der bunte Schaubudenzauber des ersten Teils verkehrte sich hier zur Schwarz-Weiß-Projektion eines stilisierten Barock-Straßenprospekts aus dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum, vor dem die Sänger nah an der Rampe in lebenden Bildern als schwarze Silhouetten erschienen. Die Tiefe des Raums wurde plötzlich zur Fläche, die Fülle der Farben zum scherenschnittartigen Schattenspiel.

Dieser gelungenen optischen Brechung fehlte jedoch die musikalische Entsprechung. Denn auch im zweiten Teil sangen bis zu acht Vokalisten unverdrossen weiter gleichzeitig in einer Art Dauer­ensemble, das zusammenknäulte, was nicht zusammengehört. Erst ganz zuletzt durfte eine einsame Flötenmelodie plötzlich alleine als eben das erklingen, als was sie ursprünglich gedacht war. Und schlagartig füllte sich die eiserne Werkhalle mit einer Intensität an Ausdruck und Atmosphäre, die viel Wehmut atmete über die in dieser Operncollage ach so brillant ins Werk gesetzte Furie der Verschwendung.

Der Menschenfreund

Im ersten Sommer seiner Intendanz verantwortete Heiner Goebbels bei der Ruhrtriennale Auftritte von neunhundert Künstlerinnen und Künstlern in über dreißig Produktionen, darunter zwanzig Uraufführungen, Neuproduktionen und Deutschlandpremieren. Während die Theater im Revier sonst an Auszehrung leiden, kennt das ursprünglich zur Wiederbelebung der Industriedenkmäler erfundene Mehrspartenfestival offenbar keinen Mangel. Für jährlich sechs Wochen Spielbetrieb mit rund fünfzigtausend Besuchern wird es mit dreizehn Millionen Euro gefördert, um unter den international relevanten Festivals mitspielen zu können.

Eine seltene Wiederaufführung erfuhr auch Carl Orffs spätes Musiktheaterwerk „Prometheus“. Der Originaltext von Ai­schylos’ altgriechischer Tragödie entführte ebenso in die wilde Vorwelt von Titanen und olympischen Göttern wie Orffs kantige, brockenartig perkussive Musik, die zumeist versetzt zum Text einfällt, der überwiegend deklamiert und kaum gesungen wird. Sprache, Gesang und Instrumentalmusik bilden jeweils eigene Schichten, die sich kaum je berühren. Für die klangliche Wucht sorgte die massive Besetzung mit sechsfachen Bläsern, acht Pianisten an vier Klavieren, fünf Harfen, neun Kontrabässen als einzigen Streichern und elf Schlagzeugern. Das Ensemble musikFabrik wurde durch das NRW-Landesperkussions-Ensemble „Splash“ und andere stark erweitert und spielte zupackend unter Peter Rundel.

Regie, Bühne und Kostüme stammten von Lemi Ponifasio. Der Choreograph aus dem pazifischen Inselstaat Samoa übersetzte Orffs statische Musik in ebenso starre Schwarz-Weiß-Bilder. Das Übermaß der einhundertsiebzig Meter langen Kraftzentrale im Duisburger Landschaftspark Nord bot den dunklen, harten und kalten Schauplatz für die Qualen des trotzigen Titanen, den Gottvater Zeus zur Strafe, dass er den Menschen das Feuer gebracht hatte, an den Kaukasus schmieden ließ. Während sich im Bühnenhintergrund ein nackter Schauspieler auf einem steinernen Altar wand, saß Bassbariton Wolfgang Newerla bewegungslos vorne an der Bühnenrampe mit starrem Blick in das permanent von Scheinwerfern geblendete Publikum. Die menschheitsgeschichtliche Tragweite der prometheischen Tat versinnbildlichte Ponifasio in einer neuen Figur, die zum Eindrücklichsten seiner sonst blassen Inszenierung gehörte. Wie ein Primatenaffe irrte ein Darsteller geduckt auf allen Vieren orientierungslos durch die Szene, bis er sich am Ende zum aufrechten Gang erhob und damit auf Augenhöhe mit eben derjenigen Götterwelt begab, der Prometheus zornig den Untergang prophezeite.

Im Schatten junger Mädchenblüte

Passend zur Eröffnung der Ruhrtriennale feierte Goebbels seinen sechzigsten Geburtstag. Und mitten im Festival erhielt er in Oslo den Internationalen Henrik-Ibsen-Theaterpreis, mit umgerechnet rund dreihundertdreißigtausend Euro der höchstdotierte Theaterpreis der Welt, weil Goebbels – so die Begründung der Jury – „ein wahrhafter Erneuerer“ sei, der die Kunstwahrnehmung des Publikums verändert und bei zahlreichen Künstlern entscheidende Wirkung hinterlassen habe. Zum Abschluss des Festivals bot der bestens vernetzte Theatermacher noch eine zweite Regiearbeit, bei der er sich zugleich als Komponist in einer Produktion vorstellte, die noch dieses Jahr nach Graz, Maribor (Slowenien) und Paris wandert sowie 2013 erneut in Hannover, Brüssel, Luxemburg und beim Holland Festival zu erleben sein wird.

Wie in früheren Musiktheaterarbeiten beschränkte sich Goebbels in „When the mountain changed its clothing“ weitgehend darauf, verschiedene Akteure zusammen zu bringen, um diese ohne übergestülptes Gesamtkonzept ihre jeweils eigenen Qualitäten entfalten zu lassen. In den Mittelpunkt stellte er diesmal den Mädchenchor „Carmina Slovenica“, der selbst szenisch arbeitet und zwischen Tokio und San Francisco weltweit gastiert. Zu Beginn tasten sich die vierzig Mädchen mit geschlossenen Augen über die Bühne, stoßen an herumliegende Stühle, erstarren, schreiten weiter, und machen trotz der Hindernisse alle gemeinsam im Pulk und jede für sich ihren Weg. Dieses Anfangsbild führt direkt in das Thema des Stücks: das Überschreiten der Schwelle vom Mädchen- zum Frauen­alter. Vom zweiten Themenstrang, den Umwälzungen im ehemaligen Jugoslawien, die der Komponist im Programmheft anspricht, war dagegen nichts zu merken.

Die Mädchen beziehungsweise jungen Frauen im Alter zwischen elf und zwanzig Jahren agierten als fabelhaft aufeinander eingespieltes Team. Mit sparsamen Requisiten, Aktionen und Bühnensitua­tionen – für deren Aufbau sie selbst sorgten – lieferte ihnen Goebbels vor allem einen Rahmen, damit sie machen können, was sie auch sonst tun: ausgezeichnet singen. Dabei zeigten die jungen Sängerinnen eine phantastisch breite Stimmgebung zwischen flachem Ton, flirrendem Obertongesang und einem kehlig lautstarken Singen, dessen leichte Rauheit zugleich eine Strahlkraft entfaltete, die den kleineren Quersaal der Jahrhunderthalle Bochum spielend füllte. Auf dem Programm standen schlichte Kanons und Volkslieder, virtuose Klatsch- und Sprechspiele, mittelalterliche Antiphonen, ein Chorsatz von Brahms.

Dazwischen wurde wahlweise in Formation oder wild durcheinander über die Bühne gelaufen, mit Stühlen gearbeitet, brav an Tischen gesessen und mit Texten von Rousseau, Stifter und Gertrude Stein über Alter, Tod, Tiere, Wetter, Lügen, Arm und Reich dialogisiert. Die Kulissen und Kostüme von Goebbels’ altbewährtem Regieteam sorgten für künstliche Infantilisierung: Die jungen Frauen wurden in süße Kleidchen gesteckt, auf grüne Wiesen gestellt und zu naivem Ringel- und Ballspiel genötigt. Zum symbolischen Abschied von der Kindheit hatten sie Kuscheltiere im Wald auszusetzen. Das zeigte mehr Kindheit um 1900 denn die reale Lebenswirklichkeit der Jugendlichen und fast erwachsenen Frauen.

Goebbels kompositorische Beigaben wirkten entbehrlich. Neben ein paar schwebenden Akkorden mischte er dürftige elektronische Zuspielungen, die blubbernd und knisternd mit den Singstimmen kontrastierten. Zugleich zeugte seine bescheidene Selbstzurücknahme von großem Respekt für die jungen Sängerinnen. Der Chor wurde nicht funktionalisiert, sondern durfte bleiben was er ist: begeisternd!