MusikTexte 135 – November 2012, 83–84

„Wir erbitten auch Flügel, so richtige Flügel“

Uraufführung von Stockhausens „Mittwoch“ aus „Licht“ in Birmingham

von Rainer Nonnenmann

Nach Santiago de Compostella muss man wandern, nach Capri mit dem Schiff übersetzen, und zu einer Oper von Karlheinz Stockhausen am besten flie­gen. Schließlich hatte der Meister erklärt: „The music is an airplane“. Tatsächlich bot schon der Hinflug ab Düsseldorf aus zehntausend Meter Höhe einen überragenden Blick auf die Austragungsstätte der diesjährigen Olympischen Spiele London 2012, deren kulturelles Beiprogramm bis nach Birmingham strahlte. Gemäß dem olympischen Gedanken von Völkerfest und friedlichem Wettstreit hatte man sich dort das ehrgeizige Ziel gesetzt, nichts Geringeres als die als unaufführbar verrufene Oper „Mittwoch“ aus Stockhausens „Licht“-Heptalogie zur Uraufführung zu bringen. Zuvor war dieses Unterfangen schon zweimal gescheitert: in Bonn an den Fähigkeiten des Chors und in der Schweiz ausgerechnet an den Finanzen. Stockhausen verstand sein Werk als Ausdruck globaler Harmonie und Liebe sowie des Friedens, der kosmischen Solidarität und der Zusammenarbeit zwischen Menschen und dem Universum. Zudem ist für ihn „Mittwoch“ der Tag der Luft, der Farbe Gelb und „der spatialen Phantasmen“. Nach bisher sechs uraufgeführten Opern des von 1977 bis 2003 komponierten Riesenwerks über die sieben Wochen- und Schöpfungstage (in Mailand „Donnerstag“ 1981, „Samstag“ 1984 und „Montag“ 1988, in Leipzig „Dienstag“ 1993 und „Freitag“ 1996, zuletzt in Köln „Sonntag“ 2011) war der „Mittwoch“ – auch wenn dessen sechs Einzelstücke zuvor bereits alle separat uraufgeführt worden waren, die meisten davon dank des SWR Stuttgart – nun die letzte noch ausstehende Gesamturaufführung aus diesem Zyklus. Die Erwartungen waren entsprechend gespannt. „The Guardian“ etwa bezeichnete diese Weltpremiere als „the showcase finale of the Cultural Olympiad, which aims to present once-in-a-lifetime arts and culture performances“.

Schauplatz waren zwei große Hallen des vormals chemischen Industriebetriebs Argyle Works südlich des Birminghamer Stadtzentrums im Distrikt Digbeth, einem der am dichtesten industrialisierten und mit aufgelassenen Bahnbrücken, Fabriken und schwarzen Kanälen heruntergekommensten Viertel der durch Verlust tausender Arbeitsplätze in der Kohle-, Stahl- und Chemischen Industrie schwer betroffenen mittelenglischen Stadt. Die nötige Infrastruktur für die fünfhundert Besucher der vier ausverkauften Vorstellungen wurde per Toilettenwagen und Ca­­teringzelt bereitgestellt. Die Räume selbst hatten sich schon zuvor bei einer Produktion von Verdis „Othello“ als Aufführungsort bewährt. Damals wie jetzt stammte die Inszenierung von Graham Vick und seiner 1987 gegründeten Birmingham Opera Company, die sich zur Aufgabe gesetzt hat, anspruchsvolles Musiktheater außerhalb herkömmlicher Theaterräume zu realisieren. Im Fall des „Mittwoch“ gelang dies jedoch nur mit Einschränkungen. Man setzte zu einseitig auf Sänger, Musiker, Darsteller und Requisiten, während auf Kostüme weitgehend und auf Kulissen vollständig verzichtet wurde. Die „szenische Gesamturaufführung“ wirkte da­­her eher „halbszenisch“. Geschuldet war diese Beschränkung sowohl der knappen Vorbereitungszeit von nur einem halben Jahr als auch den geringer als erhofft ausgefallenen olympischen Geldern. Wenig geeignet zu konzentriertem Hören während mehr als fünf Stunden reiner Spielzeit erwiesen sich auch die unbequemen Sitzgelegenheiten, winzige Klapphocker in der einen Halle sowie zu kurze und dünne Schaumstoffmatten in der anderen. Vollauf zu überzeugen vermochte dagegen die musikalische Umsetzung unter Leitung von Kathinka Pasveer, die vor Ort mit Chören und Solisten sechs Wochen intensiv geprobt und zudem in fünf von sechs Nummern die Klangregie übernommen hatte. Insofern verbürgte die Aufführung eine treue Fortschreibung der von Stockhausen geforderten unbedingten Präzision der Interpretation.

Im rein elektronischen Anfangsteil „Mittwochs-Gruß“ wurde zu schwebenden Klangwellen einmal mehr das für Stockhausen zentrale Motiv des Fliegens bemüht, in Gestalt von Modellflugzeug, Drachen, Luftballon. In die Höhe strebten auch Kletterer, die auf Wände und Strebepfeiler der nackten Industriehalle klommen. Mit dem über den Wolken spielenden „Mittwoch“ hatte diese Kulisse jedoch ebenso wenig zu tun wie die banalen Abziehbildchen vom Fliegen mit der von Stockhausen intendierten fremden, kosmischen Musik, „die nur selten an diese Welt erinnert und das Universum der Phantasie wachruft“. Die eigenen Antennen für kosmische Signale zu spitzen wurde das Publikum durch Darsteller aufgefordert, die umgedrehte Regenschirme wie Satellitenschüsseln nach quadrophon durch den Raum kreisenden Flüster- und Morseklängen ausrichteten. Weil die Premiere auf den 22. August gelegt worden war – sinnigerweise ein Mittwoch und auf den Tag genau der vierundachtzigste Geburtstag des 2007 verstorbenen Komponisten – brachte man als kleine Einlage für den Meister ein vollkommen lautloses, aber mimisch gut erkennbares „Happy birthday dear Karlheinz“ zum Besten. Als sich schließlich eine von gelbem Licht durchflutete Tür öffnete, konnten die Besucher wie bei einem Initiationsritus einer nach dem anderen ins „Licht“ beziehungsweise in die erste Szene „Weltparlament“ eingehen, die sich in der Nachbarhalle anschloss.

Dort saßen siebzig Weltparlamentarier – schwarz-weiß gewandet mit umso bunter auf die Gesichter gemalten Nationalfahnen – auf knallgelben Hochsitzen im Kreis um das Publikum und debattierten in zwölf verschiedenen Rhythmusschichten und unbekannten Sprachen über das vom Präsidenten vorgegebene Thema „Liebe“. Unter Vorsitz des Bassisten Ben Thapa schuf der ausgezeichnete Chor Ex Cathedra aus Birmingham wahlweise wunderbar im Raum stehende Klangflächen oder mit Singen, Flüstern, Schmatzen und Küssen ein vielstimmig filigranes Gesummse und Gemurmel wie in einer Talmud-Schule. Dazwischen traten einzelne Abgeordnete mit verständlichen Definitionsversuchen hervor: Liebe ist „Treue zum Talent“, „Vergebung“, „Hilfe“, „GOTT“ und „Heilung der Welt“ bis hin zum paulinischen Bekenntnis: „Alle Werke sind umsonst, wenn Liebe nicht darin tönt – der Trost aller Welt, Mittwoch ist der Tag der Liebe, Liebe, Liebe, Liebe.“ Da die Koloratur-Eva-Sopranistin (Elizabeth Drury) nicht zuletzt musikalisch besonders überzeugte, wurde sie zum Ersatz für den Präsidenten berufen, als dieser plötzlich vom Hausmeister nach draußen gerufen wurde. Am Ende stiegen die Delegierten von ihren Sitzen und reichten dem Publikum voll freudigem Überschwang die Hände zur großen Weltverschwisterung.

Der vokalen Virtuosität der ersten Szene folgte in der zweiten „Orchester-­Finalisten“ die instrumentale. Nach Stockhausens Vorstellungen sollen die Musiker hier wie ein fliegendes Orchester erscheinen, über Kathedralen, Flughäfen, Meeren, Häfen sowie – in Gestalt zugespielter konkreter Klänge – über schreienden und planschenden Kindern im Schwimmbad, einem Markt in Marrakesch und Tieren in Afrika. Doch statt sich in phantastischer Schwerelosigkeit zu tummeln, baumelten die dreizehn Solisten (darunter vormalige Teilnehmer der Stockhausen-Kurse in Kürten) auf zusammengeschusterten Stahlschaukeln von der Hallendecke über dem Publikum. Gelegentlich angehoben und gesenkt lieferten sie sich mit exaltierten Instrumentalsoli einen musikalischen Wettstreit. Zugegeben: Stockhausens Angaben sind schwer zu realisieren, zumal die Szene – wie fast alle Teile des „Licht“-Theaters – keine Handlung und dramatisch agierenden Personen kennt, und eine Inszenierung außerdem dem primären Ziel des Komponisten nicht im Wege stehen sollte, dass das Publikum allein durch die Musik aus dem realen Raum „wegfliegt und in einen Phantasieraum hineingenommen wird“. Damit sich aber solche Flüge der Phantasie wirklich ereignen, braucht es eine Startrampe, die mehr bietet als nur den realen Raum und albernes Geschaukel. Manches hätte sich vielleicht mit Videoprojektionen andeuten lassen, worauf jedoch komplett verzichtet wurde. Dabei hatte zuletzt bei der szenischen Umsetzung des „Sonntag“ 2011 in Köln die katalanische Theatergruppe La Fura dels Baus mit opulenten Videobildern – von störenden Redundanzen abgesehen – die Poesie mancher Szenen gut erfasst (vergleiche MusikTexte 129, 73–76).

In Birmingham verließ man sich stattdessen auf einen Pulk Laiendarsteller, die gebannt von einem Solisten zum nächsten blickten, pantomimisch Mücken jagten oder Papierflieger durch den Saal warfen. Um endlich doch noch ein bisschen den Himmel zu öffnen, spannte man blaue Regenschirme mit weißen Wölkchen über die Köpfe des Publikums. Das kam für diejenigen freilich zu spät, die kurz zuvor vom Posaunisten aus einem aufblasbaren Planschbecken gehörig nassgespritzt worden waren. War das nun aus der Not geborene arte povera, britischer Humor, englisches Understatement oder der zaghafte Versuch einer Ironisierung von Stockhausens kosmischen Höhenflügen? Und was sollte die gewöhnliche Freizeit- und Alltagskleidung der Solisten, während ein unbeteiligter Statist in voller Astronautenmontur erschien? Allem Regietheater und Abgegriffensein zum Trotz kommt Stockhausens „Licht“ augenscheinlich ohne Raumfahrer nicht aus, ganz wie Wagners „Parsifal“ ohne Gral. Warum so einfallslos, wobei Stockhausen seinen „Mittwoch“ doch „Phantasten gewidmet“ hat?

Vor und nach der Premiere als Schlagzeile in Wort und Bild aufgemacht wurde in erster Linie – wie könnte es anders sein – das berühmt-berüchtigte „Helikopter-Streichquartett“. Gerahmt wurde diese dritte Szene von einem Moderator, dessen Rolle bei früheren Aufführungen Stockhausen selbst übernommen hatte. Jetzt war es der Disk Jockey Nihal, der mit humorvoller Leichtigkeit die Musiker des Elysian Quartet aus London vorstellte sowie in Technik und Verlauf des Stücks einführte. Anschließend wurden die Musiker auf dem Weg zu den unweit auf einer Industriebrache wartenden Helikoptern von einer Fernsehkamera gefilmt, deren Bilder als Live-Doku im Saal gezeigt wurden. Auf je einen der vier Hubschrauber verteilt hoben die Musiker schließlich ab, um zwanzig Minuten über der Stadt zu kreisen und ihre Parts sowohl getrennt als auch durch Klicktracks exakt mit den anderen koordiniert zu spielen. Gleichzeitig waren sie im Auditorium auf je einem von vier Bildschirmen zu sehen und über eine oktophone Lautsprecheranlage samt Rotorgeräuschen zu hören. Klangregisseur Ian Dearden variierte dabei den Pegel zwischen Streichern und Rotoren ebenso lebendig wie die Höhe der Abstrahlung über oberen und unteren Lautsprecherkranz, so dass das ermüdende Dauertremolo und Permanentglissando weniger eintönig wirkte. Aller Popularität zum Trotz wurde das „allen Astronauten“ gewidmete Quartett nach der Premiere in „The Daily Telegraph“ als „the dullest Scene“ und ein „banal gimmik, wasting an obscene amount of money and fuel“ gescholten. Indes kam es beim Publikum gut an und wurden die Musiker und Piloten bei ihrer Ankunft im Saal begeistert gefeiert. Stockhausen rührt offenbar an den alten Menschheitstraum vom Fliegen und zeigt sich darin – seinem sonstigen verquasten Eklektizismus zum Trotz – von seiner volkstümlichsten Seite.

Die vierte Szene „Michaelion“ weitet den weltlichen Parlamentarismus der ersten Szene schließlich zum intergalaktischen Happening, surreal und spleenig. Delegierte verschiedener Sternsysteme kommen an den heiligen Ort – der nach Michael benannt ist, dem Fürsten unseres Universums –, um einen neuen Präsidenten zu wählen. In unterschiedlichen Stilen und Dialekten schlagen sie Kandidaten vor und ernennen endlich „Luzikamel“, ein intelligentes, sprechendes, singendes, tanzendes Kamel, in dessen Gestalt sich der alte Erzfeind Luzifer einen Tag lang zur Mitarbeit am kosmischen Heilsgeschehen umstimmt und als „Operator“ per Kurzwellen empfangene „Universal-Nachrichten, die kein Mensch versteht“, übersetzt. Zum großen Erstaunen der Menge lässt er aus seinem Kamel­after auch sieben leuchtende Weltkugeln auf die Bühne plumpsen: Oh wie „Kakabel!, Kakabel!, Kakabel!“ Dazu singen Solisten des Chors London Voices krude Meldungen: „Telekinesis funktioniert nicht mehr“, „stündlich eine Supernova“, „Whirlpool Galaxie hat zu wenig Wasser“, „Tro-ho-hompeter, rette Andromeda vor Cetus Poseidon“, „wir erbitten auch Flügel, so richtige Flügel“. Fast möchte man die gesungene Frage, „Ist vielleicht das alles, alles Quatsch, ja Quatsch?“, bejahen, würden nicht alle Partien dieses kosmischen Klamauks mit größter Professionalität, Perfektion und Präsenz auswendig vorgetragen, nicht zuletzt von den bewährten Stockhausen-Interpreten Michael Leibundgut (Bass), Chloé L’Abbé (Flöte), Fie Schouten (Bassetthorn), Marco Blaauw (Trompete) und Antonio Pérez Abellán (Synthesizer). Die ebenfalls bestens präparierten Choristen lassen ihre Gesichter dazu immer wieder vor Freude glänzen. Sofern man jedoch die allgemeine Begeisterung über die Ausscheidungen des anbetungswürdigen Trampeltiers nicht teilt, bleibt unklar, was sie dazu veranlasst. Im wirklichen Leben vermag ein Lächeln unwillkürlich anzustecken, im Theater bleibt es indes nur Mimik ohne Ursache.

Zum finalen „Mittwochs-Abschied“ – der isolierten elektronischen Spur von „Orchester-Finalisten“ – versammelten sich Publikum und Künstler endlich zu gemeinsamem geselligen Ausklang bei – der Tagesfarbe gemäß – gelbem Orangensaft. Übrigens: Wer keine Karten mehr für eine Vorstellung bekam oder Reise und Kosten scheute, konnte die zweite Aufführung des „Wednesday“ beim Public Viewing auf öffentlichen Plätzen in Birmingham und dem benachbarten Coventry verfolgen. Und dank eines neuen Services der BBC und des englischen Kulturministeriums ließ sich das Spektakel auch via Live-Stream auf Computer, Tablets oder Smartphones im Westentaschenformat besichtigen. Solchen Einsatz modernster Medien bei der Distribution der Stockhausen-Oper hätte man sich im Großen auch bei deren Produktion gewünscht.