MusikTexte 138 – August 2013, 3–4

Junge Avantgarde – quo vadis?

von Rainer Nonnenmann

In den zwanziger Jahren revoltierte die junge Generation von Hindemith, Eisler und Weill aus betont anti-expressiver Haltung gegen die klassisch-romantische Tradition, über deren vermeintlich veredelnde Kraft man sich nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs keine Illusionen mehr machte. Ähnlich allergisch reagierte nach Diktatur, Holocaust und Zweitem Weltkrieg die serielle Nachkriegs­avantgarde von Boulez, Nono und Stockhausen auf Tonalität und musiksprachlichen Ausdruck, um stattdessen eine von allen Vorprägungen möglichst restlos gereinigte neue Musik zu schaffen. Dem konstruktiven Purismus dieses materialimmanenten Strukturdenkens setzten dann in den siebziger Jahren erneut jüngere Komponisten wie Lachenmann, Nicolaus A. Huber, Konrad Boehmer und Wolfgang Rihm dezidiert gesellschaftspolitische Ideen oder gezielte Anknüpfungen an die musikalische Vergangenheit und Alltagswelt entgegen. Die in Spezialfestivals und Sonderkonzertreihen ebenso segregierte wie marginalisierte neue Musik sollte aus ihrer weltfernen Selbstbeschäftigung befreit und endlich wieder in lebendigen Kontakt mit der Gesellschaft gebracht werden.

Ähnliche Gedanken treiben auch heute die um 1990 geborene jüngste Komponistengeneration um. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen, tut es jedoch nicht. Denn die gegenwärtig Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen treffen auf völlig andere technologische, gesellschaftliche und allgemein kulturelle Rahmenbedingungen. Zwar ist die Förderung des komponierenden Nachwuchses besser denn je. Zugleich aber könnte das Ungenügen der Jüngsten an der neuen Musik kaum größer sein. Hakan Ulus (Jahrgang 1991 und Schüler von Adriana Hölszky an der Universität Mozarteum Salzburg) und Ole Hübner (Jahrgang 1993 und Schüler von Johannes Schöllhorn an der Hochschule für Musik und Tanz Köln) sammelten 2011 und 2012 Texte von acht weiteren gleichaltrigen Kompositionsstudierenden aus Deutschland und Österreich, die sie unter dem Titel „Pluralismus, Internet und Tradition – Komponieren im 21. Jahrhundert“ herausgeben wollten. Noch bevor sich dieser Plan schließlich zerschlug, wollten die „MusikTexte“ eine Auswahl die­ser verbalen Orientierungs- und Positionsbestimmungsversuche veröffentlichen, um den jungen Komponisten Gelegenheit zu geben, sich vorzustellen, und zugleich die spezifischen Schwierigkeiten, Problem- und Fragestellungen dieser gegenwärtig jüngsten Generation zu do­kumentieren. Konfrontiert mit dieser konkreten Publika­tions­möglichkeit, distanzierten sich prompt alle fünf ausgewählten Autoren von ihren inzwischen ein oder zwei Jahre alten Texten, weil sie ihre damals zumeist für eigene Internet-Blogs formulierten Überlegungen – in diesem Alter verständlicherweise von kurzer Halbwertszeit – durch neue Erfahrungen, Begegnungen, Konzert- und Festivalbesuche bereits wieder für überholt hielten. Alle Autoren haben daher ihre Texte für diese Publikation überarbeitet oder komplett neu geschrieben.

Die Beiträge von Ole Hübner, Neele Hülcker, Kevin Lang, Richard Millig und Benjamin Scheuer zeigen auffallende Parallelen hinsichtlich der Einschätzung der gegenwärtigen Situation der neuen Musik. Glaubt man den Jungen, so wird diese augenblicklich vor allem beherrscht von Routine, Spezialistentum, bildungsbürgerlichen Zugangsschranken, Selbstgenügsamkeit, Konzeptionslosigkeit, leicht von der Hand gehender Konfektionsware und risikolos produzier- und konsumierbarem Kunsthandwerk. Der lähmenden Bedeutungslosigkeit altbewährter Rezepte entspricht zwangsläufig die Interesselosigkeit des Publikums, an dessen zunehmend medial geprägter Arbeits- und Lebenswelt diese Musik völlig vorbeigeht. Neidisch blicken die jungen Musikerinnen und Musiker daher auf die bildende Kunst, die viel stärker konzeptuell, interdisziplinär und spartenübergreifend arbeite und sich allein deswegen schon stärker auf die aktuelle soziale Wirklichkeit beziehe. Während die zeitgenössische Musik in alten Gattungsbahnen weiter Streichquartette, Klavierkonzerte und Opern produziere, würden in der zeitgenössischen Kunst selbstverständlich auch die im Internetzeitalter veränderten technologischen Formen von Kommunikation, Information und Animation thematisiert. Solch negative Sicht der neuen Musik ist zweifellos einseitig und der Unkenntnis vieler Bereiche der jüngeren Musikgeschichte geschuldet, die nicht nur aus dem Serialismus als ständig beschworenem Extrem- und Sündenfall der neuen Musik besteht, sondern ebenso aus Fluxus, Happening, Experiment, Performance, kritischem Komponieren, politischer Musik, Neoromantik, De- und Rekomposition, Crossover, Soundscape, Konzept- und Klangkunst et cetera. Dennoch ist dieses Zerrbild neuer Musik nicht einfach wegzudiskutieren, weil es sich nun einmal realen Erfahrungen der jüngsten Generation verdankt, die aus ehrlicher Verzweiflung heraus kritisiert, was sie letztlich selber machen möchte, nur eben anders, nämlich neue Musik, die den Hörer anspricht, die jeden etwas angeht, die weltoffen ist, lebensnah, aktuell, realitätsbezogen, gesellschaftsrelevant.

In Anlehnung an Hanns Eisler formuliert Ole Hübner: „Es geht in der Musik nie nur um Musik“, um im Ringen um die Legitimation der eigenen künstlerischen Arbeit gegenüber direkter gesellschaftlicher Intervention auch Gedanken an eine „neue Gebrauchsmusik“ durchzuspielen: „Musik für Videospiele, für Pornos, für Werbung oder für die Straße wäre eine Musik, bei der nicht nur die Thematik, sondern sogar die Umsetzung in gesellschaftlich wahrgenommene Bereiche vordränge und gesellschaftlich wahrgenommene Funktionen erfüllte.“ Und Neele Hülcker (Jahrgang 1987 und Schülerin von Dieter Mack und Harald Muenz in Lübeck sowie von Manos Tsangaris und Franz Martin Olbrisch in Dresden) bekennt Mich interessieren vor allem künstlerische Ansätze, die über eine reine musik-musikalische Ästhetik, über das Anordnen des Neue Musik-Vokabulars hinausreichen.“ Diese Haltung ist für die jungen Komponisten ebenso repräsentativ wie Hülckers Verständnis von Kunst und Musik als Möglichkeit, „unsere Gegenwart auf neue Art betrachtbar zu machen, zu kritisieren, zu kommentieren, zu reflektieren, in Frage zu stellen und dabei sich selbst immer wieder neu in Bezug zur eigenen Definition zu setzen“. Repräsentativ sind ferner die grundsätzlichen Fragen von Richard Millig (Jahrgang 1992 und Schüler von Orm Finnendahl an der Hochschule für Musik Freiburg), die den alten Streit zwischen Musique engagée und L’art pour l’art fortschreiben: „was soll kunst heute? soll kunst etwas sagen? oder soll kunst einfach nur kunst sein?“ Während Millig an konkreten Beispielen sein Komponieren von erfüllten und getäuschten Erwartungen beschreibt, stellt er zugleich die Notwendigkeit jedes kompositorischen Schritts sowie des Schreibens von Musik überhaupt in Frage.

Benjamin Scheuer (Jahrgang 1987 und Schüler von Wolfgang Rihm an der Musikhochschule Karlsruhe) setzt auf „inszenierte Brüchigkeit“ und das bewusste Mitkomponieren des visuellen Aspekts einer Aufführung. Weil alles Material schon einmal musikalisch gebraucht wurde, sucht er nach „Fehlern im System“, die geeignet sind, auch den Durchschnittsmenschen an die eigene Abweichung von der Norm zu erinnern. Zwei Aufsätze sind bezeichnenderweise mit „Meine Unsicherheiten“ und „Meine Unruhen“ betitelt, also nicht etwa vollmundig „Meine Ästhetik“ oder „Meine Methode der Komposition mit …“ Bei aller entschiedenen und berechtigten Kritik an einem verengten Verständnis neuer Musik ist der Gestus der Texte eher verhalten und weit entfernt vom felsenfesten Überzeugungspathos manch manifestativer Verlautbarungen. Was hier als „Mein“ beschrieben wird, ist gerade nicht etwas positiv Greifbares, das sich in stolzen Proklamationen lauthals herausposaunen ließe. Vielmehr ist es jener Zustand der Unsicherheit und Unruhe, der einen denkenden und sensibel wahrnehmenden Menschen in Distanz zu sich selbst und seiner Umwelt treten und dann auch – je nach Persönlichkeit und individuellem Hintergrund – auf je eigene Art und Weise Antworten auf die von ihm erkannten Schwierigkeiten und Probleme geben lässt. Derlei künstlerische „Unsicherheiten“ und „Unruhen“ haben folglich nichts mit jugendlicher Unreife zu tun, sondern sind eine wesentliche Voraussetzung des Kunstcharakters jeder Kunst, die auch für den Hörer zur existentiellen Verunsicherung und Beunruhigung werden kann.

Die Diskussion über Handwerk, Lehr- und Lernbarkeit von Komponieren erweitert Kevin Lang (Jahrgang 1989, Schüler von Adriana Hölszky, Christian Ofenbauer und Tristan Murail am Mozarteum Salzburg), um die Frage, wie angesichts der gegenwärtig totalen Beliebigkeit aller Materialien, Techniken und Stile ein Fortschreiten überhaupt noch möglich sei: „Junge Avantgarde – quo vadis?“ Ähnlich zukunftsoffen heißt es bei Richard Millig: „quo vadis, musica nova?“ Obwohl keine Zukunft als alleinseligmachender Zielpunkt behauptet und die Kategorie der „Avantgarde“ sonst nicht ausdrücklich bemüht wird, spielen in allen Texten dennoch typische Avantgarde-Motive eine Rolle. Avantgardistisch ist etwa die Fundamentalkritik am System beziehungsweise an der Institution „Neue Musik“. Avantgardistisch ist auch der Wunsch, von der Kunst aus die bestehende Lebenspraxis zu durchleuchten und bestenfalls gleich in eine neue zu überführen, eine Utopie, die schon Peter Bürger in seiner „Theorie der Avantgarde“ 1974 als konstitutiv für die historischen Avantgardebewegungen diagnostizierte. Avantgardistischer Gruppengeist steckt schließlich auch im Wissen der Jungen, der ersten Generation anzugehören, die von Kindsbeinen an mit der Digitaltechnologie und den „neuen Medien“ samt deren Auswirkungen auf die Produktion, Distribution und Rezep­tion von Musik aufgewachsen ist.

Die Kategorie der „Avantgarde“ ist jedoch problematisch, nicht erst seit dem Material- und Stilpluralismus der Postmoderne, und die Jungen wissen darum. Von Anfang an fehlgeleitet war die Übertragung des Begriffs aus einer militärischen Angriffs- und Expansionsstrategie auf die Kunst sowie der Umstand, dass letztlich erst die Nachwelt entscheiden kann, ob etwas wirklich den Boden für Neues bereitet hat oder nicht. Denn wer in unbekannte Regionen vordringt, weiß selber am allerwenigsten, was vorne ist. Zwar lässt sich benennen, was Avantgarde gestern war, indem wir die historischen Avantgardebewegungen beschreiben. Wir können aber nicht angeben, was Avantgarde heute ist, weil dem Vortrupp ins Unbekannte selber nicht klar ist, ob er entweder verdurstender Irrläufer in der Wüste oder wegbereitender Pionier in eine gelobte Zukunft wird, die diesen Vortrupp dereinst einmal vielleicht rückwirkend als Avantgarde der eigenen Gegenwart anerkennen wird. Gleichwohl eignet Kunst immer ein Moment der Antizipation, des Vorgriffs auf noch Nie-Dagewesenes. Genauso ist jede neue Genera­tion, die ihre Unzufriedenheit mit der bisherigen Situa­tion artikuliert und deutlich ihre Probleme und Aufgaben benennt, ein Versprechen auf bisher Ungehörtes, Revolutionäres, Richtungs- und Zukunfts­weisendes. Nun denn: Junge Avantgarde, gehe deinen Weg, und wir werden sehen, wohin er führt. Oder besser: Gehe jeder der Jungen selbständig seinen eigenen Weg, und wir werden irgendwann sehen, wohin all diese Wege führen.