MusikTexte 139 – November 2013, 83–84

Angriffe auf gewohnte Wahrnehmungsmechanismen

Partch, Forsythe, Ikeda, Lachenmann und Goebbels bei der Ruhrtriennale

von Rainer Nonnenmann

Dieser amerikanische Experimentalist war und bleibt eine Ausnahmefigur – weniger seriöser Komponist mit solidem Handwerk als vielmehr Autodidakt und musikalischer Landstreicher beziehungsweise Hobo, als der er sich während der Großen Depression in den USA Mitte der dreißiger Jahre durchzuschlagen hatte. Harry Partch eignete sich an, was er am Wegesrand fand: Materialien, Geräte und Kulturgüter unterschiedlicher Epochen und Weltgegenden: antike Tragödie, christliche Messe, altjapanisches Nô-Theater, indianische Riten, Folk Music, Schlager und Avantgarde. Alles zusammen kreuzte der Sohn presbyterianischer Missionare gegen Ende seines Lebens mit Minimal- und Pop-Musik zum höchst eigensinnigen, 1969 in Los Angeles uraufgeführten Musiktheater „Delusion of the Fury“, zu Deutsch: „Wahn des Zorns“.

Nach seinem Tod 1974 verschwand Partchs Musik fast völlig von den Konzert- und Theaterbühnen. Das geschah nicht etwa aus nachlassendem Interesse an seinem Werk, das sich radikal gegen die europäische Tradition und Avantgarde stellte. Sondern weil der unakademische Maverick und Eigenbrötler über Jahrzehnte nur noch für Instrumente komponierte, die er selbst entworfen, selbst gebaut und nach einem eigens entwickelten dreiundvierzigstufigen Tonsystem gestimmt hatte. Die Einzigartigkeit seiner Musik war erkauft durch deren Unaufführbarkeit jenseits von Partchs engstem Freundes- und Kollegenkreis, bis sie nur noch als Insidertipp durch die Köpfe weniger Aficionados spukte. Doch die Premiere und europäische Erstaufführung seines Hauptwerks „Delusion of the Fury“ bei der diesjährigen Ruhrtriennale in der Jahrhunderthalle Bochum hat jetzt eine neue Ära der Partch-Rezeption eröffnet. Und das ist vor allem den Musikern des Kölner Ensem­bles musikFabrik zu danken, die für dieses ebenso eklektizistische wie exzentrische Gesamtkunstwerk das Spiel dieser speziellen Instrumente neu zu lernen hatten.

Zunächst baute Schlagzeuger Thomas Meixner sämtliche als Unikate nur noch zu Studienzwecken in den USA verwahrte Saiten- und Schlaginstrumente Partchs nach: fremdartige Hackbretter, Riesenmarimbas, Doppelzithern, mit Kalebassen bestückte Äste, mächtige Klanghölzer sowie skurrile Metall- und Flaschen-Spiele, Glühbirnen-, Glas- und Röhren-Manuale. Auf der Bühne bildeten die ebenso raumgreifenden wie schön anzusehenden Geräte – um einen kleinen Wasserlauf gruppiert – zugleich die in unterschiedliches Licht (Klaus Grünberg) getauchte Szenerie. Über das Spiel ihrer Instrumente hinaus sangen die Musiker auch als Solisten oder im Chor, agierten als Schauspieler und Pantomimen und assistierten sich gegenseitig als Bühnenarbeiter und Garderobieren. In sagenhaften hundertfünfzig Stunden Tuttiprobe wurde alles perfekt einstudiert. Dank der Arbeit von Thomas Meixner sind Partchs Instrumente jetzt als Nachbauten und Rekonstruktionen wieder bespielbar, erstmals auch diesseits des Atlantiks. Nach den Folgeaufführungen von „Delusion“ in Oslo und Holland wird es daher fortan sicher häufiger Aufführungen seiner Werke in Deutschland und Europa geben. Auch Kompositionsaufträge wurden bereits für dieses Instrumentarium vergeben.

Im Zentrum von Partchs „Ritual aus Traum und Wahn“ – so der Untertitel des siebzigminütigen Musiktheaterwerks – steht die körperliche Einheit der Musiker mit Instrumenten, Bewegungen und Klängen. Darüber hinaus werden mehr in unverständlichen Urlauten „Oweeh, aouh, Ejaah“ denn in klaren Worten zwei kleine Parabeln erzählt, die bei aller ungewöhnlichen Klanglichkeit leicht zur Nebensache geworden wären, hätte sie die Inszenierung von Heiner Goebbels nicht in ebenso rituelle wie eindringliche Bilder gebracht, die knapp und klar die Botschaft vermittelten: Vertragt und vergebt euch, denn jeder ist verletzlich und erlösungsbedürftig! Den ersten Akt prägten prachtvolle japanische Gewänder der Kostümbildnerin Florence von Gerkan, den zweiten Hirtenfelle und Lumpenkleider. Derselbe Gegensatz durchzieht Partchs Musik, die mal archaisch einfach, mal komplex wirkt, mal ärmlich, dann wieder feierlich zeremoniell, und oft beides zugleich. Pulsierende Grundflächen erscheinen als archaische Tänze, und banale Floskeln als fremd anrührende Melodien. Schließlich tat auch die Kulisse der Bochumer Jahrhunderthalle ihr Übriges. Denn so wie die Geschichte dieser einstigen Gaskraftzentrale eines längst verschwundenen Stahlwerks für die heutige postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft längst in mythisches Dunkel entschwunden scheint, atmet Partchs modern-antimodernes Musiktheater die Aura eines vorweltlichen Kults: geheimnisvoll, stark und erregend.

Ein von Heiner Goebbels während seiner dreijährigen Ruhrtriennale-Intendanz von 2012 bis 2014 zwar nicht neu eingeführtes, aber auch 2013 prominent gestaltetes Segment bildeten Installationen. Der schottische Videokünstler Douglas Gordon verwandelte das Betonlabyrinth der Mischanlage der Essener Kokerei Zollverein in eine schroffe Geister-Unterwelt, in die das Publikum abstieg wie die Götter in Richard Wagners „Rheingold“ nach Nibelheims Nacht, um unter Dröhnen, Zischen, Qualmen und plötzlichen Video-Feuereruptionen in der tiefsten Tiefe einen von Blut gezeichneten Goldschatz schimmern zu sehen. Ohne altgediente und künstlich aufgedonnerte Pathetik kamen dagegen zwei spielerische Arbeiten von William Forsythe im Museum Folkwang Essen aus. Die bereits 2002 entstandene Videoinstallation „City of Abstracts“ zeigte im Foyer die eintretenden Menschen wie in einem Spiegelkabinett grotesk verzerrt. Während Köpfe und Oberkörper quer durch den Raum flogen, blieben Füße und Beine festgefroren an Ort und Stelle. Das Publikum ließ sich auf diese interaktive Verflüssigung der eigenen Leiber in Raum und Zeit ebenso dankbar ein wie auf die neue Rauminstallation „Nowhere and everywhere at the same time, No. 2“ im größten Ausstellungssaal des von David Chipperfield entworfenen neuen Erweiterungsbaus. Wurden die Körper im Video nur technisch verzerrt, so hatten sich die Besucher jetzt selber nach Möglichkeit zu biegen und zu winden, um Hunderten frei hin- und herschwingenden Pendeln auszuweichen. In dem so getakteten Raum brachte der Choreograph alle zum Tanzen. Und es machte ebenso viel Spaß, sich dieser Geschicklichkeitsübung selber zu unterziehen wie anderen dabei zuzusehen.

Betrachter und zugleich Teil der Installation war das Publikum auch bei Ryoji Ikedas „test pattern“, das der japanische Klang- und Videokünstler seit 2008 in verschiedenen Fassungen realisiert hat. Seine jüngste „100m version“ in der Duis­burger Kraftzentrale entwickelte sich zu einem Publikumsmagneten. Per Computerprogramm wurden Texte, Klänge, Photos und Filme in Barcode-Muster übersetzt, deren binäre Schwarz-Weiß-Streifen in unterschiedlicher Dichte und Geschwindigkeit von Beamern auf eine zehn mal hundert Meter lange Boden-Bildfläche projiziert wurden, die von den Besuchern betreten werden konnte. Zen­tral für Ikedas Arbeiten ist der Begriff der „Immersion“, also das Eintauchen in eine virtuelle Welt, die eigenen Gesetzen folgt und die Wahrnehmung in einer Weise mit Reizen überflutet, die den Besucher zwingt, sich neu zu orientieren. Während der flimmernde Un­tergrund den normalerweise festen Boden gewohnten Bewegungs- und Gleichgewichtssinn störte, unterlief knisternde Noise-Elektronik mit lauten Sinustönen und Knackimpulsen die auditive Orientierung im Raum. Eben solche Angriffe auf gewohnte Wahrnehmungsmechanismen bei gleichzeitigen Angeboten zu neuem Sehen und Hören machen Heiner Goebbels künstlerische Leitung der Ruhrtriennale aus, und schon jetzt darf man auf seinen letzten Festivaljahrgang gespannt sein.

Nach der Uraufführung in Hamburg 1997 sowie Produktionen in Stuttgart, Wien und Berlin war Robert Wilsons Inszenierung von Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in der Jahrhunderthalle Bochum nun die fünfte szenische Umsetzung dieses herausragenden Musiktheaterwerks. Mit den ihr bereits innewohnenden Winterbildern, Wärmephantasien und aufbrennenden Schwefelhölzchen stellte diese „Musik mit Bildern“ auch Wilson vor die grundsätzliche Frage nach dem Sinn und Zweck seines Tuns. Wo sich schon tonlose Bogenstriche wie Pulverschnee über den Saal legen und sonst seelenvoll warme Geigen mit einer Eiseskälte klirren – was sollen da noch Regie und Bühnenbild? Erschwerend kommt hinzu, dass Lachenmann die einzige Partie des Mädchens nicht als Bühnenrolle angelegt hat, sondern mit zwei Sopranen ins Orchester stellt (wie 2012 an der Deutschen Oper Berlin mit wunderbarer Klarheit gesungen von Hulkar Sabirova und Yuko Kakuta).

Das Publikum saß auf vier Rängen um eine quadratische Zentralbühne wie in einem teatro anatomico, wo es von ChorWerk Ruhr und hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Emilio Pomàrico mit eben jenen „meteorologischen Situationen“ um­geben wurde, die Lachenmanns Szenen verlangen. Der konzentrierte Naturalismus ging dabei so weit, dass sich das Prasseln eines plötzlich auf das Glasdach der Halle niedergehenden Regens wie selbstverständlich einfügte. Im „Boxring“ selbst schuf Wilson mit der für seinen Stil typischen Farb- und Lichtregie eindrückliche Bilder von großer Schönheit. Als das Mädchen nach prächtiger Himmelfahrt „bei Gott“ ist, bricht mit der rot gewandeten Shô-Spielerin Mayumi Miyata plötzlich leuchtende Farbe in die sterile Schwarz-Weiß-Welt, und man sieht anstelle der Schauspielerin Angela Winkler ein junges Mädchen auf einer vom Schnürboden herunterreichenden Schau­kel sitzen. Die irreale Szenerie changiert zwischen naivem Kinderhimmel und ab­strakter Jenseitsvorstellung. Und wenn am Ende das Mädchen wie aufgebahrt auf der Bühne liegt, bleibt der stumme Hilferuf seines bis zuletzt ausgestreckten Arms ebenso unerhört wie die letzten Klopfzeichen erstickter Klavieranschläge im Orchester.

Doch so wie in der Riesenhalle alle Klänge durch Lautsprecherverstärkung ihre eigentliche Tiefe im Raum verloren, blieben auch viele szenische Effekte oberflächlich, redundant, unverbindlich illus­trativ oder abstrakt symbolisch. Dass die leuchtende Demarkationslinie um die quadratische Bühne plötzlich auf das Geviert der Publikumsränge übersprang, ließ sich vielleicht als Ausweitung des „Wintermärchens“ auf die reale Eiskammer der Gesellschaft deuten, doch wurde diese Lesart nicht weiter verfolgt, auch nicht beim Verlesen des Briefs von Gu­drun Ensslin. Den schwächsten Part der zeremoniell als „Der Tod und das Mädchen“ gestalteten Inszenierung übernahm der Regisseur selbst. In schwarzem Anzug mit funkelnden Pailletten erschien Wilson wie die Königin der Nacht aus einer anderen Oper, um wie ein magischer Puppenspieler mit beschwörenden Gesten nach dem puppenhaft über die Bühne tastenden und mit Trippelschrittchen künstlich infantilisierten Mäd­chen zu greifen. Als eitel-manierierter Ge­vatter Tod zwang der bleich geschminkte Regisseur sein Opfer zu einem letzten Tanz, mit dem er zugleich ratlos eingestand, dass der Regie-Reigen um Lachenmanns „Mädchen“ noch längst nicht zu Ende ist.

Mit Partchs „Delusion of the Fury“ verwandt erwies sich Heiner Goebbels’ „Stifters Dinge“, denn auch hier sind die In­strumente zugleich Protagonisten, Requisiten und Kulisse in einem. Der Komponist selbst nennt sein Stück ein „Klavierstück für fünf Klaviere ohne Pianisten, ein Theaterstück ohne Schauspieler, eine Performance ohne Performer“. Die In­strumente werden mittels Robotertechnik bespielt und je nach Einsatz punktgenau beleuchtet, so dass sich stets beobachten lässt, wann und wo etwas geschieht. Mal versetzen pneumatisch zuschlagende Klap­pen große Röhren in dumpfes Dröhnen, mal streichen mechanische Gelenke in das nach außen gekehrte Klavierinnere oder fahren auf Schienen gleitende Stifte über die Saiten. Computergesteuert setzt sich das klirrende, rasselnde, trommelnde, zischende und auch dampfende Orchestrion wie von Zauberhand in Gang. Und wie die Instrumente sprechen auch die Elemente Wasser, Luft und Licht für sich, indem sie sich bei aller scheinbaren Einfachheit zu sagenhafter Vielgestaltigkeit verbinden. Spiegelnden Wasserflächen zaubern zartes Licht- und Wellenspiel. Später fällt Regen, wabern Nebel und blubbern Sumpfblasen.

Die „Performance“ huldigt dem Staunen Adalbert Stifters, das dieser in seinen Erzählungen der Natur entgegenbrachte. Goebbels selbst versteht den Respekt des österreichischen Dichters vor Landschaft und unbelebten Dingen als ein Plädoyer für die Bereitschaft, neben den eigenen Urteilen auch die Kategorien anderer In­stanzen zuzulassen, derer wir nicht Herr sind. Unmittelbar sinnfällig machen dies zwei Selbstspielklaviere, deren Akkorde und Läufe sich zu einem abenteuerlichen Geschwindigkeitsrausch verdichten, den kein Pianist aus Fleisch und Blut jemals zu spielen in der Lage wäre. Im Wechsel mit Zuspielungen von musikethnologischen Aufnahmen sowie von Texten Stifters und Stellungnahmen von Claude Lévi-Strauss und William S. Burroughs neigt Goebbels’ Musik zu Repetitionen und Ostinatoschleifen. So dreht sich auf der Stelle, was wie die „Dinge“ eigentlich auratische Einzigartigkeit ausstrahlen sollte. Am Ende hinterlässt die raumgreifende Apparatur aus Instrumenten, Lautsprechern, Scheinwerfern, Motoren, Propellern, Videoprojektionen, Wasserbecken und Leinwänden den Eindruck einer künstlichen Natur aus zweiter oder dritter Hand, die vor allem für das Erleben der Schönheit der Dinge draußen plädiert. Und wirklich ließ sich anschließend im Freien der aus nebligen Emscher-Wiesen steigende Mond mit Stifter bestaunen: „Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute.“