MusikTexte 140 – Februar 2014, 93

Teile und doch ein Ganzes

Ersteinspielung von Georg Krölls „Tagebuch“ für Klavier

von Rainer Nonnenmann

Gleich das erste Stück dieser Doppel-CD besticht durch seinen mehrfachen Dialog zwischen höchstem und tiefstem Register sowie zwischen normal angeschlagenen Klaviertasten und gezupften Klängen im Innenklavier. Den einfachen Mitteln von Georg Krölls verdichteter Tonsprache korrespondiert die Kürze der Klavierstücke in seinem „Tagebuch“. Mit zweieinhalb Minuten Dauer gehört das erste zu den längsten. Andere dauern nur wenige Sekunden, etwa das abrupte, exklamative „Ha!“ oder die rätselhaft impulsive Nummer 10 „Ohne Titel“.

Jedem Charakterstück dieser bereits Ende der siebziger Jahre begonnenen und bis heute Stück um Stück als „Work in progress“ fortgeschriebenen Sammlung legt der 1934 geborene Kölner Komponist und langjährige Lehrer an der Rheinischen Musikschule eine bestimmte spieltechnische, klangliche und rhythmische Idee zugrunde: einfache Repetitionen, Läufe, Wechselnoten, Melodien, Akkorde, Stakkati, Legatobögen oder wie im kaum zwanzig Sekunden dauernden „Schuhplattler“ den klatschenden, perkussiv-schlagenden Zugriff auf das Klavier. Dank der ebenso einfühlsamen wie zupackenden Interpretation und konge­nialen Ersteinspielung durch den Düsseldorfer Pianisten Udo Falkner entfaltet die gestische Prägnanz und auf den Punkt gebrachte pianistische Virtuosität von Krölls Klavierstücken ihre unmittelbare Wirkung. Falkner bringt die musikalische Substanz dieser hundertvierundzwanzig Miniaturen – inzwischen sind etliche weitere hinzugekommen – zum Leuchten, etwa die springende Melodie der swingenden Nummer 55 „Viertel = 116“, die aus der Höhe in den Bass wandert, um sich schließlich in wie dumpfe Trommelschläge tönende Cluster aufzulösen.

Lässt sich die Lyrik dieser Bagatellen – die seit Beethovens späten „Bagatellen“ Verdichtungen statt Nichtigkeiten meinen – von jedem Hörer intuitiv erfassen, richtet sich ihr musikhistorischer Beziehungszauber dagegen mehr an Kenner und im Repertoire gut bewanderte Liebhaber. Viele Stücke spielen auf Musik anderer Komponisten aus Geschichte und Gegenwart an. Nummer 11 etwa huldigt der modalen Harmonik des französischen Katholiken Olivier Messiaen, indem der Pianisten zwischen entsprechenden Akkorden die Messverse „gloria in excelsis deo et in terra pax hominibus“ flüstert. In der „Hommage à L. v. B.“ greift Kröll das erste Thema von Beethovens „Großer Fuge“ auf und in „Vorwärts“ überlagert er Brecht/Eislers berühmtes „Solidaritätslied“ mit dissonanten Clustern. Ferner zitiert beziehungsweise erinnert werden Krölls einstige Kompositionslehrer an der Kölner Musikhochschule Frank Martin und Bernd Alois Zimmermann sowie wei­tere Komponisten von Dufay aus dem vierzehnten Jahrhundert über Frescobaldi und Mozart bis zu den geschätzten Zeitgenossen Feldman, Lachenmann, Zender, Ter­zakis, Klaus Huber und Rolf Riehm.

Neben Hommagen an Freunde, Rundfunkredakteure (Wilfried Brennecke) und Musikwissenschaftler (Peter Becker) sind auch zwei Widmungen an György Kurtág hervorzuheben. Mit dessen anspielungsreich sprechender Musik ist Krölls Schaffen tatsächlich ebenso seelenverwandt wie mit den frühen Fragmentwerken „Papillons“ oder „Carnaval“ von Robert Schumann. Sind diese romantischen Porträt- und Charakterstücke durch kurze Tonkonstellationen zu regelrechten Zyklen verknüpft, s0 basieren auch alle Stücke von Krölls „Tagebuch“ auf einer der insgesamt fünfhundertfünf möglichen Ableitungen der Zwölftonreihe der „Suite“ für Klavier opus 25 von Arnold Schönberg, dem denn auch mit einer „Parodia ad A. Sch.“ gehuldigt wird. Dank dieser Reihenkonstruktion ist es möglich, aus dieser über die Jahre angewachsenen und weiter anwachsenden Sammlung auch beliebige Auswahlen an Stücken aufzuführen, die allerdings in ihren Ordnungszahlen ansteigen sollen, so dass sich aus dem Gesamtzyklus nahezu beliebig viele Teilzyklen bilden lassen, die sich ebenfalls als stimmige Einheiten wahrnehmen lassen. Falkners Auswahl von hundertvierundzwanzig Stücken aus Krölls bis zum Jahr der Einspielung 2012 fertiggestellten zweihundertfünfzig „Ta­ge­buch“-Einträgen wirkt so schlüssig, dass viele Nummern ohne jeglichen Bruch attacca ineinander übergehen, obwohl sie in sich abgeschlossen sind und numerisch nicht aufeinanderfolgen: Teile und doch ein Ganzes – hier wird’s Ereignis!

Georg Kröll: „Tagebuch für Klavier“, Ersteinspielung durch Udo Falkner, zwei Compact Discs, TLS 119, Neuhausen: telos music, 2012.