MusikTexte 141 – Mai 2014, 117–118

Neue Apps für alte Hardware

Schwerpunkt „Mensch/Maschine“ beim Kölner Festival Acht Brücken

von Rainer Nonnenmann

Zwischen den Faustkeilen des Neandertalers und heutigen Technologieparks großer Industriekomplexe liegen Welten. Und doch verbindet beide die anthropologische Konstante des Gebrauchs von immer effizienteren Werkzeugen und Maschinen. Insofern bildete der Homo technicus mit den zur Kompensation seiner limitierten körperlichen und geistigen Fähigkeiten entwickelten Geräten immer schon eine Einheit. Entsprechend häufig steht das Thema Mensch/Maschine auf der Tagesordnung des allgemeinen Diskurses sowie – gleich nach dem Thema Sprache und Musik – bei Konzertreihen und Musikfestivals, wie jetzt bei „Acht Brücken – Musik für Köln“. Wer deswegen jedoch meint, gelangweilt abwinken zu können, ignoriert das Tempo und den Einfluss der technologischen und zumal digitalen Entwicklungen der letzten Jahre auf nahezu alle Arbeits- und Lebensbereiche. Auch wenn dem Begriff das Schmieröl des mechanischen Zeitalters anhaftet: Heute werden Maschinen nicht mehr mit Dampf betrieben, sondern mit Bits und Bytes. An die Stelle von Zahnrädern und Treibriemen sind Prozessoren mit verschiedensten Interfaces und Applications getreten, die immer andere Schnittstellen im erweiterten Komplex Mensch/Maschine/Musik ermöglichen.

Gleichwohl huldigte die vierte Ausgabe von Acht Brücken auch dem Genius loci einstigen maschinellen Fortschritts vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. In Köln-Deutz wurde schließlich der Otto-Motor erfunden. Doch in den brachliegenden Werkshallen des ehemaligen Weltkonzerns Klöckner-Humboldt-Deutz ist der Takt schwerer Pressen, Drehmaschinen, Stanzen, Gas- und Dieselmotoren längst anderem Leben gewichen. In den verlassen Sälen, Gängen, Höfen keimen heute Moose, Farne und einige Blüten der Freien Szene. Schon länger werden dort „Gebäude 9“ und „raum13“ als Spielstätten für Tanz, Theater und Musik genutzt. Nun bespielte das Nachfolgefestival der einstigen MusikTriennale Köln erstmals auch die unweit von einem Hotel als Veranstaltungsraum genutzte Halle „Dock one“. Widmeten sich die Konzerte in der Kölner Philharmonie vor allem dem dieses Jahr porträtierten Komponisten György Ligeti, so waren hier verschiedene Konzerte zum Thema Mensch/Maschine zu erleben.

Hochenergetisch agierte das 2011 gegründete junge Kölner Kammerensemble „hand werk“ in Sergej Maingardts „Smog“. Im Outfit der einstigen Computerpop-Pioniere von „Kraftwerk“ tastete man mit maschinenhafter Steifheit elek­tromagnetische Felder von Computern, Tastaturen und Mäusen mittels Induk­tionsspulen ab, um diese als massives Rauschen, Sirren, Brummen hörbar zu machen. Erst solche technischen Interventionen machen den Elektro-Smog und die schleichenden Verwachsungen des Menschen mit seinen alltäglich genutzten Werkzeugen wieder erlebbar. Selber zu einem Teil des Instrumentariums wurden die „hand werker“ bei Masahiro Miwas „Four Bits Counters“, wo sie sich verschieden klingende Kunststoff-Röhren gegen die Schädel zu klopfen hatten.

Beim Konzert des e-mex-Ensembles spielte in Christoph Maria Wagners „Audiodrome“ eine Solovioline zu Lautsprecherwiedergaben von Klavierklängen, deren Dichte, Geschwindigkeit und räumliche Bewegung die Möglichkeiten eines menschlichen Pianisten bei Weitem überstiegen. Doch technifizierte Leistungssteigerung ist nicht alles. Denn alle digitale Elektronik ließ die Geige mit ihrem beseelten Analogklang umso eindrücklicher hervortreten. Das Trio „e[K]lektik“ ließ schließlich mit Elektronik der Marke „do it yourself“ auch das Publikum krachende Sounds und Samples über Interfaces wie Klaviatur, Drumpad, Schalter und Sensoren abspielen.

Im Konzert des Ensembles Mosaik durften alle Apparate und Prothesen mehr oder minder frei von der Leine gelassen selber laufen. So selbstverständlich heutzutage jeder seine Hardware mit neuen Apps nachrüstet, bauen auch Komponisten ihr altbekanntes Instrumentarium zu neuen Hybriden um, selbst wenn dabei mancher Ansatz hinsichtlich Material, Struktur und Form simpel und wenig profiliert bleibt. Wolfgang Heiniger ließ fünf automatische Trommeln tele­taktil von einem Keyboarder steuern und der für seine Präparationen bekannte Eduardo Moguillansky katapultierte das klassische Streichtrio ins knisternde Digitalzeitalter, indem er die Spieler auf ihren Instrumenten statt der vertrauten Klänge völlig anders geartete Elektronik abrufen ließ. Statt selber zu klingen, dienten Geige, Bratsche und Vio­loncello nur noch als nostalgische Schaltpulte zur Steuerung ihnen fremder Sound Pools. Und während Marianthi Papalexandri-Alexandri in seinem „Operator“ Saiten- und Schlaginstrumente mit motorbetriebenen Rotationsschreiben traktierte und Orm Finnendahl einen zum Roboter umgebauten Teddybären wie einen Dirigenten fuchteln ließ, verpasste Alexander Schuberts „Point Ones“ dem Dirigenten Bewegungssensoren, die dessen Gebärden auf unberechenbare Weise in Klang übersetzten. Sonst einziger stummer Musiker im Kreis der Spieler, mutierte der „erweiterte Dirigent“ dadurch plötzlich selber zur Musikmaschine. Der schlaksige Enno Poppe gestikulierte dabei so wild und marionettenhaft, dass offen blieb, ob er selber die Klänge steuerte oder vielmehr umgekehrt wie unter Starkstrom zum Zucken, Zappeln und Um-sich-Schlagen gebracht wurde: Der Mensch denkt, die Maschine lenkt.

Die in anonymen Wohnwaben isolierte einsame Masse vor flimmernden Bildschirmen und Homecomputern thematisierte Georges Aperghis in seinem einstündigen Musiktheaterwerk „Luna Park“. Im Schaffen des seit Langem auf die Beziehungen von Musik und Sprache konzentrierten griechisch-französischen Komponisten war eine Auseinandersetzung mit den Chancen und Deformationen der modernen Medien- und Kommunika­tionsgesellschaft nur eine Frage der Zeit. Das 2011 in Paris uraufgeführte Stück ist eine teils witzige, teils erschütternde Tragikomödie auf die bunte Welt der neuen Medien. Vier Mitwirkende agieren zugleich als Musiker, Sprecher und Schauspieler jeder für sich in metallischen Gitterkäfigen, verschaltet mit Bewegungssensoren, Videokameras und Bildschirmen, in denen sich jeder zunächst einmal selber betrachtet. Außerhalb der Zellen setzen sich die Medien auf halbdurchsichtigen Projektionsflächen krakenhaft vor und hinter den Protagonisten fort, bis schließlich der gesamte Bühnenhintergrund als nächtliches Videotableau einer von Lichtströmen durchpulsten Großstadt erscheint. Innen und Außen, Wirklichkeit und Illusion verschmelzen. Live Gesprochenes und von den beiden Flötisten Eva Furrer und Michael Schmidt live Gespieltes durchdringt sich mit zugespielten Instrumental- und Sprachklängen bis zur Ununterscheidbarkeit. Kopie und Ori­ginal, Fiktion und Realität, Absenz und Präsenz verklumpen zum Simulakrum.

Sämtliche Interaktionen zwischen den Darstellern erfolgen medial vermittelt. Indem auf den Projektionsflächen des einen plötzlich das Gesicht eines anderen erscheint, vermag eine reale Person mit dem medialen Schatten der anderen zu spielen. Der im Video vergrößerte Kopf des Schauspielers und Schlagzeugers Richard Dubelski wird so von den Händen der Tänzerin Johanne Saunier sanft hin und her gewiegt oder durch Hochziehen der Mundwinkel zum Grinsen gebracht. Dann erscheinen plötzlich alle vier Gesichter auf derselben Leinwand, um sich einander zuzuwenden, obwohl realiter jeder getrennt für sich in seinem Homeoffice verharrt. Einmal werden zwei Gesichtshälften mittig so aneinander geschnitten, dass die Augen zweier verschiedener Menschen wie bei einem Chamäleon gespenstisch in alle Richtungen gleichzeitig rollen: Der Homo digitalensis als Monstrum. Auch sonst spielt Aperghis mit zivilisatorischen Defekten, mit Sprachlosigkeit, mechanischem Sprachzwang, nervösem Zittern, wirrem Gestikulieren. Durch Montagen und Überblendungen mehrerer Gesichter schafft er dank Ircam-Technologie und seines langjährigen Mitarbeiters, des Bühnenbildners und Videokünstlers Daniel Lévy, androgyne Chimären. Durch Videofeedbacks geraten die medialen Doppelgänger sogar miteinander in Handgreiflichkeiten. Die technischen Reproduktionen werden übergriffig, tentakeln wild um sich und gewinnen ein Eigenleben, das sich vor die erstarrten Menschen schiebt, die vor leuchtenden Videobildern zu schwarzen Scherenschnitten verflachen. Gegen Ende zeigen alle Projektionsflächen Photos von Überwachungskameras, deren Objektive sich aufdringlich ins Publikum recken. Angesichts von Konzernen wie Google, Facebook oder Twitter, die gegenwärtig jeden Internetnutzer als gläsernen Konsumenten und Datenstoff für Geheimdienste durchleuchten, ohne selber in Erscheinung zu treten, wirkte dieses Schlussbild fast wie aus guter alter Zeit, als man noch merken konnte, wann, wo und wie man überwacht wurde. Und dennoch trifft Aperghis den Nerv beziehungsweise Schaltkreis unserer Zeit: „Luna Park“ zeigt uns den grenzenlosen Freizeitpark des World Wide Web als Käfig.

Völlig deplaziert waren indes beim Ligeti-Schwerpunkt – dessen Œuvre erhellende Anknüpfungspunkte zu den Themen Maschine, Takt und Puls bietet – die Videoprojektionen des Duos Nick und Clemens Prokop im Konzert der Bamberger Symphoniker unter Leitung von Jonathan Nott. Wie kann ausgerechnet ein Konzertveranstalter der Ausdruckskraft von Musik derart misstrauen, dass er diese unbedingt bebildern zu müssen meint und damit einen so ausgezeichneten Hör-Ort wie die Kölner Philharmonie mutwillig verstopft? Ein zentrales Konzert des Ligeti-Porträts wurde so regelrecht zur Implosion gebracht. Die Folge: hundertprozentiger Spannungsverlust! Zu „Apparitions“ zeigte man Bilder von Tropfsteinhöhlen und Schneeflocken. Zu „Clocks and Clouds“ versuchten wimmelnde Pünktchen und kreisende Geflechte immerhin etwas von den musikalischen Strukturen zu visualisieren. Bei „Lux aeternam“ – vom SWR-Vokalensemble wunderbar gesungen – war der Kopf eines Jungen zu sehen, der sich langsam von rechts nach links drehte. Wer will solch belangloses Zeug sehen, wenn er gekommen ist, um intensiv Musik zu hören? Ligetis phantastisch freie Musik wurde – vielleicht weil das Konzert live ins Internet „gestreamt“ wurde? – gewaltsam ins Konservendosen-Format von YouTube gezwängt, banalisiert und – schlimmer noch – vor lauter optischer Ablenkung kaum mehr wirklich gehört. Einen eindringlicher mahnenden Kontrapunkt zum sonst originellen und aktuellen Mediengebrauch hätte man nicht setzen können.