MusikTexte 141 – Mai 2014, 113–114

An- und Widersprüche

Das Stuttgarter Festival „Eclat“ im Zeichen der Zeit

von Rainer Nonnenmann

Schon immer konnten theoretischer Anspruch, musikalische Praxis und ästhetische Wirkung auseinanderklaffen. Doch statt solche Diskrepanzen als anmaßend oder inkonsistent zu kritisieren, scheinen diese gegenwärtig kaum jemanden mehr zu stören und sich zu einem regelrechten Trend auszuwachsen. Vor allem jüngere Komponisten versuchen – wie schon ihre Vorgänger in den sechziger und siebziger Jahren –, ihre Musik mit Hilfe von Texten, Videos, neuen Medien und Kommentaren inhaltlich aufzuladen. Doch der Gehalt der Werke bleibt so lange bloße Behauptung, wie er nichts mit den tatsächlich komponierten Materialen und Strukturen zu tun hat und sich ästhetischer Erfahrung entzieht. Warum dann überhaupt noch komponieren und nicht gleich Manifeste verfassen, wenn es auf Musik als Medium sensibler Welt- und Selbsterfahrung gar nicht mehr ankommt?

Beim Festival Neue Musik Stuttgart „Eclat“ zeigten teils hochspannende, teils mediokre Arbeiten diese Entwicklung seismographisch auf. Veranstaltet von Musik der Jahrhunderte in Kooperation mit dem SWR Stuttgart war im Februar an vier Tagen ein doppelter Übergang zu erleben. Neben von Hans-Peter Jahn als vormaligem künstlerischen Leiter noch in Auftrag gegebenen Werken verantwortete das Programm jetzt die neue „Doppel­spitze“ mit Björn Gottstein – Jahns Nachfolger als Redakteur für Neue Musik beim SWR Stuttgart – und der schon Jahn zur Seite gestandenen Christine Fischer – Intendantin der Stuttgarter Kooperative Musik der Jahrhunderte. Ausdrücklich zum Ziel gesetzt hat sich die neue Leitung einen Fokus auf der jüngeren Komponistengeneration sowie auf elektronischer Musik und Fragen zum Verhältnis von Musik und Gesellschaft.

Eröffnet wurde das gut besuchte Festival im Stuttgarter Theaterhaus mit einer videotechnisch reduzierten Wiederaufführung von Enno Poppes 2004 in Berlin uraufgeführtem „Interzone“. Die „Lieder und Bilder“ nach einem Text von Marcel Beyer thematisieren den Transitraum afrikanischer Auswanderer und Flüchtlinge im algerischen Tanger. Obwohl lediglich vier Projektionsflächen auf der Bühne zum Einsatz kamen – statt ursprünglich zwölf um das Publikum herum verteilter Video-Leinwände –, störten die überwiegend nachtschwarzen und unscharfen Großstadtbilder von Anne Quirynen dennoch die Wahrnehmung von Poppes Musik, ohne selbst Wesentliches zum Verständnis beizutragen. Das Berliner Ensemble Mosaik brachte unter Poppes Leitung ferner Christoph Ogiermanns „inner empire II/TOPIE“ zur Uraufführung – eine Fortsetzung des bei Eclat 2012 vorgestellten Vorgängerwerks. Als „MusikEssay“ betitelt handelte es sich eher um ein exaltiertes Ein-Mann-Dramolett für den theatererprobten Martin Nagy – Tenor der Neuen Vocalsolisten –, der stimmlich und gestisch nach Herzenslust durch alle Charaktere und Affekte zwischen schneidendem Befehlston und kläglichem Baby- und zahnlosem Greisen-Gewimmer toben durfte. Als am Ende auch das gesamte Ensemble aus vollen Kehlen brüllte, entfaltete dies zwar geballte Kraft, ließ jedoch Sinn und Zweck der Schrei­therapie offen.

Einen überlangen Nachmittag bis spät abends dauerte die „Video-Konzert-Instal­la­tion“ „Mediterranean Voices“. Während sonst fast nur deutsche oder in Deutschland lebende Komponisten auftraten, die schon in der Vergangenheit bei Eclat und anderen Festivals vertreten waren, kamen dabei fast ausschließlich hierzulande unbekannte Komponisten zu Wort. Doch die zwölf neuen Stücke von zwölf Komponisten aus zwölf verschiedenen Mittelmeer-Anliegerstaaten sperrten sich einer musikalischen Kartographie dieses Kulturraums. Statt künstlerischer Diversität aus drei Kontinenten erlebte man ein besetzungstechnisch monochrom und zäh sich dahinziehendes Neue-Vocalsolisten-Stuttgart-Vollbeschäftigungsprogramm samt inflationärer Entwertung aller Novitäten durch Serienuraufführung. Schwerer indes wog der Eindruck von Einheits-Neue-Musik. Natürlich braucht keine Nationalität so zu komponieren, wie das von der europäischen Kunstmusik gelangweilte Mitteleuropäer vielleicht gerne hätten, also bitteschön authentisch ethnisch, traditionell und vor allem irgendwie orientalisch. Dass aber die meisten Stücke keimfreie normale neue Musik waren, erschreckte dann doch etwas. Tatsächlich haben alle Komponisten in Europa studiert, hier ihren Lebensmittelpunkt gefunden und sich die erweiterten Techniken und Klanglichkeiten der westlichen Avantgarde in einem Maße zu Eigen gemacht, das offenbar keine andere Musik neben sich duldet.

Einzig der Ägypter Amr Okba ließ im Männergesang Koranrezitation, jüdischen Tehillim und koptische Liturgien anklingen, während die in die Saalecken gedrängten Frauenstimmen – eigentlich als Symbol des Himmels gedacht – unfreiwillig die periphere Rolle der Frau in diesen Weltreligionen versinnbildlichten. Der Libanese Zad Moultaka ließ den Bassisten Andreas Fischer samt Sprechchor ein ebenso leidenschaftliches wie ironisch-ulkiges Loblied auf die Kichererbsen-Spezialität Hummus singen, inklusive Rezitation von Rezepten und eines Vortrags über die angeblich aphrodisierende Wirkung der Speise. Nach Auskunft des Komponisten setzt sich das humorige Stück jedoch mit dem 1982 von Christen in Beirut verübten Massaker von Sabra und Schatila auseinander. Widersprüchlicher könnten Idee, Praxis und Wirkung kaum auseinanderfallen. Ohne krampfhaft vorgespielte Gehaltsästhetik atmete das Vokalquintett „Kelimeler“ der aus Izmir stammenden Zeynep Gedizlioglu allein durch präzise Entfaltung ausgewählter Stimmtechniken große Musikalität. Stellvertretend für den Dualismus von Sprache und Gesang ließ die einstige Rihm-Schülerin impulsive konsonantische Einwürfe auf vokalbasierte Liegeklänge und sanft gleitende Tonhöhen treffen. Doch als wären vier Vokalkonzerte hintereinander nicht schon genug, sollte das Publikum während der Pausen zudem zwölf Gesprächsporträts der Komponisten und hundertvierundvierzig Videoclips über deren Heimatländer von Daniel Kötter ansehen und dazu – um das Gezeigte überhaupt zu verstehen – noch in einem Katalog ebenso viele Kommentartexte studieren: rezeptive Überforderung durch Verschleudern von Ressourcen.

Mit Videos arbeiteten auch Jagoda ­Szmytka und Annesley Black. Zu lautstarken Ostinati des ensemble recherche zeigte die polnische Billone-, Furrer- und Rihm-Schülerin Sequenzen aus dem ersten Atari-Computerspiel sowie Bildschirmflimmern, ratternde Software­codes, bunte Farbschlieren und flackernde Pixel. Das illustrierte zweifellos die digitalisierte Lebens- und Arbeitswelt, blieb in solcher Unbestimmtheit jedoch rein ornamental und sinnfrei. Die kanadische Höller- und Spahlinger-Schülerin projizierte dagegen sämtliche Kalenderblätter von August bis Dezember 2013, des Zeitraums, in dem sie an ihrem Klavierstück „a piece that is a size …“ gearbeitet hatte, also hunderte Notizen zu Berufs-, Privat- und Familienangelegenheiten sowie Fragen und Überlegungen in der Art eines Arbeitstagebuchs. Black verdeutlichte damit die Kluft zwischen der mehrmonatigen Arbeitszeit und der viertelstündigen Dauer des Stücks. Mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Alltagsbruchstücken und den von Nicolas Hodges fabelhaft gespielten monotonen Kreisbewegungen und Cluster-Repetitionen ließen sich allerdings nicht feststellen. Doch immerhin demonstrierte die Parallelaktion ein Symptom der Zeit: Die Facebook-, Chatroom- und Twitter-Generation, die alles Gedachte, Gemachte, Gefühlte sofort postet, ohne zu fragen, ob dies jemand anderen interessiert, ist offenbar im Konzertsaal angekommen.

Die eindrücklichsten Neuheiten spielte das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Leitung von Johannes Kalitzke. Hannes Seidl komponierte sein bemerkenswert antisystemisches „Mehr als die Hälfte“ gezielt gegen den Orchesterapparat und dessen Farb- und Klangmöglichkeiten. Mit Hilfe eines im Freiburger Experimentalstudio entwickelten Filters tilgte er an den live-elektronischen Wiedergaben der Orchesterstimmen ausgerechnet diejenigen zehn Prozent der Daten, die das gängige MP3-Klangspei­cherformat bei der Wahrnehmung von Musik für essentiell hält, während die restlichen neunzig Prozent hörbar blieben, auf die das MP3-Format aus Gründen effizienter Datenreduktion sonst normalerweise verzichtet. Der Effekt war erschütternd: sichtbar verschiedene Instrumente klangen alle nur noch grau-in-grau. Der Uniformierung des Klangs korrespondierte die rhythmische Konformität zuckend repetierter Einsätze vom Solo bis zum Tutti, mit denen sich der 1977 in Bremen geborene Komponist den – noch der professionellen Aufführung anzumerkenden – Unwillen der Musiker zuzog. Laut Werkkommentar liegen den abgehackt aufeinander folgenden Akkorden unterschiedliche tonale Organisationsmodelle und sogar regelrechte Zitate zugrunde. Wegen der Kürze der Einsätze war dies jedoch ebenso wenig zu hören wie die vom Komponisten intendierte Ostentation der Gemachtheit und Verfügbarkeit der von ihm zitierten Stile. Unbemerkt blieb zunächst auch, dass synchron zu den Orchestereinsätzen Aufnahmen von Menschenstimmen zugespielt wurden, die sukzessive von leiser Caféhaus-Kulisse zu laut skandierenden und schließlich das gesamte Orchester überschreienden Massendemonstrationen anschwollen. Dass es sich um Tondokumente aktueller politischer Proteste in Madrid und Athen handelte, war ebenfalls nur dem Werkkommentar zu entnehmen. Wer indes auf die Lektüre des Programmhefts verzichtete, um Seidls Orchesterstück einfach „nur“ zu hören, konnte diese Komposition auch ganz anders verstehen: und zwar anlässlich der von SWR-Intendanz und Rundfunkrat beschlossenen Fusion des Stuttgarter Orchesters mit dem in Baden-Baden und Freiburg als ein anklagendes Trauerspiel über das Sterben eben dieser Orchester. Denn Seidl machte die Musiker mittels Samples so weit mundtot, dass sie zwischenzeitlich nur noch stumm dasaßen, um endlich aber in das finale Protestgeschrei einzustimmen.

Im Kontrast dazu wirkte José-María Sánchez-Verdús „Elogio del tránsito“ wie ein traditionelles Instrumentalkonzert, obwohl darin das solistische Kontrabasssaxophon zumindest optisch alle Dimensionen sprengte. Das zwei Meter hohe Rieseninstrument – mit Klappen groß wie Teller – ließ neben sich alles andere, so auch den Solisten Andrés Gomis Mora surreal schrumpften. Klanglich indes unterschieden sich die Slaps und Überblasungen auf diesem Instrument kaum von denen eines üblichen Basssaxo­phons. Doch die Impulse des monströsen Geräts wurden über Lautsprecher auf sechs um das Orchester verteilte Tamtams projiziert, wo sie sich zu energetisch fluktuierendem Dröhnen verwandelten. Dasselbe Prinzip hatte bereits Jay Schwartz in seiner „Music for Autosonic Gongs“ bei den Donaueschinger Musiktagen 2001 angewandt. In Schwartz’ jetzt uraufgeführtem vierten Orchesterwerk „Delta“ verzweigt sich ein initiales Unisono der Klarinetten zu minimalen Schwebungen, bis nach und nach der gesamte Apparat auf die schiefe Bahn ins Rutschen und Gleiten gerät. Schon seit Jahren arbeitet der in Köln lebende US-Amerikaner mit Glissandi, und dennoch entfaltet dieses elementare Material stets aufs Neue faszinierende harmonikale Spannungen und Sogwirkungen. Peter Gahn schließlich erhielt für „Nachtsicht II“ aus hundertzwölf eingereichten Partituren den Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart 2013. In Verbindung mit einer wenig originellen Textimpression von Frank Schablewski zeichnete er in seinem sinfonischen Hörspiel ein atmosphärisch dunkles Tableau einer Düsseldorfer Rheinbrücke bei Nacht mit geräuschhaft tappenden Streichern, tonlosen Bläsern, knallenden Bartók-Pizzikati, dunklen Pedaltönen und dumpfen Zuspielungen.

Das ausgezeichnete SWR-Vokalensemble sang die Uraufführung von Martin Schüttlers „MEUTEN (Imitat)“ auf einen Text von Carlfriedrich Claus, dessen Beschreibung des Mikropolitischen von Wörtern und Sprachklängen der Mitbegründer von „stock11“ und einstige Schüler von Nicolaus A. Huber in erweiterte Vokaltechniken zu übersetzen versuchte. Doch abgesehen davon, dass die Choristen als Individuen und Kollektiv zugleich agierten, blieb der politische Wirkungsanspruch des Stücks diffus. Glissandi überlagerten sich zu komplexen Massenstrukturen in der Art der Musik von Xenakis und vorgefertigte Aufnahmen der Sänger wurden per Keyboard zugespielt. Allerdings addierten sich die reproduzierten und live gesungenen Klänge mehr als dass sie sich mischten, denn von Anfang an kennzeichneten knisternde Lautsprecher und andere Verfremdungen die Zuspielungen als von den Körpern der Sänger medial abgespaltene Stimmkonserven.

Dem Widerspruch, das Publikum mehr sehen und lesen als hören zu lassen, entging Nikolaus Brass in „fallacies of hope“ dadurch, dass er einige Textpassagen aus Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ über die letzten Lebensstunden von Mitgliedern der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ vor deren Ermordung durch die Nazis nur während äußerst zurückgenommener statischer Passagen projizierte. Auch sonst blieb Brass’ „deutsches requiem“ – von einem Aufschrei abgesehen – durchweg verhalten. Plötzlich erfolgende Schläge auf den Brustkorb erschütterten daher umso eindrücklicher wie dumpfe Schüsse oder mahnende Sühnezeichen den Saal. Rein musikalisch zu überzeugen vermochte auch Hans Thomallas exzellent instrumentierter, leicht romantisch getönter „Wonderblock“, bei dem sich die Instrumente die Klänge leicht verändert weiterreichten. So wanderten Vibratovarianten vom Cello über Posaune und Vibraphon bis zu auf- und abgesetztem Dämpfer der Trompete, deren Töne ihrerseits auf dem Saitenchor des geöffneten Flügels resonierten. Im selben Konzert des bestens präparierten Ensemble ascolta unter Leitung von Jonathan Stockhammer spielte schließlich Séverine Ballon in deutscher Erstaufführung Rebecca Saunders’ eindrucksvolles Violoncello-Solo „Solitude“, bei dem auf der um eine Oktave tiefer gestimmten und folglich nur noch erschlafft brummenden, stöhnenden C-Saite gleichsam sprachhaft glissandiert wurde. Theoretischer Anspruch, musikalische Praxis und ästhetische Wirkung befanden sich hier in bestem Einvernehmen. Und doch fehlte etwas: vielleicht ein Moment des antisystemischen Ein- und Widerspruchs?