MusikTexte 141 – Mai 2014, 105–106

Transitraum zwischen Leben und Tod

Mark Andres „wunderzaichen“ an der Oper Stuttgart

von Rainer Nonnenmann

Menschen warten vor Abflugschaltern am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv. So weit, so normal. Doch das lebende Bild kippt plötzlich um und wird Musik. Denn die Menge beginnt mit Violinbögen auf durchsichtigen Plastikbechern zu streichen, welche die Fluggäste um die Hände gestülpt haben, sodass der Eindruck entsteht, ihre Körper seien selber Instrumente und das unsichtbare Schwingen symbolisiere womöglich ihre Seelen? Durch Synchronisation des Streichens verdichtet sich das atmosphärische Rauschen zu atmenden Pulsationen, die in den Orchestergraben hinabwandern, wo schließlich ein Schlag aufs Klavier rückwirkend die oben als Flugreisende aufgetretenen Choristen zum Singen bringt. Bühne und Graben stehen im Dialog als seien es Himmel und Erde. Das eine bedingt das andere. Doch ein gleißendes Klirren der sechs Schlagzeuger versucht die Alltagssituation in ein „metaphysisches Abenteuer“ zu lenken. Die zweite Szene zeigt indes nicht den Abflug in lichte Höhen, sondern führt ausgerechnet nach unten in die gedrungene Amtsstube der Grenzbehörde. Klang, Text und Szene spalten sich auf.

Mark Andres an der Oper Stuttgart uraufgeführtes Musiktheaterwerk „wunderzaichen“ erscheint fortan wie der „umgekehrte Krüppel“ aus Nietzsches „Zarathustra“. Das Programm dieser „Oper in vier Situationen“ ist eine Art reziproke Selbstbefruchtung: „Wer geschickt ist, zu hören, ist auch geschickt, zu glauben.“ Ganz Ohr und ins Jenseits sich streckender Geist bleiben die ätherischen Klänge und sakralen Gedanken jedoch ohne Körper, Fleisch und Leben. Wort und Ton werden getrennt, so dass beide verkümmern. Die Hauptpartie des aus Pforzheim stammenden Humanisten, Theologen und Hebraisten Johannes Reuchlin (1455–1522) wird von einem Schauspieler (André Jung) nur gesprochen. Dessen seelenvolle Muse in Gestalt der neutestamentlichen Maria Magdalena (Claudia Barain­sky) singt dagegen nur Vokalisen einzelner hebräischer Worte in durchweg hoher Lage. Der hörenden Versenkung in kontrastlos schwebende Klanggefilde widerstreitet die auf Verständlichkeit zielende Diskurslogik des gesprochenen Worts. Weil aber Gehalt und Material für sich genommen konfliktfrei bleiben, geraten sie auch miteinander in Widerspruch und lassen Anspruch und Wirklichkeit des Werks auseinanderklaffen. Ein „metaphysisches Abenteuer“ des Hörens, Sehens, Denkens und Fühlens findet nicht statt.

Das ablaufende Leben des mit einem Spenderherzen weiterexistierenden Israel-Pilgers Reuchlin erhält durch gelegentliche Pulsationen den Takt. Ansonsten dehnen sich unablässig Klangflächen an Klangflächen. Indem sich die Instrumente wahlweise in weiten Bögen überlagern oder durch abrupt abreißende Crescendi abwechseln, entstehen bei aller äußeren Statik immerhin im Inneren farbliche Umschichtungen und Fortschreibungen. Die Musik schwillt und schwillt, und kommt wegen ihrer weitgehend identischen Faktur dennoch nicht über die selbst gesetzten Schranken hinaus. Für Belebungen und Aufrauhungen der unterschiedlich dichten Orgelpunkte sorgen stellenweise Flautato- und Geräuschaktionen, Battuti, Perforationen sowie perkussive Aktionen auf und in Klavieren. Hinzu kommen in Logen um das Publikum herum plazierte Schlagzeuger und im letzten Teil Vokalstimmen aus olympischer Höhe. Doch bei aller Intensität des Staatsorchesters und Staatsopernchors Stuttgart unter Leitung von Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling will sich kein rechter Raumeffekt entfalten. Der Klang hat keine Tiefe, bleibt flach, uneindringlich und trotz mancher Opulenz ereignislos. Während fast zwei Stunden wirkt die Musik einförmig und lethargisch, als säße sie abwartend im Transitraum zwischen Leben und Tod, ohne die Schwelle vom Dies- zum Jenseits zu betreten. Und trotz allen Willens zu Sakralität und Transzendenz ist das Stück am Schluss plötzlich erschreckend profan einfach aus und vorbei.

Faszinierend sind indes über Lautsprecher kreisende live-elektronische Transformationen und Zuspielungen, in denen der Einfluss des Spätwerks von Lui­gi Nono weit mehr durchklingt als der von Andres einstigem Lehrer Helmut Lachenmann. Auf einer Pilgerreise nach Israel 2011 machte Andre mit Joachim Haas vom Experimentalstudio des SWR Aufnahmen an heiligen Stätten, in der Hoffnung, dort auch nach zweitausend Jahren noch etwas von den damaligen Geschehnissen erhorchen zu können: Grabeskirche und Klagemauer in Jerusalem, Synagoge in Kapernaum, See Genezareth, Totes Meer und Wüste. Wie schon in anderen Werken kombinierte Andre die spezifische Akustik dieser Orte dann mit live gespielten Klängen. Dank solcher „Faltungen“ fliegen etwa dumpfe Herzschläge oder impulsive Akkorde, Cluster und Tonfolgen der beiden Flügel irreal durch völlig andere Sphären. Die transformierten Klänge lassen ihre irdische akustische Hülle fallen, um auratisch neu geladen dem bekennenden Christen Mark Andre einmal mehr als Symbole für Transsubstantiation, Übergang, Tod und Verklärung zu dienen.

Das Libretto verfasste der Komponist zusammen mit dem Stuttgarter Dramaturgen Patrick Hahn. Unter Verwendung ausgewählter Worte von Reuchlin, Jean-Luc Nancy, Peter Nadas sowie der Bibel und jüdischer Mystik stockt der Text immer wieder in langen Aufzählungen: von Fragepartikeln, Zahlen, Speisen, Zutaten, Wörtern mit der Vorsilbe „Trans“, Namen von (Erz)Engeln und Sternen sowie hebräischen Begriffen, wahlweise versehen mit weiteren Zahlen oder Übersetzungen aus Reuchlins hebräisch-deutschem Wörterbuch. Als handle es sich um Lob- und Preishymnen aus Stock­hausens „Sonntag“ besteht ein Fünftel des Librettos aus solchen Listen. Diese stammen zum Teil aus der jüdischen Mystik, bleiben aber für Außenstehende weitgehend sinnfrei. Denn wer ist schon Kabbalist oder könnte und wollte das werden – und sei es nur für die Dauer einer „Oper“? Uneingeweihten verstummen alle heiligen Worte, so lange der Glaube an deren Kraft sich mit sich selbst begnügt, statt mit den Mitteln von Literatur, Musik, Bild und Szene zu versuchen, die in diesen wundertätigen Silben verborgene Sehnsucht nach göttlicher Erlösung und Heiligung der Welt auch für Laien und Ungläubige erfahrbar zu machen. Dass Mark Andres existentielle Suche nach den letzten Dingen jetzt ausgerechnet von Rezensenten gepriesen wird, die Stockhausens „Licht“-Kosmogonie als esoterisch und eklektizistisch abtun, macht stutzig: Warum dort so skeptisch, nun aber so fromm und parsifallesk?

Immerhin thematisiert das Libretto selber die Unfassbarkeit des Göttlichen, Numinosen, Rätselhaften. Einen roten Faden bildet die Unverständlichkeit und Fremdheit des schwäbischen Renaissance-Universalgelehrten gegenüber seiner Umwelt. Ausgerechnet er, der mit seinen Forschungen die Grenzen zwischen Christentum und Judentum zu überwinden suchte, scheitert beim Versuch, ins Heilige Land einzureisen an der Frage, wer er sei. Um eine klare Antwort verlegen, sprudeln aus ihm dafür umso lebhafter verschiedenste Philosopheme und Gleichnisse. Inmitten wartender Reisender und beim Polizeiverhör räsoniert er über Gott und die Welt. Er stellt seine Gedanken wie erratische Blöcke einfach hin, so dass sie den übrigen Bühnen­fi­gu­ren ebenso kryptisch bleiben wie dem Publikum. Doppelt befremdlich wirkt dann die banale Frage „Hätten Sie Lust, mit mir Essen zu gehen?“ Sie motiviert zwar pragmatisch den Szenenwechsel zur dritten, in einem Restaurant spielenden „Station“, stellt ansonsten aber einen ähnlichen Stilbruch dar wie gegen Ende der Ausspruch „Es kommt wahrscheinlich nichts Neues mehr“. Das wirkt selbstironisch, weil Szene und Musik während der letzten vierzig Minuten tatsächlich wie gelähmt erscheinen. Doch was soll plötzlich diese unvermutete Brechung nach all dem metaphysischen Suchen und Streben? Zumal es gleichzeitig immer geheimnisvoller zugeht: Einer der Polizisten erscheint nun als Gekreuzigter und der zuvor verstorbene Reuchlin wandelt wie einst Christus als Auferstandener umher, den die anderen weder sehen noch hören.

Andres erstes Bühnenwerk „… 22,13 …“ nach Versen aus der Offenbarung des Johannes – komponiert für die Münchener Biennale 2004 – kam ganz ohne Bühnenfiguren, Sologesang, Handlung und Szenenanweisungen aus. Gemessen daran wirkt sein zweites Musiktheaterwerk eher unfreiwillig opernhaft, als hätte der Stuttgarter Chefdramaturg Sergio Morabito den Komponisten unversehens auf das ihm wesensfremde Glatteis der Musikdramatik gelockt. Immerhin hatte Morabito den Komponisten auf Reuchlin hingewiesen und 2007 im Rahmen eines „Pilotprojekts“ bereits einige von Andres Instrumentalwerken mit Texten des schwäbischen Kabbalisten montiert. Doch obwohl Andre sein Stück selber als „Oper“ bezeichnet, trifft diese konventionelle Gattungsbezeichnung nicht. Schließlich fehlt auch hier die singend ausgetragene Dramatik verschiedener handelnder Personen. Die Inszenierung stellt dies vor große Herausforderungen. Hinzu kommt die unlösbare Aufgabe, ausgerechnet das Unsagbare, Unsichtbare, Unendliche ins Bild zu setzen. Daran gemessen musste Anna Vie­brocks Bühnenrealismus zwangsläufig vordergründig wirken. Und weil das monologisierende Libretto selber kaum Handlung aufweist, versuchte das Regie-Duo von Intendant Jossi Wieler und Morabito Interaktionen zwischen den Personen zu schaffen. Mit der Beschäftigung zusätzlicher Bühnenfiguren – Reisende, Wach- und Reinigungspersonal – in belanglosen Parallelaktionen tat man indes des Guten zu viel. Menschen als bewegtes Ornament bebilderten lediglich Äußerlichkeiten, statt an die existentiellen Fragen zu rühren: Woher kommen wir? Wer sind wir? Was können wir erkennen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?

Unter Wundern versteht man gemeinhin Zeichen von Gottes Wirken auf Erden. Sie ereignen sich, oder ereignen sich nicht, werden erkannt oder nicht. Laut Friedrich Schleiermacher kann Mirakulöses auch von Sehern, Dichtern und Künstlern ausgehen, die als wahre priesterliche Dolmetscher in der Nachfolge Christi zwischen der eingeschränkten Erdensphäre des Menschen und der göttlichen Vorsehung vermitteln. Den Versuch, im Wirken des historischen Johannes Reuchlin – immerhin benannt nach dem Lieblingsjünger Christi und dem Evangelisten – eben solchen Zeichencharakter zu entdecken, scheint Mark Andre unternommen zu haben. Doch am Ende seines mit einem Alpha „A“ als allen Anfangs Anfang betitelten „wunderzaichen“ bleiben vor allem Fragen und Zweifel. Damit werden gemäß dem „Evangelium nach Johannes“ gerade die Ungewissheit und das Suchen zur zentralen theologischen Botschaft seines Werks: „Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin, dahin könnt ihr nicht kommen“ (Johannes 7, 34).