MusikTexte 143 – November 2014, 82–83

Anwesende „Ästhetik der Abwesenheit“

Neues Musiktheater bei der letzten von Heiner Goebbels geleiteten Ruhrtriennale

von Rainer Nonnenmann

Aus dem Orchester knallen Tuttiakkorde ans gegenüberliegende Ende der hundertsechzig Meter langen Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord, von wo aus sie gefiltert als flatternde Echos zum Publikum zurück zittern, verhallen und gespannte Stille vor dem nächsten Schlag hinterlassen. Um das Riesenvolumen der ehemaligen Indus­triehalle zu füllen, muss das Ensemble Modern Orchestra unter Leitung von Peter Rundel trotz Verstärkung seine gesamte Energie aufbringen. Louis Andriessens „De Materie“ beginnt mit hundertvierundvierzig solchen Akkorden, die urknallartig Raum und Zeit des Stücks setzen und leitmotivisch das Thema „Geist und Materie“ exponieren. Wie Moleküle aus vielen Einzeltönen zusammengesetzt sind sie trotz ihrer Massivität nicht leblose Materie, sondern vom Geist des 1939 geborenen Niederländers durchdrungen. Die zweite Neuinszenierung seines 1989 in Amsterdam uraufgeführten Musikthea­terwerks eröffnete nun die letzte von Heiner Goebbels als Intendant geleitete Ausgabe des Mehrspartenfestival Ruhrtriennale, das seit 2001 Denkmäler der Industriekultur im Revier zwischen Duisburg, Essen und Bochum mit Tanz, Theater, Filmen, Installationen, Konzerten sowie besonders aufwendigen und raumgreifenden Musiktheaterproduktionen bespielt.

Nach seinen Inszenierungen von John Cages „Europeras“ 2012 und Harry Partchs „The Delusion of the Fury“ 2013 (siehe MT 135 und 139) präsentierte Goeb­bels nun ebenfalls in Eigenregie mit „De Materie“ ein weiteres Bühnenwerk, das seiner „Ästhetik der Abwesenheit“ nahekommt. Wie in seinen eigenen Kompositionen verfolgte er auch während seiner Amtszeit als künstlerischer Leiter und Re­gisseur das Ziel, vorwiegend Theater-, Tanz- und Musikprojekte zu präsentieren, die nicht nur etwas zeigen, sondern bei de­nen das Publikum selber etwas entdecken soll, und zwar möglichst voraussetzungslos und unmittelbar, weil die Andersheit der gebotenen Projekte jeden Bildungskanon und Erfahrungsvorsprung ins Leere laufen lässt. Drei Monate vor Beginn seines letzten Festivals erklärte Goebbels bei einer Vorstellung des Programms an der Kunsthochschule für Medien Köln: „Was mich interessiert, ist ein Theater, das auf den Akteur auf der Bühne, der sich an der Rampe das Hemd aufreißt und für uns als Identifikationsfigur dient, weitgehend verzichtet. Stattdessen ist die Rolle des Publikums wichtiger als das Bühnengeschehen mit all seinen Klängen, Körpern, Bildern und Texten.“

„De Materie“ inszenierte Goebbels als Theater der Elemente, das die Figuren in der weiten Leere des dunklen Raums winzig und vereinsamt erscheinen ließ. Scheinbar schutzlos den sie umgebenden Kräften ausgeliefert, überschreiten sie in Wirklichkeit jedoch die tote Materie kraft ihres Geistes und Gefühls: der niederländische Renaissance-Atomphysiker David Goorle (Robin Tritschler, Tenor) mit seinen Überlegungen zur Unteilbarkeit kleinstmöglicher Bausteine; die mittelalterliche Begine und Mystikerin Hadewjich (Evganiya Sotnikova, Sopran) durch ihre imaginäre eks­tatische Vereinigung mit Jesus Christus; die Nobelpreisträgerin Marie Curie (Catherine Milliken, Sprecherin) durch ihre Entdeckung der Radioaktivität und die liebende Erinnerung an ihren verstorbenen Mann; sowie der niederländische Maler Piet Mondrian mit seiner vergeistigten Kunst und zugleich unbändigen Leidenschaft für Boogie Woogie. Stellvertretend für Körper und Geist verbinden diese Figuren verschiedene Spielarten von Logik und Erfahrung, Spiritualität und Erotik, öffentlichem Ruhm und privater Trauer.

Andriessens Musik ist minimalistisch, doch nicht wie die hyperagil zuckenden Repetitionen der Minimal Music von Steve Reich oder Philip Glass. Eher gleichen ihre behutsamen Abwandlungen klar begrenzter Ton- und Akkordmaterialien der Musik Morton Feldmans, allerdings ins Kosmische monumentalisiert. Einen willkommenen Kontrast bildete in diesem knapp zweistündigen Werk ohne äußere Handlung der swingende Mon­drian-Teil. Als Entsprechung zu den abgezirkelten Linien, Flächen und Farben des Malers und den kreisenden Boogie-Woogie-Floskeln der Musik ließ Goebbels drei aus jeweils drei umeinander kreisenden Stangen bestehende Chaos-Pendel rotieren. Dazu bewegten sich aus weiter Ferne zwei Tänzer langsam zum Orchester, dessen Bigband-Herzstück ihnen zugleich auf einer Plattform entgegenfuhr. Mit Hilfe seines seit langem bewährten Regieteams (Bühnen- und Lichtbildner Klaus Grünberg und Kostümbildnerin Florence von Gerkan) gelangen Goebbels panoramaartige Tiefenbilder von großer technischer Brillanz und einer der Musik angemessen reduzierten Ereignisdichte. Dank perfekt ausgewogener Verbindungen von Sicht- und Hörbarem kreierte er mit präzisem Gespür für Raum-Zeit-Verhältnisse – nicht zuletzt dank ferngesteuerter Modell-Luftschiffe – ebenso nüchterne, wie poetisch vieldeutige Tableaus. Als Sinnbild existentiellen Ausgeliefert-Seins wanderten gegen Ende hundert Schafe erstaunlich ruhig und gelassen über die Bühne, instinktiv stets zusammen in der schützenden Herde. Nur die Menschen blieben jeder für sich.

Barney: „River of Fundament“

Der üblichen Einfühlung in Bühnen- oder Filmfiguren sperrte sich auch „River of Fundament“ des bildenden Künstlers Matthew Barney, vor allem infolge von Abstoßungseffekten jenseits der Ekelschwelle. Der „sinfonische Film“ – so die Gattungsbezeichnung – ist nach dem 2002 vollendeten „Cremaster Cycle“ die zweite Gemeinschaftsproduktion des 1967 in San Francisco geborenen New Yorker Künstlers mit dem heute in Berlin lebenden US-amerikanischen Komponisten Jonathan Bepler. Die Handlung folgt in Grundzügen dem im alten Ägypten spielenden Roman „Ancient Evenings“ des 2007 verstorbenen US-amerikanischen Autors Norman Mailer, der im Film selbst als Hauptfigur erscheint, um drei Wiedergeburten zu durchlaufen. Nach seiner Beerdigung sieht man in seiner Wohnung Hinterbliebene beim Leichenschmaus, unter die sich der Verstorbene mischt, der als halb verfaulte Gestalt einer schwarzen Kloake unter seinem Haus entsteigt. Um dann als „Norman II“ wiedergeboren zu werden, fährt der Wiedergänger erneut in den Tartarus, wo er einer ersoffenen Kuh sämtliche Innereien und ein totes Kalb entreißt, um selber in die entleerte Bauchhöhle zu schlüpfen und zu Beginn des zweiten Teils als Wiedergeborener wie wild den aufgeblähten Kadaver zu betrommeln. Unterdessen lässt sich die verstrichene Zeit in der Wohnung an verbliebenen Essensresten ablesen: Das zuvor servierte Spanferkel erscheint nun bis auf klägliche Reste verzehrt, später verschimmelt und von Mikroben überzogen, schließlich im dritten Teil von Maden durchwimmelt und endlich komplett skelettiert.

Barney bebildert seine Geschichte vom Werden und Vergehen mit Figuren und Symbolhandlungen der altägyptischen Mythologie vor apokalyptisch wirkenden Industriebrachen. Parallel zu den Wiedergeburten des Romanciers erzählt er auf einer a-personalen Parallelebene den Auf- und Untergang dreier Chrysler-Automodelle, die vom Stapel laufen, fahren, Unfälle erleiden, verschrottet oder versenkt, wieder geborgen, eingeschmolzen und vergoldet werden. Viele Film- und Tonaufnahmen entstanden bei Performances unter Mitwirkung von Laiendarstellern in Los Angeles, Detroit und New York an Orten wie Autohäusern, Kanälen, Hochöfen, Kläranlagen, Lastkähnen und – zum Showdown zweier rivalisieren­der Pharaonen – in einem Trockendock. Barney verwandelt diese Profanbauten zu archaischen Kultstätten, indem er sich hemmungslos bei verschiedenen Mythen, Religionen, Archetypen, Symbolismen und Happenings, bei Wiener Aktionismus und Eat Art bedient.

Barney beschrieb seine Vorgehensweise selber als parasitär: „Ich brauche für meine Arbeit einen Gastkörper, in dem ich vorübergehend leben kann.“ Mit geradezu exhibitionistischem Eklektizismus inszeniert er Exzesse aus Lust, Schmerz, Tod und Trauer, feiert obsessive Orgien aus Fleisch, Blut, Geschlechtern und anderen Körperöffnungen, bewegt Feuer, Wasser, Erde, Luft, beschwört Skarabäen, zelebriert Geier- und Schlangenrituale, huldigt Isis, Osiris und der Unterwelt stinkender Kotbrühen. Sechs Stunden lang mäandert sein „River of Fundament“ durch alle möglichen Windungen als unversiegbarer Fluss menschlicher Ex­kremente, denn aller Dinge Anfang und Ende ist Scheiße. Der bemühte Tiefsinn dieses brutal, ordinär und pervers durch Dreck und Kot watenden Passionsspiels schlägt jedoch immer wieder ganz undialektisch in Schwachsinn um, der den Betrachter – je nach Abgebrühtheit – in­stinktiv packt, schüttelt, ekelt, ihm aber letztlich kaum anderes vermittelt als die ins Unappetitliche gewendete alte Erkenntnis: Das Leben geht, nein, fließt weiter.

In der Essener Lichtburg – dem 1928 eröffneten größten Filmpalast Deutschlands mit 1250 Sitzplätzen in Parkett, Logen und Balkonen – unterstützte Jonathan Beplers Musik Barneys opernfilmhaften Versuch einer Re-Mythisierung der Welt nach Möglichkeit. Im Film allgegenwärtig zu sehen sind Musiker sowie verschiedene Arten der Hervorbringungen von Klang. Die Schauspieler agieren zugleich als Sänger und ihre Sprache verselbständigt sich immer wieder zu Gesang oder wilder Vokalakrobatik. Norman Mailers Witwe wird prominent von Joan La Barbara verkörpert. Ohne großformalen Zusammenhang der Episoden sieht und hört man ein Stahl-Gamben-Consort, in Wasser blubbernde Orgelpfeifen, Opern-Sänger, Brass Bands und Free-Jazz-Sessions. Wie bei Barneys Fäkalkosmos ist auch in Beplers Musik alles im Fluss, zwischen Blues- und Pow-Wow-Indianergesängen, Gospels, Latino-Folklore, Schlagern, Kinder- und Schlafliedern, repetitiver Minimal Music, Sprech- und Klatschchören. Hinzu kommen Bild- und Hörszenen mit summenden Atemmasken, perkussiv traktierten Metallträgern und sirrenden Stahlseilen: panta rei.

„Sacre“, „Neither, „Surrogate Cities“

Mögliche Identifikationen mit dem Bühnengeschehen unterlief auch Romeo Castellucci. Seine Choreographie von Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ brachte statt lebender Tänzer Knochenstaub in Bewegung, der durch Kippvorrichtungen und rotierende Düsen von der Decke fallend seine vergänglichen Pirouetten drehte. Das in der Landwirtschaft als Düngemittel eingesetzte Material sollte den Lebenskreislauf symbolisieren, wirkte jedoch weniger als Teil eines Fruchtbarkeitsritus aus dem heidnischen Russland denn vielmehr wie ein barock-katholisches Spektakel aus Schall und Rauch: Memento mori. Regie führte der italienische Theatermacher auch bei Morton Feldmans 1977 in Rom uraufgeführter Oper „Neither“, einem Paradebeispiel für Goebbels’ „Ästhetik der Abwesenheit“, denn das einstündige Werk kennt weder Szenenanweisungen noch handelnde Bühnenfiguren. Castellucci nahm den englischen Werktitel, zu Deutsch „Weder noch“, des lediglich siebenundachtzig Worte umfassenden Librettos von Samuel Beckett zum Ausgangspunkt für Bilder, die weder abstrakt noch konkret waren, weder expressiv noch ausdruckslos. Das Bühnengeschehen blieb damit ebenso ungreifbar wie Becketts kryptischer Text und Feldmans schwebende Musik. Für klangliche Schwebezustände sorgten insbesondere die wunderbar weich ein- und ausschwingenden Liegetöne der amerikanischen Sopranistin Laura Aikin sowie die unter Leitung von Emilio Pomàrico fein ausgehörten Akkordschichtungen der Duisburger Philharmoniker.

Der Aufführung voran stellte Castellucci eine pantomimische Demonstration des 1935 von Erwin Schrödinger angestellten Gedankenexperiments zur Erklärung der Quantenphysik. In einer entsprechend präparierten Kiste findet man beim Öffnen eine Katze entweder lebendig oder tot, so wie je nach Untersuchungsmethode ein Atomquantum entweder als Teilchen oder als Welle erscheint. Als sinnfälliges Pendant zu Feldmans selbstgesetzlich ablaufender Musik zeigte Castellucci zu Beginn ebenso selbsttätig sich bewegende Möbel. Anschließend übertrug er Schrödingers Modell ins Riesenhafte, indem er die Bochumer Jahrhunderthalle durch das Glasdach von außen mit Scheinwerfern auf das drinnen lebendige oder tote Musiktheater absuchte. Und endlich erschien Schrödingers Kiste auch auf menschliches Idealmaß reduziert, als einem obduzierten Brustkorb das entweder pochende oder wohl eher nicht mehr schlagende Herz entnommen wurde. Castellucci verwandelte auf diese Weise Beckett/Feldmans „Nei­ther“ zu einer jeweils anders dimensionierten Zwischenwelt des „Weder noch“, in die er zudem alptraumhafte Angstszenen blendete: ins Zimmer dringende Gangster, die Trennung eines Kinds von seiner Mutter, ein abgetrenntes Bein, und schließlich eine in quälender Zeitlupe auf das Publikum zufahrende Dampflokomotive.

Als Schlusspunkt dieser Ruhrtriennale 2014 inszenierte Goebbels seinen seit der Entstehung 1994 vielerorts aufgeführten Orchesterzyklus „Surrogate Cities“ mit zweihundert malenden und tanzenden Kindern und Jugendlichen der Region. Die ästhetische Anwesenheit seiner „Ästhetik der Abwesenheit“, mit der er dem Festival drei Jahre lang einen ebenso programmatischen wie ambitionierten Stempel aufdrückte und Maßstäbe verrückte, fand damit in der „Me­tropolregion Ruhr“ ihr Ende: Ab nächstem Jahr obliegt die Leitung dem niederländischen Theaterintendanten Johan Simons.