MusikTexte 144 – Februar 2015, 107–108

Erkenne dich selbst!

Die SWR-Reihe „attacca“ versucht „Eine Archäologie der Medien“

von Rainer Nonnenmann

Das Wort ist in aller Munde – und doch meint jeder etwas anderes. Längst sind „die Medien“ vierte Macht im Staat und unerträglich leichtflüchtiger Treibstoff unserer modernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft. Einst schwerfällig in Steintafeln gehauen und mühsam von Ort zu Ort geschleppt, transportiert sich heute jeglicher „Content“ in Sekundenschnelle per Knopfdruck mittels Bits und Bytes beliebig weit und oft wire­less über den Globus. Die Vergangenheit kannte viele Medien. Sie kamen und gingen. Einige halten sich bis heute. Die Gegenwart überschwemmen inzwischen so viele, dass sich mancher Medienwissenschaftler außerstande sieht, noch triftig zu benennen, was überhaupt ein Medium ist und was nicht. Sind auch Notenschrift, Partituren, Instrumente, Tonalität, mithin insgesamt Musik – wie manche behaupten – Medien?

Von solchen Fragen unbehelligt unternahm die jüngste Ausgabe der seit 2013 von Björn Gottstein redaktionell betreuten Konzertreihe „attacca“ für neue Musik des SWR Stuttgart kurzerhand „Eine Archäologie der Medien“. Um der retro­spektiven Schlagseite des Themas aufzuhelfen, erhielt das Konzert- und Performance-Wochenende im Stuttgarter Theaterhaus – um große Begriffe nicht verlegen – den Untertitel „Klangexperimente im 21. Jahrhundert“. Es galt, Ausgrabungen von Altem in die Gegenwart oder gar Zukunft umzulenken. Im Zen­trum standen zeitgenössische Auseinandersetzungen mit historischen Generierungs-, Aufnahme-, Speicher- und Wiedergabegeräten samt deren spezifischer Produktionstechnik, Klanglichkeit, Ästhetik und Aufführungspraxis. Doch genügt es nicht, ausrangierte Analog- oder Digital-Synthesizer der siebziger und frühen achtziger Jahre auszugraben, zu reparieren und neu zu bespielen. Nicht jeder Gang in die Rumpelkammer ist gleich eine Archäologie.

Den Auftakt machte die zwanzig Jahre alte Performance „Song for Everyone“ von Tomomi Adachi aus dem Jahr 1995. Acht Personen bewegen sich zu einer über Kopfhörer zugespielten Musik, während das Publikum nur das Tanzen und Mitgrölen der Akteure sieht und hört. In Verbindung mit dem hektischen Schallplattenwechseln und Scratchen eines Discjockeys ließ sich so immerhin vage auf die unhörbare Musik schließen. Obgleich nicht auf aktuellem technologischen Stand, beleuchtete dieses Hörbild dennoch treffend die Tragweite des Gebrauchs von Medien: Wir nutzen sie und werden zugleich von ihnen gesteuert; wir meinen zu agieren und reagieren doch nur; wir wähnen uns Individualisten und sind nur Teil einer einsamen Medienmasse.

In diese Richtung hätte es weitergehen können. Doch das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR bot anschließend mit „Memex“ von George Lewis bloß in­strumentale Orchestermusik, die sich allenfalls assoziativ auf die in den vierziger Jahren von Vannevar Bush entwickelte Idee eines „Memory Extender“ – Vorläufer des Internets als totalem Archiv – beziehen ließ. Lewis behandelte das Orchester als Speicher – Adornos Verständnis des musikalischen Materials als „sedimentierter Geist“ ließ grüßen –, der alles in sich aufnimmt, was je für Orchester komponiert wurde und die Hörer gemäß individueller Erfahrungen erinnern soll. Doch wo verläuft die Demarkationslinie zwischen solcher Archäologie privater Hörerinnerungen und lediglich epigonaler Resteverwertung, die nichts mit den Möglichkeiten akustischer Medien zu tun hat, längst verklungene Musik eben gerade nicht nur als subjektive Erinnerung, sondern objekthaft als technisch immer weiter perfektionierte Kopie in die Gegenwart zu holen?

Akustische Zuspielungen wurden immerhin in Carola Bauckholts „Brunnen“ genutzt, wenngleich deren Medialität unthematisiert blieb. Wie Bauckholt in vielen Stücken die Klänge von Alltagsgegenständen, Haushaltsgeräten, Tieren oder Naturphänomenen nuancenreich mit herkömmlichen Instrumenten nachgestaltet, fanden diesmal schmatzende Sauggeräusche eines Brunnenabflusses, der Piepton einer sich schließenden Zugtür sowie ein polyphones Konzert von Schlagbohrern ihre orchestralen Fortsetzungen in Atemgeräuschen, Flageoletts und ratternden Pedaltönen. Gleichzeitig gab Bauckholt – Premiere in ihrem Schaffen – erstmalig die Originalklänge durch Lautsprecherzuspielungen zu erkennen. Auf ebenso irritierende wie wechselseitig sich beleuchtende Weise glitten so Musik und Alltag, Musikhören und Geräusche-Identifizieren, Kunst und Wirklichkeit ineinander.

Einfach nur aus zugespielten Samples bestand auch Luc Ferraris dreisätzige Komposition „Tau­tologos IV“. Mit der Erforschung fossiler Medien hatte auch das nichts zu tun. Es waren Aufnahmen von sprechenden Menschen, deren situatives Atmen, Seufzen, Lachen dennoch nicht naturalistisch wirkte, da es erkennbar montiert sowie rhythmisch und klanglich komponiert war. Der dritte Satz bot ein groteskes Nachtstück aus irrlichternden tonalen Versatzstücken und urplötzlich dazwischen schlagenden Detonationen. Genoël von Lilienstern verwendete in seinem Orchesterstück „Couture“ mehrere Analogsynthesizer, um verschiedene Stilrichtungen und soziale Räume zu öffnen: Anklänge an die Popmusik der achtziger Jahre mit hauchenden Chören, säuselnden Streichern, agilen Funk-Bässen und Drum-Einlagen sowie die Klangwelt des „Darth Vader“ der Science-fiction-Saga „Star Wars“ aus den Kinder- und Jugendtagen des 1979 geborenen Komponisten: viel Nostalgie und Retro-Touch.

Ausgemusterte Elektronik gelangte auch sonst zum Einsatz: Ein Tonbandgerät in Thomas Meadowcrofts stimmungsvoll minimalistischem „Eremozoic Age Lovers“ mit dem SWR Vokalensemble und dem Komponisten als Sprecher, sowie in Kirsten Reeses „The lightest words had the weight of oracles“ ein Fairlight CMI, seinerzeit 1979 der erste digitale Synthesizer. Da sich dessen Soundprogramme nur per Tastaturbefehlen von Disketten abrufen lassen, gliederte sich das Stück zwangsläufig in eine von Eingabepausen unterbrochene Folge lyrischer Fragmente. Die sparsamen Klänge spielten Sebastian Berweck und E-Gitarrist Seth Josel gerade wegen der technoiden Besetzung mit umso mehr gestischem Feingefühl. Um Bernard Parmegianis „Stries“ von 1980 erneut aufführen zu können, war zunächst das Finden und Restaurieren von drei alten Synthesizern samt dazugehöriger Patches nötig. Ya­maha CS-40M, Roland System 100 und Synthi AKS zauberten dann – hörbar auf der damaligen Psychedelic- und Esotherik-Welle schwimmend – weit geschwungene Klangbögen von großer Plastizität und räumlicher Tiefe. Das war beeindruckende historische Aufführungspraxis auf alten Instrumenten, aber keine „Archäologie der Medien“.

Maciej Sledziecki und Marion Wörle bespielten im Duo „gamut inc“ selbstgebaute Musikmaschinen aus hybriden Kreuzungen von Mechanik, Elektronik und Computer. Ihre von Beats bestimmte Noise-Musik nennt das Duo selber „retro-futuristic machine music“: So rast man in besinnlichem Sauseschritt vor-zurück nach gestern in die Zukunft! Maschinen zum Klingen brachte auch Łukasz Sza­łan­kiewicz. Er tastete Photoapparate, Computer oder Walkmen mit Induktionsspulen ab, um deren elektromagnetische Felder als brummende, sirrende Drones hörbar zu machen. Doch selbst ein noch so feines Abhören eher zeitgemäßer als historischer Geräte macht noch keine Medienarchäologie. Dazu fehlte dem gesamten „attacca“-Wochenende vor allem die Anwendung der künstlerisch ausgeloteten Wirkungs-, Steuerungs- und Standardisierungsprozesse der alten Medien auf die aktuellen. Was lernen wir denn aus der Beschäftigung mit all diesen „erkalteten“ Geräten und Medien über unsere gegenwärtig „heißen“, wie der kanadische Medientheoretiker Marshall Mc­Luhan in den sechziger Jahren unterschied? Gerade der ad acta gelegte Fortschritt vergangener Tage mit all seinen verflossenen Hoffnungen und Träumen sollte uns etwas über die normierende, selektierende und manipulierende Kraft unserer aktuellen Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien lehren, die wir im täglichen Umgang nicht bemerken.

Im einleitenden Essay zum Programmheft proklamierte Martin Rumori bereits eine „postdigitale Ära“. Als Reaktion auf die konformierende Hard- und Software globaler Konzerne gibt es tatsächlich vielfach so etwas wie eine „postdigitale Restauration“. Sie zeigt sich im Komponieren für alte Analogelektronik, für Schallplatte, Kassettenrekorder, Diktaphon und Synthesizer. Zugleich sind wir gegenwärtig jedoch weit von einem über sich und seine Auswirkungen aufgeklärten Digitalzeitalter entfernt, wie es der Begriff „postdigital“ im Sinne der „Postmoderne“ als einer über sich und ihre Bedingungen aufgeklärten Moderne suggeriert. Im Ge­genteil, wir stecken mitten drin und se­hen vor lauter Mattscheiben, Displays, Touchscreens und Selfies uns selbst nicht mehr. Die zentrale Aufgabe einer „Archäologie der Medien“ wäre daher, eben solche Aufklärung unserer me­dien­be­stimm­­ten Epoche über sich selbst. Schließlich ist jede wissenschaftliche wie künstlerische Be­schäftigung mit der Vergangenheit auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart. Und noch heute lesen wir in den Ruinen des Orakels von Delphi, seit Jahrtausenden in Stein gehauen: „γνϖι σεαυτóν“ – „Erkenne dich selbst!“