MusikTexte 145 – Mai 2015, 98–99

Korrodierender Kunstanspruch

Jubel, Trubel, Abgesang beim Stuttgarter Festival Eclat

von Rainer Nonnenmann

In Simon Steen-Andersens pseudo-realistischer Meta-Anti-Oper „Buenos Aires“ erscheint die Gattung Oper personifiziert durch eine Sängerin als Untote, ohne Stimme, Sprache, Ausdruck, Bewegung und Atem. Bei der Studioaufnahme eines Popsongs schlägt einer Sopranistin die ganze Verachtung des Produzenten für das absurde Gesinge in der Oper entgegen. Der Produzent beraubt die Opernsängerin kurzerhand ihrer Ausdruckskraft, nötigt sie zu permanenten Shit- und Fuck-Orgien und lässt sie endlich von Pflegepersonal knebeln und in einen Rollstuhl zwingen. Anschließend produzieren die Interpreten – die Neuen Vocalsolisten Stuttgart – sämtliche Laute nur noch mit Hilfe von Kehlkopfmikrophon, Sprachcomputer, Vocoder und aus Schläu­chen dringender Druckluft, die sie sich in die atemlosen Münder blasen, um ihre stumm geformten Vokale und Konsonanten wenigstens als artikulatorisch gefärbtes Zischen hörbar zu machen. Neben Anspielungen an Folterpraktiken der Militärdiktatur geht es in „Buenos Aires“ vor allem um Luft.

Der 1976 geborene Däne nimmt den Namen der argentinischen Hauptstadt ebenso wörtlich wie den Text von Rossinis volltönigem Lamento „Mi manca la voce“ (Mir fehlt die Stimme). Es ereignet sich eine krude Eulenspiegelei. Die Sänger tragen Rossinis Musik tatsächlich stimmlos vor, mehr schlecht als recht durch ihre Prothesen geröchelt und begleitet vom norwegischen Ensemble asamisimasa, dessen Spiel durch Gewichte, Seilzüge, Stricke und Plastiktüten von Strophe zu Strophe zunehmend behindert wird. Und dennoch ergeht es Rossinis zombihaft verfremdeter Musik wie den Statuen längst verstorbener Heiliger: Sie glänzt umso heller, je mehr sie abgegriffen wird.

Die künstlerischen Leiter Christine Fischer und Björn Gottstein präsentierten beim diesjährigen Stuttgarter Festival Eclat unter dreizehn Ur- und etlichen Wiederaufführungen vor allem Arbeiten von jüngeren, in den siebziger und achtziger Jahren geborenen Komponisten, die ihre Musik an aktuelle gesellschaftliche Phänomene und Diskurse anschließen möchten und dazu verstärkt Text, Szene, Video, Elektronik und bereits bestehende Musik verwenden. Stefan Prins ließ in „Mirror Box“ dem Trio Accanto zwar zunächst den Vortritt, ersetzte Saxophon, Klavier und Schlagzeug aber mehr und mehr durch lautstarke elektronische Trans­for­mationen, denen die Musiker schließlich nur noch als stumme Zaungäste der eigenen medialen Schatten lauschten. Die alten Instrumente haben in diesem dritten Stück der Serie „Flesh + Prosthesis“ endgültig abgewirtschaftet. Doch so platterdings verläuft die Technologiegeschichte auch bei Prins nicht. Denn nach schwundsüchtigem Gefistel auf dem Saxophon-Mundstück zerfiel am Ende auch die Elek­tronik zu einem einzigen Sinuston, wie aus letztem Loch pfeifend.

Technologisch überformt wurde auch das GrauSchumacher Piano Duo in Brigitta Muntendorfs „The Key of Presence“. Die Pianisten behandelten ihre Klaviere und ihre eigenen Brustkörbe perkussiv und repetitiv, was die Elektronik des SWR-Experimentalstudios als lautstarkes Knallen, Brummen und Flattern hören ließ.

Hohe Energetik entfaltete Steen-Andersens „Black Box“. Aus dem Inneren einer Kiste dirigierten die Hände des Schlagzeugers Håkon Stene – per Video projiziert – das draußen um das Auditorium herum plazierte Ensemble Modern. In Fortsetzung der Kiste wurde das Stuttgarter Theaterhaus seinerseits zur Black Box, in der das Publikum sowohl Beobachter als auch Agitierter der virtuosen Hände-Choreographie war, bei der jeder Finger eine andere Instrumentalfarbe lenkte. Der gereckte Mittelfinger rief nahe­liegen­der­weise den im amerikanischen Fernsehen für Schimpfworte verwendeten Zensurton hervor – sowie im Publikum entsprechende Lacher. Im weiteren Verlauf wurde die mikrophonierte Kiste ihrerseits mit Luftballon, Handventilatoren, Plastikbechern und gespannten Gummis instrumentiert, die von rotierenden Schnüren an einem Motor traktiert wurden und klanglich mit Bartók-Pizzikati des Kontrabasses korrespondierten. So durchdrangen sich Bild und Ton, Innen und Außen, Mechanik und Musiker, Groß und Klein. Auf der Videoleinwand maßen die Gummis immerhin vier Meter Länge, und elektronisch verstärkt vermochten sie das Ensemble Modern leicht an die Wand zu spielten. Unter eingeblasenen Luftschlangen kollabierte in der Kiste endlich der ganze Trubel: The party was over.

Nach diesem Furioso hatten es die beiden Werke des sechzigsten Stuttgarter Kompositionspreises schwer. Unter hundertneununddreißig eingesandten Stücken verlieh die Jury den ersten Preis an Daniel Moreira für „Emergency Procedures“ und den zweiten an Clara Ianotta für „Clangs“. Die 1983 in Rom geborene Komponistin zeichnete ein feines Tableau zarter Spieluhren-, Glas- und Glockenklänge, während der aus Brasilien stammende Schüler des Jury-Mitglieds Marco Stroppa vier Musiker des Ensemble Modern an vier Arbeitstischen wie Elektroheimwerker mit Schaltern, Kabeln, Motoren, Hammer und Schraubenzieher hantieren ließ. Das exterritoriale Material erschien komplett eingemeindet. Es diente nicht mehr der ausnahmsweisen Brechung innermusikalischer Logik, sondern folgte selbst einer eigenen Logik: aus minus ist plus geworden.

Die Gleichwertigkeit verschiedenen Ma­terials demonstrierte auch Mauro Lan­za in seinem zwischen Ulk und Doppelbödig­keit changierenden „Disiecta Membra“. Hier machte es keinen Unterschied, ob die Neuen Vocalsolisten im Motettenstil sangen oder durch Plastik-Megaphone krächzten, auf Entenlockpfeifen tröteten, mit einem rosa Plastikschweinchen grunzten und – nicht zu vergessen – sich des guten alten Furzkissens befleißigten, mit dem der 1975 geborene Venezianer schon vor drei Jahren im Wittener Oktett „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“ für reichlich dicke Luft gesorgt hatte. Vor die Wahl gestellt, die lustigen Accessoires entweder uneigentlich zu nehmen, unter der spaßigen Oberfläche stringente strukturelle Verflechtungen der Materialebenen zu erkennen, oder das bunte Treiben einfach als Klamauk aufzufassen, entschied sich das Publikum mehrheitlich für die an­strengungslosere Variante: Comedy as usual, wieder was zu Lachen. Wie viele Komponisten pflegt Lanza krampfhaft das alte Feindbild humor- und freudloser neu­er Musik, um sich nach Möglichkeit davon zu distanzieren, ohne jedoch zu bemerken, dass dabei der Unterschied zwischen Kunst und Entertainment korrodiert.

In Johannes Boris Borowskis Melodram „Fog“ lieferten sich Sopran und Tenor einen paardynamischen Schlagabtausch mit Anziehung, Abstoßung, Manipulieren, Dominieren sowie der unerwünschten Nebenwirkung, dass alle Akzente und Rasereien der Musik als unfreiwillig komischer Kommentar dem bruchstückhaft erkennbaren Dramolett einverleibt wurden. Das Klavierduo GrauSchumacher und das Streichquartett L’instant donné verkamen zur Glosse.

Überraschender verliefen Alberto Posadas „Anklänge an François Couperin“, in denen Pianist Florian Hölscher rein gestimmte Flageoletts mit temperierten Tastenanschlägen kombinierte, um endlich in wilde Läufe und Perkussionen auszubrechen. Auf Drum and Bass bezog sich Sebastian Clarens agil pulsierendes „Ich öffne“, bei dem die Quartettbesetzung von ihrer Wiedergabe über exzentrisch positionierte Lautsprecher schizophon getrennt wurde, so dass die Musiker fast stumm wie Tanzende auf einem Dancefloor wirkten.

In der Vergangenheit wurden bereits Beethovens Sinfonien alle Neune gleichzeitig abgespielt, Ton für Ton rückwärts aufgeführt oder auf eine Dauer von vierundzwanzig Stunden gescratcht. Und auch Ravels „Bolero“ wurde oft rekomponiert und von diversen Rock- und Popgruppen adaptiert. Mit Erlöschen der Urheberrechte am Werk des 1937 verstorbenen Komponisten ist sein Megahit nun ganz legal zum Plündern freigegeben. Johannes Kreidler unterzog diesen Fetisch nun in „–Bolero“ einem Grobfiltervorgang, indem er aus der Originalpartitur – wie sein Minuszeichen im Titel verrät – sämtliche Melodiestimmen tilgte, ohne eine einzige eigene Note hinzuzufügen. Wie beim Röntgen fällt von der Musik alles melodische Fleisch ab. Übrig beibt als Skelett nur noch die rhythmisch-harmonische Matrix. Kreidlers Ansatz ist simpel und effektiv. Die praktische Ausführung durch das RSO Stuttgart unter Leitung von Rupert Huber blieb nicht in grauer Theorie und neo-konzeptualistischem An­spruchsdenken stecken, sondern zeitigte ein erstaunliches ästhetisches Abenteuer des Hörens und Sehens. Die sonst von luxurierender Melodik okkupierte Aufmerksamkeit wurde auf die wenigen Stützakkorde und den hundertneunundsechzigmal auftretenden Rhythmus umgelenkt. Zum essentiellen Rhythmus der Kleinen Trommel setzte anfangs also die Soloflöte nicht ein, sondern schwebte die bekannte Melodie bloß als erinnertes Phantom durch den Saal. Die sichtbare Untätigkeit aller Melodiestimmen führte zu einer umso stärkeren Aktivierung des Publikums, die klaffenden Leerstellen imaginativ zu füllen. Zugleich entfalteten auch die verbliebenen Begleitstimmen völlig unbeschadet das für Ravels „Bolero“ typische Crescendo von Dynamik, Klangfarben und Harmonik, denn selbst in scheinbaren Nebensächlichkeiten ist diese Musik von großer Raffinesse. In der Tat, Ravel ist ein brillanter Komponist! War das zu beweisen?

Der unter jüngeren Komponisten vorherrschende Trend zu Bildern, Szenen, Erzählungen, Alltagsgegenständen und historischen Musikbezügen macht es reiner Instrumental- und Vokalmusik schwer – wie auch jetzt bei Eclat –, angemessen Gehör und Verständnis zu finden, obwohl gerade sie das Hören zuweilen eindringlicher sensibilisiert. In Benedict Masons „sackbut concerto“ schickte Mike Svoboda mit einer Barockposaune lautstrakte Flatterzungentöne wie Echolote in verschiedene Richtungen des Saals, wo sich deren Abstrahlcharakteristik und Brechung an den Raumwänden als feine Klangfarbenunterschiede vernehmen ließen. Unter Leitung von Johannes Schöllhorn gestaltete das Ensemble ascolta in Pierluigi Billones „Ebe und anders“ konzise Materialbezüge zwischen Blechbläsern, Schlag- und Saiteninstrumenten.

Unter Leitung von Stephen Layton sang das SWR-Vokalensemble Oxana Omelchuks lyrisches A-cappella-Chorwerk „Gaunerlieder“, dessen russische Texte hierzulande zwar unverständlich blieben, die mit ihrer ironischen Feier von Gaunern à la Lenin bis Putin in Russland aber womöglich politische Wirksamkeit entfalten würden. Den funkelnden Schlusspunkt des wie in den vergangenen Jahren gut besuchten Festivals setzte das ebenso sinnliche wie virtuose Orchesterwerk „Tört – szín – tér“ von Márton Illés, der dem alten sinfonischen Apparat erstaunliche neue Strukturen und Farben zu entlocken verstand.