MusikTexte 145 – Mai 2015, 65–66

Erlösung von Kunst

von Markus Hechtle

Als ich Ende Juni 1972, kurz nach meinem fünften Geburtstag und zum ersten Mal in meinem Leben, am Kasseler Hauptbahnhof aus dem Zug stieg, um zum ersten und bis heute letzten Mal die „documenta“ zu besuchen, stieß ich vor dem Bahnhof auf eine in den Boden eingelassene Metallplatte, deren Inschrift ich mit Hilfe meiner Mutter in nur wenigen Minuten entziffern konnte: „Am 23. März 1994 von 15:00–16:00 Uhr wird Dieter Meier auf dieser Platte stehen.

Ich staunte. Fast zweiundzwanzig Jahre später, am 23. März 1994 also, stieg ich zum zweiten und bis heute letzten Mal in meinem Leben am Kasseler Hauptbahnhof aus dem Zug und beobachtete, nachdem ich mir ein wenig die Zeit vertrieben und ein Schinkenbrötchen verzehrt hatte, wie sich ein Herr mittleren Alters mit charakteristischem Schnurrbart und Halstuch pünktlich um 15 : 00 Uhr auf diese Metallplatte stellte und dort bis um 16 : 00 Uhr verweilte. Obwohl ich bis dato nicht wusste, wer Dieter Meier war, geschweige denn, wie Dieter Meier wohl aussehen würde, fühlte ich mich durch die vielen anderen, die mit mir um diese Metallplatte und den gut gekleideten Herrn versammelt und offenbar wie ich extra nach Kassel gereist waren, um diesem Ereignis beizuwohnen, in meiner Annahme bestätigt, es könne sich nur um Dieter Meier handeln. Beeindruckt und nach einem weiteren Schinkenbrötchen fuhr ich nach Hause zurück.

Vielleicht hat diese kindliche Erfahrung meine Sympathie für Kunst, die, wie ich später erfuhr, Konzeptkunst genannt wird, geweckt. Und ungeachtet dessen, dass ich den Begriff nie ganz verstand, da doch jede Kunst konzeptionelle Anteile zeigt, ist diese Sympathie bis heute ungebrochen. Sie droht nur dort zu bröckeln, wo Künstler mich mit Erklärungen, Manifesten, Sätzen, Regeln und Rezeptionsvorschriften schlagartig zu langweilen beginnen. Denn kaum etwas langweilt mich schneller und mehr als Künstler, die auf fremden Schultern stehend verkünden, welche Gasse sack sei und welche der Ausweg in die Zukunft, was genau es zu tun und abzuarbeiten gelte, wo das Ende der Geschichte lauere und wer für tot erklärt werden müsse. Sicher, respektable Künstler haben das mit Erfolg getan, aber eine Dummheit wird nicht intelligenter, weil sie schon von Intelligenten mit Erfolg begangen wurde. Da scheint der Verdacht entschuldbar, Intelligente nähmen die Dummheit zugunsten des Erfolgs zumindest billigend in Kauf. Selbst Zeugen Jehovas sind in punkto Untergangsprophezeiungen inzwischen zurückhaltender.

Natürlich kann man sich auch einen Spaß aus solchen Debatten machen, keine Frage. Wer aber, wie ich, in dieser Hinsicht eher zu Humorlosigkeit neigt, dem bleibt glücklicherweise noch die Kunst selbst, und sie ist keine schlechte Alternative. Denn für eines bin ich der Konzeptmusik besonders dankbar: Ihr Witz bringt mich manchmal wirklich zum Lachen, etwas, das mir mit Musik sonst kaum passiert.

Bei meiner eigenen Arbeit gelang es mir nur selten, jene Fragen, die wie zwangsläufig auftraten und ursprüngliche Konzepte in Frage stellten, auszuklammern und dadurch ­eine Art konzeptionelle Reinheit zu wahren. Diese Fragen schienen mir immer zu wichtig zu sein, um sie ignorieren zu können, und so fühlte ich mich meist gezwungen, gestalterisch darauf zu reagieren, sie also in die Arbeit einzuschließen. Von Konzeptkünstlern erfuhr ich, dass genau dies das expressive Ich sei, das es zu überwinden gelte, dass mein subjektives Empfinden veraltet sei, weil einer romantischen Vorstellung des neunzehnten Jahrhunderts geschuldet, und, dass mein Denken und meine Arbeit daher regressiv seien. Und ich erfuhr, dass der Konzeptualismus eine Überwindung dieses Ichs versprach. Sofort witterte ich Erlösung. Denn die Vorstellung, nicht mehr an mir selbst leiden zu müssen, an meinen Widersprüchen und Begrenzungen, nicht mehr mit den schwierigen Entscheidungen konfrontiert zu werden, welche mir das Komponieren abforderte, schien mir äußerst verführerisch zu sein. Allein die Stimmen in meinem Kopf verstummten nicht! Sie fragten mich, ob denn die Überwindung des Ichs vielleicht erst würde sinnvoll sein können, nachdem das Ich zur Genüge entwickelt worden war. Was, wenn das Ich erst zum Ich würde, indem es scheinbar überwindet, was noch gar nicht war? Wäre dann das neue Ich nicht ein viel selbstverliebteres, selbstbezüglicheres und in sich selbst gefangeneres als das Ich zuvor? Und angenommen, ich hätte tatsächlich mein Ich erfolgreich überwunden, wer oder was würde meine Arbeit dann noch herausfordern können? Denn keineswegs war mein Ich eine unkritische Instanz, die mich permanent zum reproduktiven Durchfall ermunterte. Im Gegenteil, ich hatte mein Ich immer als meinen größten Kritiker, meinen gefährlichsten Gegner erlebt. Wer oder was könnte dann anstelle meines Ichs der Stachel im eigenen Fleisch sein? Wo bliebe das Risiko, wo die Gefährdung, wo der Zweifel? Die Überwindung meines Ichs, würde sie daher nicht zwangsläufig meine Erlösung von der Kunst bedeuten?

Vor wenigen Jahren sah ich Dieter Meier noch einmal, diesmal in Karlsruhe, in meiner Stammkneipe am Tresen sitzend und ein Bier trinkend. Ich erkannte ihn zunächst nicht, erst nach raunendem Hinweis des Wirts, obwohl sein Haar, sein charakteristischer Schnurrbart, sein gut sitzender Anzug und nicht zuletzt sein Halstuch ganz sicher nicht weniger beeindruckend waren als damals in Kassel.

Einige Tage später schraubte ich nach intensiver Diskus­sion mit dem Wirt, der schließlich doch einwilligte, an der Stelle, an der Dieter Meier gesessen und ein Bier getrunken hatte, eine kleine Metalltafel unter den Tresen mit der Inschrift: „Am 4. Mai 2012 von 22 : 30–23 : 30 Uhr saß Dieter Meier hier und trank ein Bier.“

Mein Stolz währte allerdings nur kurz. Ein Freund, in Kunstdingen wesentlich beschlagener als ich, erklärte mir, dass es sich bei meiner Tat erst dann um Kunst handeln könne, wenn ich die Idee zum Konzept erheben, also über längere Zeit Metalltafeln an Orten anbringen würde, an denen Dieter Meier sich aufgehalten hatte. Da ich glaubte, noch anderes zu tun zu haben, schraubte ich die Tafel wieder ab. Dann trank ich ein Bier.