MusikTexte 146 – August 2015, 85–86

Musik und/oder Politik

Die fünfte Ausgabe von Acht Brücken | Musik für Köln

von Rainer Nonnenmann

Immer wieder wird nach der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst gefragt. Die internationalen Kunstschauen, Kino-, Theater- und Literaturfestivals feiern sich gerne als „politisch“, weil manche der hier vorgestellten Arbeiten aktuelle Fragen aufgreifen. Musikfestivals wollen da nicht zurückstehen, schon gar nicht Festivals der neuen Musik, die sich besonders dem Vorwurf ausgesetzt sehen, in elitären Nischen zu hocken. Die Berliner „MaerzMusik – Festival für aktuelle Musik“ wurde daher jüngst zum „Festival für Zeitfragen“ umgetauft, womit unterstrichen werden soll, dass es hier nicht bloß um semantisch unbestimmte Musik geht, sondern um unter den Nägeln brennende Fragen der Zeit. Solche Flucht nach vorne ist angesichts des bei abnehmenden Ressourcen zunehmenden Legitimationsdrucks verständlich. Doch sie verrät auch ein Misstrauen gegenüber der nonverbalen Wirkungskraft von Kunst und insbesondere der beim Mehrheitspublikum schlecht sich verkaufenden neuen Musik, deren Negativ-Image man marketingtechnisch aufzupolieren sucht durch die Umetikettierung zur politisch relevanten Größe. Wie ernst es jedoch tatsächlich um derlei Ankündigungen bestellt ist, muss sich an den Festivalprogrammen und Besuchen der Konzerte erst erweisen.

Die fünfte Ausgabe des von der Betreibergesellschaft KölnMusik der Kölner Phil­harmonie in Zusammenarbeit mit dem WDR und der Stadt Köln veranstalteten zehntägigen Festivals Acht Brücken | Musik für Köln stand dieses Mal unter dem Motto „Musik.Politik?“. Der Punkt im Titel sollte dabei zugleich trennen und verbinden, das Fragezeichen nach dem Verhältnis von Musik und Politik forschen. Im Verlauf des Festivals wurde eben dieses Fragezeichen immer größer. Die poppige Aufmachung der Plakate und Programmhefte mit rotem Megaphon und daraus dringenden Schallspitzen suggerierte mar­kige Politagitation. Eröffnet wurde das Festival jedoch in der Kölner Philharmonie mit einem Gastspiel des New York Philharmonic unter Leitung von Chefdirigent Alan Gilbert mit einem Programm, das mit dem Festivalmotto rein gar nichts zu tun hatte. In Esa-Pekka Salonens neokonservativem „Nyx“ durfte das Orchester effektvoll perlen, funkeln, luxurieren. Bei Béla Bartóks Konzertsuite aus der Tanzpantomime „Der wunderbare Mandarin“ musizierte das exzellente Orchester wie entfesselt. Danach konnte die konzertante Uraufführung von Peter Eötvös’ zehnter Oper „Senza sangue“ nur enttäuschen. Deren routinierte Einfallslosigkeit ließ eben jene feinnervig gespannte Musik vermissen, die Eötvös nach dem Vorbild von Bartóks Einakter „Herzog Blaubart“ eigentlich zu schreiben vorgehabt hatte.

Wie in der Vergangenheit gab es auch wieder ein Komponistenporträt. Im Zen­trum stand diesmal der 1939 geborene Louis Andriessen, der während der hochpolitisierten Phase nach der Achtundsechziger-Studentenbewegung mit der Komposition „De Staat“ von 1976 die ungeheure Wirkungsmacht beschwor, die Platons „Politeia“ (Der Staat) der Musik zugeschrieben hatte: Wer dort an den Gesetzen der Musik rüttelt, bringt auch die höchsten Gesetze des Staats ins Wanken. Der in Deutschland eher wenig aufgeführte niederländische Komponist lässt in diesem frühen Hauptwerk das Orchester über weite Strecken im Tutti rhythmisch und melodisch synchron spielen, so dass massige Mixturen wie auf der Orgel entstehen. Im stärksten Fortissimo entfalteten unter Leitung von Ingo Metzmacher das elektronisch verstärkte Ensemble Modern Orchestra zusammen mit vier ebenfalls elektronisch verstärkten Vokalistinnen der Schola Heidelberg eine hochenergetische Strahlkraft von unmittelbar physischer Wirkung. Der antike Philosoph wollte bekanntlich alle weichen Tonarten verbieten, die Trunkenheit und Trägheit fördern, und nur harte Tonarten zur Stärkung soldatischer Tugenden zulassen. Dieser Gedanke wäre leicht als kuriose Spinnerei abzutun, entspräche ihm nicht die tatsächliche Praxis altchinesischer Dynastien und totalitärer Diktaturen, die in dem Maße staatstragende Volks-, Marsch- und Heldenmusik einfordern wie sie Avantgardistisches und ungebärdigen Jazz als „entartet“ „dekadent“ oder „zersetzend“ diffamieren. Auch Andriessens Musik ist – wie Platon forderte – von geradezu stählerner Härte. Zudem kennt sie keine Einzelstimmen, da alle wie Mosaiksteinchen im Ornament der Orchestermasse verschwinden. Das Tuttikollektiv steht hörbar über dem Einzelnen. Doch plädiert Andriessen deswegen schon gegen Individualismus und für Autoritarismus oder maoistischen Konformismus? Immerhin durchkreuzt seine beschwingte Musik mit ständig variierenden Pulsationen und Akzentverschiebungen jeden Gleichschritt.

Das WDR-Sinfonieorchester spielte im Rahmen der Reihe „Musik der Zeit“ unter Leitung von Tito Ceccherini selten aufgeführte Orchesterwerke von Luigi Nono, Paul Dessau und Friedrich Schenkers verschiedene Revolutions-, Arbeiter- und Kampflieder förmlich zerhäckselndes „Fanal Spanien“ von 1978. Als Uraufführung zu erleben war Mark Andres „an“ für Violine und Orchester. Lange bevor sich hier der erste Ton hören ließ, sah man die Solistin Carolin Widmann bereits intensive Bogenstriche ausführen, die das Hören zu höchster Aufmerksamkeit spannten. Erst nach und nach wurden Solovioline und Orchester behutsam zu atmosphärischem Rauschen und brüchigem Flageolettpfeifen beatmet. Mit Akzenten und unsichtbar durch den Raum schwebenden Akkordeontönen setz­te Andre in diesem Hauch von Nichts alle zeitlichen Proportionen mit traumwandlerischer Sicherheit, um an der Schwelle des Hörbaren eben jene Präsenz des Abwesenden spürbar zu machen, welche die aus dem Matthäus-Evangelium stammende Präposition „an“ des Werktitels be­schwört. Der auferstandene Christus ist nicht mehr von dieser Welt und versichert seinen Jünger dennoch: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.“

Insgesamt gelangten beim Brücken-Festival sechsundzwanzig neue Werke zur Uraufführung. Das ist beachtlich. Allerdings erwies sich die durch die Siemens Musikstiftung finanzierte Vergabe von Aufträgen an zwölf Komponisten, „Hymnen für ein nicht existierendes Land“ zu schreiben, als wenig tragfähig. Der Gedanke, die politische Verfassung eines Landes rein musikalisch ohne Text zu realisieren, führte zur Verlagerung des sonst hier und jetzt sich erweisenden Politischen in den Bereich bloßer Phantastik. Bis auf Héctor Parras von einem unabhängigen katalanischen Staat träumendes „Catalunya Lliure“ entledigten sich die meisten des Auftrags entweder durch glatte Nicht-Beachtung der Vorgabe, wie etwa Malika Kishino in ihrem wunderbar fein instrumentierten „Heliodor“ für den fabelhaften jungen Soloposaunisten Sebastiaan Kemner und das Asko/Schönberg Ensemble unter Leitung von Bas Wiegers, oder durch Anti-Hymnen, wie etwa Georgia Koumará in ihrem vom Orchester der Hochschule für Musik und Tanz Köln polyglotten „Magna Ipsum Heimat“ oder Mark Bardens „Gehören“, bei dem sich die Musiker des Klangforum Wien unter Leitung von Enno Poppe in ironischer Schlusswendung die Hände – nicht wie beim Absingen von Hymnen üblich – aufs Herz legten, sondern wie das berühmte Brett vor den Kopf.

Als Kulturpolitikum erwies sich die Zweiteilung des Festivals in mehrheitsfähige Konzerte renommierter Ensembles in der Kölner Philharmonie mit teilweise thematisch unspezifischem Programm und teils thematisch besser passenden Programmen freier Ensembles an Off-Orten. Keinerlei Bezug genommen wurde am Tag der Eröffnung – immerhin „Tag der Arbeit“ am 1. Mai – auf dieses gleichsam auf der Straße liegende Politikum, das man dort links liegen ließ. Ein Festival braucht sich nicht parteipolitisch zu positionieren oder zur Gewerkschaftsveranstaltung umzufunktionieren. Und auch beim nächsten Brücken-Festival 2016 zum Motto „Musik und Glauben“ ist nicht zu wünschen, dass Hände zum Gebet gefaltet werden. Aber das Thema „Musik.Politik?“ hätte mehr Umsicht, Kreativität, Aktualität, Brisanz, Dissens und Wagemut bei Planung und Präsentation gefordert, gerade im multikulturell geprägten Köln, wo durch Musiker mitgetragene Bürgerinitiativen wie „Arsch huh, Zäng ussenander!“ oder „Birlikte – Zusammenstehen“ gegen Rechtsradikalismus und Rassismus eine gute Tradition haben. Statt eigene Akzente zu setzen oder wenigstens Anknüpfungspunkte an bestehende Initiativen zu schaffen, überließ man die Kraft zur Demonstration der Popularmusik, und die neue Musik spielte doch nur wieder im „closed shop“ der angestammten Spielstätten vor einschlägigem Publikum: Chance vertan.